Ich muss ihr dankbar sein, da sie es war, die mich aufgetaut hatte. Schon früher, als Kind, war ich sehr verschlossen. Immer brauchte ich jemanden, der auf mich zukommt. Danach war es meist nur noch ein ganz kleiner Schritt, bis ich offen war und mich in der Klasse, beziehungsweise im Team, integriert hatte. Ihr habe ich es zu verdanken, das ich schon in der ersten Woche Kontakt zu den anderen hatte. Mit ihnen sprach, anstatt mich zurückzuziehen und hinter irgendeinem Buch zu verstecken. Sie war süß, fand ich. Süß und zierlich.
Aber auch anstrengend. In vielen Punkten waren wir uns uneinig. Zum Beispiel glaubte sie ganz fest daran, das Handystrahlung giftig wäre und unter anderem Impotent machte, wenn man das Handy in der Hosentasche trug. Deswegen war ihr Smartphone ständig aus. Das heißt, es lag ausgeschaltet bei ihr zu Hause. Für was sie es hatte, weiß ich nicht. Ihrer Meinung nach hatte es mit Rücksichtnahme zu tun, wenn man sein Mobiltelefon ausschaltet. Aber für was hat man denn so was? Was nützt einem diese Erfindung, wenn man sie ausgeschaltet in irgendeiner Ecke liegen hat? Die Meisten hatten Kinder und
mussten irgendwie erreichbar sein. Man sollte aber so höflich sein, das Handy auf Vibration zu stellen und es nicht in Händen zu halten, während der Coach spricht. Alle dachten, das sich zwei gefunden hatte. Ich hatte es auch geglaubt, bis sie fallen ließ, das sie einen Freund hat, den sie nur am Wochenende sieht. Da war ich froh gewesen, das ich mir nichts ernsthaftes eingebildet und mir keine Hoffnung gemacht hatte. Diese Beziehung hätte eh nie gehalten, wenn es zu einer gekommen wäre. Wir hatten zu Unterschiedlich Ansichten in sehr vielen Bereichen. Abgesehen von der Handystrahlung, glaubte sie, das die
Kondensstreifen, die man häufig im Himmel sieht, keine Kondensstreifen waren, da jene sich nicht so lange halten. Sie war davon überzeugt, das es Gift war, was über die Felder gesprüht wurde, wie Unkrautvernichtungsmittel. Mir waren und sind die Streifen viel zu weit oben. Sie versuchte mich dazu zu bringen, das ich, wie sie, überzeugter Veganer werde. Angeblich fühle sie sich seit der Ernährungsumstellung eindeutig besser. Mir ist es zu einseitig. Der Verzicht ist zu groß. Ich sah es ja an ihr. Wenn jemand Kuchen mitbrachte, durfte sie nichts davon essen, weil da Eier drin waren. Wie oft hatte sie davon geredet,
was sie früher gern gegessen hatte. Niemand zwang sie dazu sich vegan zu ernähren. Es war ihre Entscheidung und sie wollte es noch extremer machen, nachdem sie ein ganzes Jahr durchgehalten hatte. Einmal hatte ich sie richtig geärgert. Ich hatte mir ein Rühreibrötchen gekauft, bevor wir mit der ganzen Klasse in den Park gingen. Eine ganze Weile trug ich es in meiner Tasche. Als wir im Park angekommen waren, hatte ich noch keinen Hunger gehabt, also ließ ich es noch liegen. Das war ihr schon zu lange gewesen. Stinkig wurde sie, als ich das Brötchen, aufgeklappt, in die Sonne hielt, um das Rührei ein wenig
aufzuwärmen. Das ich aufgehoben und gegessen hatte, was mir ins Gras gefallen war, hatte sie anscheinend nicht gesehen, oder sie sagte nichts dazu. Wäre sie mir nicht so sehr auf den Sack gegangen, weil ich das Brötchen so lange mit mir herumgetragen und es dann in die Sonne gehalten hatte, hätte ich die Krümel liegen lassen. So aber wollte ich es auf die Spitze treiben. Dabei dachte ich nicht daran, wer schon alles über den Rasen gelatscht und wie viele da hin gemacht hatten. Sie erzählte mir fast täglich was über die Zubereitung von Lebensmitteln. War gegen Mikrowellen, weil die die Inhaltsstoffe zerstören. Andere
behaupten, das durch die kurze Garzeit die Vitamine geschont werden. Das glaube ich auch. Außerdem glaube ich, das sie schon viele wasserlösliche Vitamine herauswäscht, weil sie Obst und Gemüse Ewigkeiten unter Wasser hält und putzt. Natürlich musste das Wasser erst einmal mindestens eine Minute lang laufen, bevor sie es verwendete. Und Das Trinkwasser, welches aus unseren Leitungen floss, war giftig. Meiner Meinung nach übertreibt sie es mit der Hygiene und das ist auf Dauer nicht gesund für. Dumm ist sie ja nicht. Schließlich spricht sie vier Sprachen fließend. Nur meine nicht. Ich habe Dialekt. Nicht
sonderlich ausgeprägt, finde ich, aber manche haben Probleme mich zu verstehen. Wahrscheinlich liegt es daran, das ich keinen reinen Dialekt spreche. Im Laufe meines Lebens habe ich Worte aus anderen Dialekten in meinen Sprachgebrauch übernommen. Die meisten Menschen verstehen mich. Aber vereinzelt gibt es Personen, die Probleme haben, mich zu verstehen. Darauf kann ich aber keine Rücksicht nehmen. Oft regte sie sich auf. Nicht nur über mich. Aber meistens liegt es an mir, weil sie meist nur mit mir sprach. Einmal hatte sie mich gefragt, ob sie rot im Gesicht sei. Ich schaute sie an und
tippte ihr dann auf die Nase, da ich dort sah, das sie rot war. Kaum hatte ich ihre Nasenspitze berührt, flippte sie völlig aus, da nur ihr Freund das Recht hatte sie zu berühren. Viel später fiel mir ein, das sie mich einmal ungefragt umarmt hatte, weil ich ihr Gemüse aus meinem Garten mitgebracht hatte. Irgendeiner älteren Dame hatte sie, ihrer Aussage nach, ein Küsschen gegeben, nachdem besagte Dame ihr behilflich gewesen war. Heißt das, das sie das Recht dazu hatte, andere einfach zu berühren, aber niemand darf sie in keiner Weise anfassen? Was ist das für eine Logik? So süß sie auch aussieht, so sehr treibt
sie mich an den Rand des Wahnsinns.