6. Kapitel
Wenn mir in diesem Moment im Garten eins klar wurde, dann die Tatsache, dass wir mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander zurasten. Nicht ganz so klar war die Frage, wie der Aufprall passieren würde. Möglichkeiten gab es einige und natürlich versuchte ich, mir die schönste von allen vorzustellen.
Amelie war in dem fröhlichen Haus verschwunden, ich hatte ihr hinterher geschaut, zu keiner Bewegung fähig und hätte wetten könne, dass sie mir kurz darauf aus einem der Fenster entgegenblickte. Gesehen habe ich sie an diesem Tag nicht mehr und nach
einiger Zeit habe ich den Garten verlassen.
Irgendwann im Auto angekommen, lag dort immer noch dieser lästige Brief der Versicherung. Wieder hatte ich ihn nicht übergeben und erneut nahm ihn wieder mit. Sollte ich, da ich Amelie sicher bei ihrem Vater wusste, noch einmal zu ihrem Ehemann fahren? Vielleicht konnte ich ein paar Worte mit ihm wechseln, ohne ihr angespanntes Gesicht zu fürchten. Wenn ich, wie versprochen, hinter ihr Geheimnis kommen wollte, musste ich irgendwann damit anfangen. Warum nicht gleich an diesem Tag?
Auf dem Weg nach Portland legte ich mir alle möglichen Varianten zurecht,
wie ich Josef gegenübertreten könnte. Von überaus freundlich, bis dreist und provokant war alles dabei und trotzdem wusste ich überhaupt nicht, was ich tat, als sich die Tür öffnete und mich Amelies Ehemann feindselig anstarrte. So sah er also aus, wenn Josef freundlich gegenüber Besuchern war. Innerlich schüttelte ich mich bei seinem Anblick, er hatte mir nichts getan und trotzdem machte mir meine Toleranz einen Strich durch die Rechnung. Josef … - ich schielte auf das protzige Namensschild neben der Türglocke - Barton war mir von Grund auf unsympathisch.
„Was wollen Sie schon wieder hier?
Wissen Sie nicht, dass ein Wochenende heilig ist und man an solchen nicht unangemeldet fremde Leute belästigt?“ Eisig und arrogant musterte er mich von oben herab und mich packte kalte Wut auf diesen Schnösel, den ich überhaupt nicht kannte und den ich am liebsten auch nie kennegerlernt hätte. Aber ich stand nun einmal vor seiner Tür und musste irgendwie reagieren.
„Ich bin nicht fremd und ich habe überhaupt nicht vor, Sie zu belästigen!“, schnaubte ich und klatschte ihm während meiner Worte den Brief an die Anzugsbrust. Wer trägt schon am Samstagnachmittag daheim einen Anzug? Schnösel - blitzte es noch einmal
in meinem Kopf auf. Wie angeekelt, fledderte er den Brief ungesehen hinter sich auf eine Kommode und giftete mich mit Zornesfalten und röter werdender Gesichtsfarbe an. „Sie sind fremd und ich hoffe, das bleibt so!“
„Ich kenne Amelie, bin also nicht fremd und ansonsten hoffe ich auch, dass ich Sie nie näher kennenlernen muss!“, fauchte ich ebenso frostig zurück und wollte mich zum Gehen abwenden. Unerwartet griff er jedoch in mein T-Shirt und zog mich dicht an sich heran. Da ich unvorbereitet auf den Angriff war, hatte er in diesem Moment den Vorteil auf seiner Seite und ich stolperte einen Schritt auf ihn zu. Nur
wenige Zentimeter trennten unserer Gesichter als er ganz leise und bedrohlich zischte: „Lass Deine dreckigen Finger von meiner Frau, sonst …“ Das Ekelpaket drohte mir!
„Sonst was?“, zischte ich ebenso leise.
„Wünsch Dir nicht, das herauszufinden! Und jetzt verpiss Dich!“ Damit gab er mir einen Stoß und ließ mein Shirt los.
„Ah, der feine Pinkel droht mir?“ Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat. Wahrscheinlich war ich einfach viel zu wütend auf diesen Kerl, so dass ich alles vergessen hatte, was mich ausmachte. Immer war ich darauf aus, Konflikte friedlich zu lösen, das Gespräch zu suchen, wenn Situationen zu
eskalieren drohten und im Notfall auch einfach den Rückzug anzutreten. Sechs Jahre Lehrer- und Trainerdasein waren diesbezüglich eine sehr gute Schule für mich gewesen. Dieser Josef Barton jedoch, brachte binnen weniger Minuten alles in mir durcheinander und wenn es auch keine Angst war, die ich empfand, so doch eine undefinierbare Beklemmung.
„Ja, der feine Pinkel droht Dir und ich rate Dir, nimm es ernst! Was immer Du auch tust, vergiss nicht, dass ich am längeren Hebel sitze!“ Laut knallte die Tür ins Schloss und abermals an diesem Tag, war ich völlig verwirrt und regungslos.
Mit dem Kopf voll Amelie und ihrem Geheimnis, das inzwischen nicht mehr wirklich ein Geheimnis war, versuchte ich, die nächste Woche zu gut wie möglich zu überstehen. Habe ich selbst immer über die Kollegen und Schüler geschimpft, die nicht in der Lage waren, das Schuljahr konzentriert zu Ende zu bringen, war ich binnen weniger Tage selbst zu meinem schlechtesten Vorbild geworden. Nichts brachte ich in der Schule vernünftig auf die Reihe und alles rings um mich herum versank in einem Durcheinander. Mein überdurchschnittlich gutes Organisationstalent war plötzlich verschüttet und meine Wohnung glich
einem mittleren Schlachtfeld. Einzig mein Trainer-Job schaffte es, mich halbwegs von den immer kreisenden Fragen abzulenken. Die Endspiele fanden in dieser letzten Woche vor den Ferien statt und meine beiden Mannschaften spielten genial gut. Die Kleinen holten tatsächlich den Pokal, leider ohne Curly, die immer noch nicht wieder vom Doc freigegeben war, und die zweite Jugendmannschaft erreichte den zweiten Platz. Ein herrliches Gefühl für uns alle und die folgende Grillparty im Sonnenuntergang war ein voller und fröhlicher Erfolg.
In der darauffolgenden Nacht waren sie jedoch wieder da, die Fragen um meine
inzwischen ständige Begleiterin. Was schleppte Amelie mit sich herum und warum hatte sie allem Anschein nach so viel Angst, dass sie mich einfach anlügen konnte? Warum beteuerte sie, dass alles in bester Ordnung war, wenn ihre Augen etwas ganz anderes behaupteten? Und vor allem, was war das für ein Gefühl, das da in meiner Brust tobte? Ich musste es unbedingt herausfinden, fieberte dem Wochenende entgegen und unterschätze dabei die Drohung von Josef Barton ganz gewaltig.
Der letzte Schultag, ein Donnerstag ging vorüber, ohne die für mich gewohnte Euphorie für das neue Schuljahr. In
jedem Jahr zuvor hatte ich am letzten Tag bis spät in die Nacht alles akribisch aufgeräumt, Unterrichtsutensilien gesäubert und sortiert, die Anzeigetafeln auf Null gesetzt, die Umkleideräume von liegengebliebenen Dingen befreit und am Ende des Tages die neuen Schülerlisten geschrieben, Tabellen und Pläne angefertigt. Dieser letzte Tag jedes Jahres weckte die Freude auf das neue Schuljahr, auf die veränderten Klassen und besonders auf die Erstklässler, die mir ganz besonders ans Herz gewachsen waren. Nicht so in diesem Jahr. Abwesend und lustlos schlich ich durch die Sporthalle, stand eine Weile in den Umkleideräumen,
schaute halbherzig das Durcheinander an und fuhr den PC herunter, der im Lehrerzimmer noch auf meine Aktivität wartete. Nichts brachte ich an diesem Tag auf die Reihe und unverrichteter Dinge verließ ich als einer der Ersten des Kollegiums das Schulgelände.
Auch der Freitag verlief völlig tatenlos, ich erkannte mich nicht wieder. Den ganzen Tag lang, lag ich abwechselnd im Bett, auf der Gartenliege, die das einzige Möbelstück auf meinem Balkon ausmachte und auf dem Sofa vor dem Fernseher. Dementsprechend verbrachte ich die halbe Nacht wach und herumwälzend, weil ich ausgeruht wie ich war, keinen Schlaf finden konnte.
Amelie und Josef, Josef und Amelie - an nichts anderes konnte ich mehr denken. Was hielt sie nur bei diesem Kerl? Nie im Leben konnte ich mir vorstellen, dass er auf irgendeine Weise nett zu ihr sei. Driftete ich in einen unruhigen Halbschlaf ab, sah ich hässliche Szenen vor mir, die mich jedes Mal wieder aufschrecken ließen. Wahrscheinlich aber war er doch, wie sie behauptete, ein liebevoller Ehemann, warum sonst wäre sie noch bei ihm. Mit diesem Argument suchte und fand ich die letzten Stunden der Nacht halbwegs Ruhe.
Ihr Auto stand schon auf der Straße, als
ich langsam in die Sackgasse einbog. Es war herrliches Wetter, die Urlaubszeit war angebrochen und trotzdem war weit und breit kein Mensch zu sehen. Langsam schlenderte ich auf das Haus zu und da ich nicht unangemeldet gekommen war, ging ich durch das Tor, wie vor einer Woche nach hinten in den Garten. Von Amelie war nichts zu hören und sehen, also spazierte ich nach einigen Minuten, die ich wartend im Grünen stand, zur Eingangstür. Diese war nur angelehnt, darum betrat ich das Innere des Hauses und sah in der großen Wohnküche zuerst ihren Dad, der schwer atmend auf einem altertümlichen Sofa lag, mich aber sofort zur Kenntnis
nahm.
„Hallo!“, hauchte er leise. „Bist Du Amelies Ehemann? Ich habe Dich schon einmal gesehen“, fügte er hinzu und schaute mich erwartend an. Er war ein alter Mann, nach Amelies Aussage schon sehr verwirrt und ganz offensichtlich ging es ihm nicht gut. Trotzdem hatte er sehr offene und freundliche Züge und zu gern hätte ich seine Frage in diesem Moment bejaht, er würde es ja doch wieder vergessen.
„Nein, ich bin Jim und möchte Ihre Tochter besuchen. Wir kennen uns von früher aus der Schulzeit“, sagte ich stattdessen die Wahrheit und hatte mich zur Begrüßung zu ihm herunter gehockt.
„Da wird sich meine Kleine freuen“, flüsterte er und schloss erschöpft die Augen, ohne meine Hand loszulassen. Während ich noch neben diesem kranken Mann auf dem Boden kniete, kam seine „Kleine“ die Treppe herunter und blieb erschrocken vor mir stehen. „Jim, ich habe Dich nicht gehört, wie lange bist Du schon hier?“ Da war er, der Moment unseres Wiedersehens, den ich so sehnsüchtig erwartet hatte und doch war er anders, als in meiner Vorstellung. Amelie wirkte kühl und sehr gefasst und abermals konnte ich nichts an ihrem Auftreten deuten. „Lass uns in den Garten gehen, dann kann Dad ungestört schlafen.“
Nachdem wir leise ins Freie getreten waren, steuerte Amelie wieder die Schaukel an, neben der heute zufällig oder absichtlich ein alter klappriger Gartenstuhl stand und setzte sich seufzend darauf, mir heute den Schaukelplatz überlassend. Dann erst sah sie mir ins Gesicht und meinen Augen nicht trauend stand ich schon wieder. Ich ging einen Schritt näher an sie heran und hob mit einem Zeigefinger ihr Gesicht ins Licht, um noch deutlicher sehen zu können, was ich längst gesehen hatte.
„Was hat das Schwein mit Dir gemacht?“, stieß ich wütend hervor und strich mit dem Daumen ganz sacht über
die blaue-grüne Schwellung unter ihrem linken Auge.
„Jim, Du hättest am letzten Samstag nicht zu ihm fahren dürfen. Ich habe Dir doch gesagt, dass Du das lassen sollst.“ Ihre Stimme war ein trotziges Flüstern und in Sekundenschnelle reimte ich mir zusammen, was passiert war.
„Was heißt das?“, fragte ich grimmig nach, obwohl ich die Antwort eigentlich kannte.
„Warum soll ich Dich weiter anlügen, Du weißt es ja sowieso schon. Du warst bei Josef und ich habe am Abend Ärger deswegen bekommen.“ Beim letzten Wort zeigte sie auf ihr verletztes Gesicht und streifte dabei leicht über
meinen Daumen, der immer noch dort lag. Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr es mich, zu einem die federleichte Berührung ihrer Finger aber hauptsächlich die Tatsache, dass dieser miese Kerl Amelie wegen meines Auftauchens augenscheinlich verprügelt hatte. Ich schnappte nach Luft, mein Puls begann zu rasen und auf der Stelle wollte ich mich in Bewegung setzen, wollte zu diesem Mistkerl fahren und ihn … Ja, was wollte ich? Wollte ich ihn verprügeln? Wenn mir auch der Sinn danach stand, war mir klar, dass ich damit gehörig am Ziel vorbeischießen würde. Und mein Ziel war es, Amelie zu beschützen, statt neuen Ärger zu
verursachen.
„Amelie!“, brachte ich mühsam heraus. „Das tut mir leid, ich wusste doch nicht …“ Ich stammelte auf der Suche nach Worten, weil sich statt Antworten immer mehr Fragen antürmten.
„Warum bist Du immer noch bei diesem Monster? Geh nicht wieder dahin! Lass Dir helfen, ich bin für Dich da. Sag doch was! Ich kapier das alles nicht, warum schlägt Dich der Kerl und warum zeigst Du ihn nicht an? Wie lange geht das schon so?“
Alles was in meinem Kopf herumwirbelte, spulte ich wahllos ab, weil ich einfach nicht verstand, was da vor sich gegangen war. Irgendwann
unterbrach Amelie meinen Redefluss, in dem sie einen Finger auf meine Lippen legte. Wir standen uns immer noch gegenüber, hatten nicht wieder auf unseren Sitzgelegenheiten Platz genommen.
„Psst! So einfach ist das alles nicht, Jim. Glaub mir, Josef war wirklich ein guter Ehemann. Es ist kompliziert.“ Mit großen traurigen Augen schaute sie mich an und ein erstes Glitzern verriet, dass sie gleich Tränen darin haben würde.
„Nichts ist kompliziert, wenn er Dich verprügelt!“, schnaubte ich erneut los.
„Doch, es ist kompliziert. Hast Du schon einmal richtig geliebt, Jim? So richtig, aus tiefstem Herzen, so dass Du
gebunden bist in dieser Liebe, egal, was passiert?“
„Nein, ich habe noch nie so geliebt“, gab ich ohne zu überlegen zu. „Aber ich glaube nicht, dass es Liebe ist, denn Liebe kennt keine Gewalt.“
Ich sah ihr an, wie sehr sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte und dieses Mal gab ich dem unbändigen Bedürfnis nach, welches in mit tobte.
„Nein, Liebe kennt keine Gewalt“, wiederholte ich meinen letzten Satz leise, zog sie dabei ganz sanft in meine Arme, schloss diese wie eine schützende Hülle um ihren zarten Körper und spürte beruhigt, wie sie sich an mich fallen ließ. Sehr weit entfernt und doch nicht
gänzlich ungehört, vernahm ich in diesem Moment abermals Josefs Drohung und dennoch oder gerade deswegen zog ich Amelie noch ein bisschen fester an mich.
© Memory