Diese Erzählung stammt von einer Frau aus München, die sie 2003 niederschrieb. Ich fand sie, als ich einigen Gerüchten in dieser Gegend nachging. Die Begebenheit selbst muss sich um das Jahr 1965 herum ereignet haben.
Vielleicht mag man mir meine Geschichte nicht glauben, aber ich muss sie nun irgendwie von meiner Seele bekommen. Ich kann sie nur aufschreiben, denn in gesprochenen Worten vermag ich sie nicht in diese Welt zu entlassen. Es ist schon lange her, und dennoch stets in meinem Geist präsent, eine ewige Narbe. Es geht dabei um meinen geliebten Bruder. Mein Bruder William und ich teilten uns schon ein gemeinsames Zimmer, so lange ich denken kann. Unsere Eltern hatten nicht besonders viel Geld und mein Vater arbeitete täglich
stundenlang in einem kleinen italienischen Restaurant am Rande der Stadt als Kellner, damit wir überhaupt über die Runden kommen konnten. Meine Mutter war oft sehr kränklich und vermochte daher keine Arbeit zu finden, sodass wir alle in einer kleinen Mietwohnung in der Andalengasse wohnten, in der nicht sonderlich viel Platz war. Unser Zimmer war nicht besonders groß und außer zwei alten, morschen Betten, einem heruntergekommenen Wandschrank und einigen Regalen, die unter der Masse unzähliger Bücher ächzten, war nichts da, das ein wenig Abwechslung in diesen blassen Raum brachte. Es waren hauptsächlich Bücher aus zweiter oder dritter Hand, die es billig oder sogar als Geschenk gegeben hatte. Ich muss gestehen, dass ich selbst nicht viel las und außer für meine Schularbeiten auch nie wirklich in ein Buch hineinsah, aber mein Bruder William verschlang alles, was er in die Finger
bekommen konnte. Ich beneidete ihn ein wenig darum, dass er solche Ausdauer aufbringen und all die vielen Geschichten, Daten und Fakten in seinem Gedächtnis behalten konnte. Unsere Freunde nannten ihn oft „das Lexikon“ und William schien dieser Spitzname zu gefallen. Ich hegte keinen Zweifel daran, dass er einmal nach einem guten Schulabschluss an eine angesehene Universität gehen und unsere erbärmliche Wohngegend hinter sich lassen würde. Es war kurz nach Beginn des letzten Schuljahres, da veränderte sich unser Leben jedoch durch die seltsamen Ereignisse, die zu beschreiben ich erst jetzt wage, fast vierzig Jahre später und mit klopfendem Herzen. Ich sehe William noch genau vor mir, wie er eines Tages zu spät zur Schule kam, weil er noch einen alten Antiquitätenladen in der Humboldtstraße besucht hatte, der gerade seine Türen für immer schloss und daher einige alte
Bände zu Tiefstpreisen verhökerte. Er kam glücklich mit einem alten Lederband in die Klasse und ignorierte die Schelten der Lehrer. Ich hatte ihn noch nie so fiebrig gesehen, wie er dort das stinkende Ding in den Händen hielt und mit großen Augen den Einband musterte. „Das hat er mir geschenkt, Johanna“, erzählte er mir stolz, als wir wieder zu Hause waren. „Wer?“, fragte ich, während ich für das Schwimmtraining packte. „Der alte Mann aus dem Laden. Er hat es mir fast aufgedrängt, wollte es wohl irgendwie loswerden. Es ist ein Traumführer!“ „Was willst du denn damit? Esoterik ist doch nie deine Sache gewesen?“, fragte ich skeptisch. „Das ist nicht SO ein Buch!“ Er machte eine wegwerfende Geste. „Es soll dir beibringen, Träume zu steuern. Das wollte ich schon immer mal machen. Heutzutage nennt man es luzides Träumen, aber damals hieß
das wohl anders. So etwas haben schon die alten Indianer gemacht. Und das wüsstest du übrigens auch, wenn du nicht nur ans Schwimmen denken würdest!“ „Ja, da hast du wohl Recht. Kannst ja froh sein, dass der alte Herr so nett war, dir diesen Schinken zu schenken!“, entgegnete ich lachend. „Das kann ich wohl“, stimmte er mir zu. Ich ließ William an jenem Tag alleine mit seinem neuen Buch zurück und kam erst spät nachmittags vom Training wieder. Wie erwartet fand ich ihn in die Seiten des Wälzers vertieft. Als ich meine Sporttasche mit einem lauten Knall auf mein Bett warf, blickte er erschrocken auf. „Was sollte das?“, fragte er anklagend und sah mich seltsam an. Es war mir fast so, als ob ein wenig Panik in seinen Worten mitschwang, doch zollte ich dem damals nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit. Heute würde ich alles darum geben, die Zeit zurückdrehen zu können, um ihm das verfluchte
Buch zu entreißen und im nächsten Teich zu versenken. Damals jedoch schmunzelte ich wohl nur. Während ich auf meinem Bett einige Vokabeln lernte, beachtete ich William nicht weiter. Erst als er das Buch heftig zuschlug, sah ich auf. „Du wirst nicht glauben, was hier drin angedeutet wird!“, sagte William aufgeregt zitternd. „Sicher wirst du es mir gleich erzählen“, meinte ich. „Es beschreibt, wohin der Geist im Traum reisen kann. Es ist unglaublich! Und es gibt hier auch ein außerordentliches Training dazu. Ich frage mich, wie jemand so ein Buch weggeben kann?“ „Seit wann bist du denn so leichtgläubig? Das ist doch nur irgendein Schund. Solltest du dich nicht auf die Schule konzentrieren? Ist schließlich nicht mehr lange bis zum Ende“, mahnte ich, doch er schien gar nicht zuzuhören. „Ich muss zum Laden zurück und den Besitzer
fragen, ob er etwas über das Buch...“ Er stockte. „Was ist?“, wollte ich wissen. William runzelte die Stirn und schien sich auf einen Punkt in weiter Ferne zu konzentrieren. „Ich... ich weiß nicht, wie er aussah. Der Händler... ich weiß es nicht. Wieso nicht?“, fragte er dann. „Keine Ahnung, vermutlich hat dich das Buch so sehr begeistert“, schlug ich vor. „Nein... Ich erinnere mich an alles, den Laden, den Geruch, sogar seine Kleidung. Aber das Gesicht... nur Leere in meinem Kopf...“ Er verlor sich in Gedanken, zuckte dann aber zusammen und lachte leise. „Ist ja auch egal, vielleicht werde ich schon in so jungen Jahren senil? Ich muss auf jeden Fall das Training ausprobieren. Es heißt, man soll zunächst einmal ein Traumtagebuch führen, seine Träume aufschreiben und sich immer vor Augen führen, ob man gerade träumt oder wach ist. Das
werde ich wohl hinbekommen.“ Damit schien das Thema vorerst für ihn erledigt zu sein und er wandte sich anderen Büchern zu. Gegen Abend legte William einen Haufen Blätter neben sein Bett und am nächsten Morgen fuhr er aufgeregt aus dem Schlaf hoch und begann, seitenweise Text auf das Papier zu kritzeln. Er bot mir mit ausdrucksloser Stimme an, es zu lesen, und da es Samstag war und ich nichts weiter zu tun hatte, vertiefte ich mich in die Seiten.
Ich gehe durch die Innenstadt, an den Kleidergeschäften und der Buchhandlung Kramer vorbei. Es ist eigentümlich ruhig und kein ist Mensch weit und breit zu sehen. Die Sonne strahlt grün auf mich herab und einige schwarze Tauben suchen auf der Pflasterstraße nach Essbarem. Als ich in den Park komme, sehe ich nur tote Bäume und braunen Rasen. Auf einer Parkbank
liegt eine Zeitung, die ich aufnehme und lese. Ein Bild ist auf der Titelseite, ein Bild von einer tropischen Insel. Ich stehe am Strand, in der Ferne höre ich das Gackern einiger Hühner. Vor mir erstreckt sich ein Wald aus Palmen und hohen Bäumen, die zu einem Regenwald werden. Ich drehe mich um und sehe im Ozean unzählige Flossen durch die Wellen schießen. Eine fette Gans kommt auf mich zu gewatschelt. Ihr Gefieder ist mit tiefroten Flecken besudelt und sie krächzt bedrohlich. Endlich merke ich, dass ich träume. Ich sehe die Gans an und sage ihr, sie solle verschwinden. Langsam schmilzt das Tier dahin und wird eins mit dem Sand. Ich drehe mich um und rufe nach meinem Traumbegleiter, so wie ich es gelesen habe. Ich stehe auf einer weiten Wiese, die saftig grün schimmert und erkenne neben mir einen alten Mann. Ein Mantel verhüllt seinen Körper und
auf dem Kopf trägt er einen verfilzten Hut. „Bist du mein Traumbegleiter?“, will ich von ihm wissen. „Jawohl, der bin ich“, antwortet der Mann gurgelnd.
Meine Mutter rief mich zum Frühstück und daher legte ich die Seiten achtlos auf Williams Bett und beeilte mich, an den Esstisch in der Küche zu kommen. Der Traum meines Bruders erschien mir sehr abgedreht, aber ich war auch erstaunt, dass William schon in der ersten Nacht Erfolge erzielt hatte. Als ich jedoch wieder zurück in mein Zimmer kam, waren die Papiere mit den Aufzeichnungen verschwunden. William betrat einige Sekunden später das Zimmer und musterte mich eindringlich. Ich entschuldigte mich bei ihm dafür, dass ich seine Aufzeichnungen verlegt hatte, aber er antwortete mir nur, dass er sie
selber entsorgt hatte. „Warum?“, wollte ich wissen. „Es ist mir unangenehm, meine Träume so offen herumliegen zu haben“, antwortete mein Bruder schlicht und verließ dann den Raum, ohne sich auch nur einmal nach mir umzudrehen. Mir war etwas komisch zu Mute, denn sonst hatten wir eigentlich keine Geheimnisse voreinander. In den nächsten Tagen war William merkwürdig abweisend. Immerzu entwich sein Blick in die Ferne und er schien ganz woanders zu sein. Wenn ich ihn darauf ansprach, sagte er nur, er müsse nachdenken. Auch schrieb er seine Träume nicht mehr auf, so dass ich keine Ahnung hatte, was er in seinen nächtlichen Abenteuern erlebte. Ich fragte ihn eines Tages nach dem alten Mann, von dem ich gelesen hatte. „Ja, der Alte. Er bringt mir Sachen bei“, sagte William tonlos. „Das würdest du nicht verstehen, du bist nicht
dort.“ Dabei beließ er es. Ich machte mir große Sorgen, denn die Prüfungen rückten näher und ich sah William nicht einmal lernen. Ständig lag er auf dem Bett und hatte die Augen geschlossen, war in irgendwelchen Tagträumen vertieft und sprach immer seltener. Doch seine Prüfungen bestand er alle mit der vollen Punktzahl. Ich war erstaunt und bewunderte ihn, denn ich selbst hatte es nur mit vielem Lernen zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gebracht. William lachte nur über die leichten Aufgaben und die anspruchslosen Texte, die so einfach und rückständig seien, dass es ihn beschämte. „Woher weißt du das alles?“, wollte meine Mutter wissen. „Ich wusste es schon immer. Der Geist ist ständig so verschlossen und diese Körper engen uns ein. Aber in Träumen, da kann man sich aus diesem Gefängnis lösen und das Wissen
erlangen, das in den Tiefen jedes Geistes schlummert.“ Wenn ich William manchmal nachts im Schlaf ansah, wirkte er fast tot, sein Atem ging flach und seine Haut schimmerte bleich. Ich hörte ihn niemals etwas murmeln, er lag nur erstarrt in seinem Bett und regte keinen Finger. Als ich meinen Vater darauf ansprach, lachte der nur und meinte, ich solle mich über seine guten Noten freuen. Meine Mutter war mal wieder so krank, dass ich es nicht wagte, sie irgendwie zu beunruhigen. So blieb es also an mir, mit meinem Bruder zu reden. „Du hast dich verändert“, merkte ich eines Abends an. „Verändert? Natürlich. Ich bin viel klüger geworden.“ „Das meine ich nicht. Wir haben sonst so viel zusammen gemacht. Jetzt bist du gar nicht mehr richtig bei uns. Die Anderen wundern sich schon seit einiger Zeit, warum du nicht mehr mit ihnen
sprichst.“ „Wieso sollte ich? Sie sind nur Schatten für mich geworden, Schwesterherz.“ So hatte William mich noch nie genannt und das seltsame Glitzern in seinen Augen gefiel mir nicht. „Unsere alten Freunde interessieren mich nicht mehr. Wenn du wüsstest, was ich alles in meinem Inneren entdeckt habe. Städte und Bibliotheken, Bücher, soweit das Auge reicht. Und eine unbeschreibliche Freiheit. Der Alte hat mir so vieles gezeigt, so vieles erläutert. Ich war an Orten, die kannst du dir nicht vorstellen. Unmögliche Architektur, gewaltige Kathedralen. Oh, diese wundervollen Kathedralen...“ William schien in einen Tagtraum zu verfallen und er verdrehte die Augen so sehr, dass fast nur noch das Weiß zu sehen war. Heftig schüttelte ich ihn an den Schultern. „Was... ja. Ich wollte nicht abschweifen. Bald habe ich mein gesamtes Potential entfesselt.
Johanna, du wirst begeistert sein!“ Er sah mich lächelnd an und für einen winzigen Moment schien er wieder ganz wie früher zu sein. Dann stand er auf und ging pfeifend fort. Ich habe William erst am späten Abend wiedergesehen und er war zu meiner Trauer erneut in seine distanzierte Haltung zurückgefallen. Am nächsten Morgen wurde ich durch einen Schrei geweckt. Ich fuhr entsetzt aus dem Schlaf hoch und sah mich nach William um, der schweißgebadet und kerzengerade in seinem Bett saß. Tränen rannen über sein Gesicht. „William, was ist mit dir los?“, fragte ich panisch. „Es ist vorbei. Ich weiß alles. Mein Geist ist erforscht, alles, was ich aus meinem Inneren lernen konnte, weiß ich nun. Es gibt nun nichts Neues mehr. Nie wieder!“ Damit brach er schluchzend und kreidebleich
zusammen. Meine Eltern brachten ihn ins Krankenhaus und er musste für die nächsten paar Tage dortbleiben. „Es ist meine Schuld, wenn ich nur öfter hier gewesen wäre!“ Mein Vater war zerschmettert. Ich hatte ihn noch niemals derart geknickt gesehen. Nachdem er all die Jahre so viel gearbeitet hatte und nie auch nur eine Schwäche deswegen zeigte, hatte ihm die Sorge um William doch schließlich tief in die Seele geschnitten. Auch meine Mutter war verzweifelt und sagte an jenem Abend kein Wort mehr. Ich beschloss, mich selbst um die Sache zu kümmern. Am nächsten Tag machte ich mich auf in die Humboldtstraße, um den Antiquitätenhändler zu suchen. Zu meinem Glück wohnte der alte Herr noch über seinem ehemaligen Geschäft. Als ich ihn jedoch nach meinem Bruder fragte, konnte er sich nicht an William erinnern. Der Mann
beteuerte sogar, dass kein Jugendlicher etwas bei ihm gekauft hatte und die meisten Sachen aus seinem Laden an ein Altenheim geliefert worden waren. Verwirrt verließ ich das Geschäft und schlurfte durch die Straßen. Ich war voller Sorge und versunken in Gedanken, als man mich an der Schulter fasste. Ich sah mich um und konnte jemanden hinter mir ausmachen. „Wenn du deinem Bruder helfen willst, dann lass ihn träumen. Lass ihn träumen!“ Ich musterte den Mann, der hinter mir stand. Er war groß und in einen Mantel gehüllt, jedoch konnten meine Augen nicht zu seinem Gesicht wandern. Irgendetwas in mir weigerte sich, aber es war mir aus unerklärlichen Gründen auch vollkommen egal. Es war ein alter Mann, dessen war ich mir aber damals sehr sicher. Oh, wie grausig ich mich doch irrte... „Ich werde mein Bestes geben!“, antwortete
ich. Doch der Alte war schon verschwunden. Zögernd besuchte ich meinen Bruder im Hospital und überbrachte ihm die rätselhafte Botschaft. Er schien sich nicht zu wundern, als ich von meiner Begegnung berichtete. Schließlich ließ ich William alleine in seinem Krankenzimmer zurück. Der Weg nach Hause kam mir lang vor und ich überlegte, wie ich William sonst noch helfen konnte. Ich wollte doch nur meinen Bruder wieder! Vielleicht konnte ich William im Traum besuchen und ihn dort aufmuntern? Ich weiß heute nicht mehr, wie ich auf diesen wahnwitzigen Irrglauben kam, aber irgendwie wollte ich nach jedem kleinen Strohhalm greifen. Zuhause angekommen suchte ich nach dem Buch und fand es erleichtert unter Williams Bett. Ich war froh, dass er den alten Schinken nicht im Krankenhaus verlangt hatte, aber vielleicht war
das Schicksal einfach gnädig mit mir. Der Umschlag des Bandes roch nach Verderben und die Seiten waren vergilbt und von Hand geschrieben. Ich überflog das erste Kapitel und fand schließlich gegen Ende eine kleine Anmerkung, die mich hoffen ließ. Anscheinend war es nur möglich, mit viel Übung Träume zu teilen, aber es soll Verwandten im Blute schon einige Male durch Zufall gelungen sein. Mehr musste ich nicht wissen. In der folgenden Nacht schlief ich voller Erwartung ein und wie durch ein Wunder wurde mir schnell bewusst, dass ich träumte. Ich konzentrierte meinen ganzen Willen darauf, zu meinem Bruder zu reisen und ihn im Traum zu treffen. Ich wollte schon aufgeben, als ich mich in einer uralten Stadt wiederfand. Große Tempel aus Marmor und Elfenbein ragten verziert mit Fresken hoch in einen purpurnen Himmel. Die Architektur war statisch gesehen wohl ein Ding der Unmöglichkeit, aber dennoch sah ich die
Monumente mit Erstaunen um mich herum in die Höhe türmen. Irgendwie spürte ich William und so machte ich mich auf den Weg durch die zyklopische Stadt. Nach einigem Wandern kam ich schließlich an einen gewaltigen Abgrund, der sich gähnend und leuchtend weiß vor mir auftat. Die Stadt endete hier und einzig eine schmale Treppe ragte über der Leere in die Luft und endete schließlich an einer bronzenen Tür, die nirgendwohin zu führen schien. Ich lief am Rand der Leere entlang, bis ich zum Fuße des Aufstiegs kam, allerdings wagte ich mich nicht näher als drei Meter an den Abgrund heran, der vor mir in die Tiefe führte. Ich starrte einige Zeit hinab, jedoch musste ich immer wieder wegsehen, denn das sterile Weiß machte mir eine unglaubliche Angst. Ich bemerkte fast nicht, wie etwas an mir vorbeihuschte. Oder jemand. Als ich mich aber doch zur Treppe umsah, konnte ich William erkennen, der gerade die
Stufen betrat und hinter einer Gestalt herlief, die in einen grünen, teils verrotteten Mantel vor ihm herging. Ich konnte das Gesicht nicht erkennen, aber es schien der alte Mann zu sein, der mir in der Stadt begegnet war. Sie beide schritten auf die Tür zu und hatten sie fast erreicht. „William! Was tust du da?“, schrie ich aus voller Lunge und meine Worte hallten in der Leere des Traumes wider. „Johanna? Was...? Ich habe keine Zeit für solche Trugbilder!“, rief er mir zu. „Ich habe einen Ausweg! Unbegrenztes Wissen! Es wartet genau dort!“ Er wedelte mit seinen Armen in die Richtung der bronzenen Tür. „Ich werde alles Wissen beherrschen! Was war, was ist, was sein wird! Ich werde etwas Anderes, kein Mensch, nein, mehr! Viel mehr!“ Er lachte erfreut. „Komm zurück, bitte. Unsere Eltern machen sich Sorgen! Du musst diesen Wahnsinn
beenden!“ William lachte erneut, dieses Mal schrill und irre. „Der Alte zeigt mir den Ausweg. Den Weg zu wachsen und zu gedeihen.“ William stieg die letzten Stufen zur Tür hoch, an dem Alten vorbei. Schließlich hatte er die gewaltige Tür erreicht. Wie wild begann er am Griff zu ziehen. „Geh‘ auf, geh‘ auf!“, rief er, immer wütender werdend. Doch das Tor regte sich nicht, nichts passierte. „Du bist es nicht, du bist es nicht...“ Als ich diese schreckliche Stimme hörte, wurde ich fast wahnsinnig vor Angst. Gurgelnd und zischend hallte sie durch den Traum, böse und alt. Ich hatte noch nie so etwas gehört, so eine pure Dunkelheit, die in Worten kristallisierte und mich aus dem Traum zu reißen drohte. Ich wusste nicht, wo dieser Klang seinen Ursprung hatte, doch in mir regte sich ein schrecklicher
Verdacht. Als der Hut des Alten hinwegflog und in die Leere fiel, begann ich zu schreien. Dort, wo der Kopf sein sollte, ragte nur eine riesige, schroffe Hand in die Höhe. Doch das schrecklichste war das große Auge, das mir aus der Handfläche eisig und feindselig entgegenstarrte. Der Hals, aus dem die Hand wuchs, wurde länger und länger. Schließlich sah es so aus, als ob aus dem Kragen des Mantels ein langer, dürrer Arm mit ungesund vielen Gelenken spross, der sich fast wie eine Schlange von mir weg und zu meinem Bruder ausstreckte. Als William, durch meinen Schrei aus seinem Fieberwahn gerissen, das Geschöpf bemerkte, begann er ebenfalls zu brüllen. Doch es war zu spät. Als er versuchte, an dem Geschöpf vorbei zu springen, quollen mehr und mehr der seltsamen, langen Arme aus den Ärmeln des Mantels, sich wie Schlangen windend und alle mit Mündern
und Augen auf den Handflächen nach meinem Bruder gierend. William wurde in ein immer größer werdendes Meer aus Gliedmaßen gezogen und ich musste ohnmächtig dabei zusehen, wie der Traum zu verschwinden begann. „Lass ihn in Ruhe!“, schrie ich. „Er ist es nicht... er ist es nicht... wir brauchen ihn nicht... er ist es nicht...“ Die Stimme schwoll an und mir wurde schwindelig. Dann musste ich mit Entsetzen ansehen, wie William aus der wimmelnden Masse herausgeschleudert wurde und hysterisch gierend in den endlosen weißen Abgrund segelte, wo er irgendwann aus meinem Sichtfeld verschwand. Der Traum wurde undeutlicher und schemenhafter. Plötzlich wanden sich die Augen in den Händen zu mir um und die Münder flüsterten fragend und geifernd: „Bist du es...? Bissst du es...? Bisssst du
essss...?“ Als das Ding auf mich zufloss, zerriss der Traum um mich herum und ich fand mich schweißnass und schwer atmend in meinem Bett wieder. Minutenlang sah ich nur in die Leere. Was war da gerade passiert? Was für ein Alptraum! Ich konnte nur hoffen, dass mit William alles in Ordnung war. War das ein Omen gewesen? Ich suchte schließlich nach dem Buch, konnte es aber nirgendwo finden. Wo war es hin? Es musste doch irgendwo sein... Dann drang das Quietschen der Haustür an meine Ohren. Ich starrte auf die Tür und horchte. Langsam kam etwas durch den Flur geschlurft, fast schleichend. Tapp, Tapp. Dieses Geräusch werde ich niemals vergessen. Ich hörte, wie das Ding vor der Zimmertür stehen blieb und mit der Türklinke hantierte.
Schließlich schwang die Zimmertür quietschend auf und ich konnte ihn sehen. In der Tür stand William, soweit er noch zu erkennen war. Seine Haare waren schlohweiß und zerzaust, seine Augen winzig klein und trübe. Er schlurfte in die Mitte des Zimmers und sah mich an, während er mit brüchiger Stimme sagte: „Ich habe die Ewigkeit gesehen, Johanna. Ich habe die Ewigkeit gesehen.“ Dann fing das Ding, das mein Bruder war, irrsinnig zu lachen an, bis es wahnsinnig zuckend vor mir stand und dann tot zusammenbrach. Ich verlor laut kreischend die Besinnung und wachte erst drei Tage später im Krankenhaus wieder auf. Bis heute weiß ich nicht genau, was geschehen ist und ich will es auch gar nicht wissen. Seit jener Nacht schlafe ich nur noch mit Medikamenten, die mir einen traumlosen Schlaf
bescheren.
So kann es mich nicht finden.
Dies ist ein Bericht aus "Der Ebrugh-Mythos".
Whisperwind Grusel ganz nach meinem Geschmack! Wirklich cool wie du die Welt in dem Traum und dieses Geschöpf beschrieben hast. Liebe Grüße! |
harrydoener Vielen Dank! Meine anderen Geschichten sind auch Horror in der Richtung, falls du dadran Interesse hast :) Liebe Grüße! |