Es gibt Bücher, die sollte man nicht aufschlagen
Der Tag versprach schön zu werden. Schon am Morgen kitzelte die Sonne meine Nase, sodass ich schneller als üblich aus dem Bett sprang, die Treppe hinunterlief und die Kaffeemaschine einschaltete. Während der Kaffee durchlief absolvierte ich im Bad das morgendliche Ritual, das mit leichtem Erschrecken beim Blick in den Spiegel begann. Nun ja, so ein Spiegel ist eben unbestechlich. Eine viertel Stunde später war ich dann vorzeigbar. Aus dem Schlafzimmer drangen Geräusche, die darauf hindeuteten,
dass Burkhard aus seinen Träumen gerissen wurde. Mehrmaliges lautes Gähnen und ein empörtes "es ist ja noch so früh" waren unmissverständliche Äußerungen. Ich überhörte sie geflissentlich.
"Das Frühstück ist in zehn Minuten fertig",
flötete ich.
Ich musste Burkhard bei Laune halten, denn heute wollte ich unbedingt in das neue Einkaufszentrum. Nicht morgen oder nächste Woche. Heute! So neu war es nicht mehr. Es wurde schon vor einem viertel Jahr eröffnet. Bisher hatte Burkhard sich erfolgreich gedrückt die 40 km zum Einkaufsparadies mit mir zu fahren. Dabei hatte er nichts gegen Autofahrten an sich. Er hatte etwas gegen Einkaufszentren. Doch allein machte so ein
Einkaufsbummel keinen Spaß. Meine Freundin hatte schon seit sechs Wochen ein Gipsbein und fiel als Begleitung aus.
Ich hatte mir mit dem Frühstück viel Mühe gegeben. Alles, was Burkhard morgens mochte, stand auf dem Tisch. Er strahlte. Ich auch als ich sagte:
"Wir fahren heute ins Einkaufszentrum!"
Das Eigelb seines Fünf-Minuten-Eies rutschte vom Löffel und landete mit einem klatschenden Geräusch auf dem Tisch.
"Ich wollte den Rasen mähen."
"Der wurde vor vier Tagen gemäht."
"Bernd kommt nachher und bringt die Bohrmaschine zurück."
"Es ist jetzt 8,30 Uhr. Bernd kommt gegen
18,00 Uhr. Ich will im Einkaufszentrum keinen Urlaub verbringen."
"Das überrascht mich!"
"Burkhard!"
" ... und außerdem wollte ich zum Mittagessen Kohlrouladen machen. Das dauert seine Zeit."
"Wir essen im Center!"
Endlich hatte ich den Sieg davongetragen.
Resigniert trank er seinen Kaffee aus und setzte eine leidende Miene auf.
Der große Parkplatz vor dem Center war etwas verwirrend. Wir mussten uns genau merken, wo unser Auto geparkt war. Mehrere Eingänge zogen die kauffreudigen Besucher in den riesigen Komplex, als ob sie
eingeatmet würden. Niemand kam hinaus. Wo waren die Ausgänge? Vorwegnehmend möchte ich erwähnen, dass wir sie fanden - nach vier Stunden.
Wir betraten also die kleine Stadt - und ich war glücklich. Von Boutique zu Boutique, weiter zu hochwertigem Porzellan - nicht, dass ich es benötigte - in Schuhgeschäfte, in einen Hutladen. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Hut getragen. Burkhard hatte Schweißperlen auf der Stirn. Ein Geschäft mit Töpfen. Einen Topf brauchte ich! Burkhard brauchte ein neues Aftershave. Ein anderes - immer derselbe Duft. Er fand sein altes in Ordnung. Ich nicht! So verging die Zeit. Ich habe einiges im Center gekauft, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es brauchte. Und
dann strahlte Burkhard plötzlich. Durch ein Fenster hatte er außerhalb des Centers das Schild eines Baumarktes gesehen. Nicht irgendeines Baumarktes, sondern den Mercedes unter den Baumärkten.
"Wir sind jetzt hier fertig. Bevor wir zum Auto gehen, machen wir noch einen Abstecher im Baumarkt."
Ich kannte solche Abstecher. Darauf hatte ich keine Lust.
"Geh´ du in den Baumarkt, ich gehe zu dem Stand mit den ungarischen Spezialitäten.
Ich möchte noch Gewürze kaufen. Anschließend setze ich mich in das Cafe, vor dem draußen die Palmen stehen. Dort treffen wir uns dann."
Er war zufrieden mit diesem Vorschlag.
Ich saß etwa fünfzehn Minuten im Cafe als eine Frau am gegenüber stehenden Tisch Platz nahm. Zuerst schenkte ich ihr keine Beachtung. Dann sah ich ihr zufällig ins Gesicht. Das Sprichwort "lesen, wie in einem offenen Buch" hat seine Berechtigung. Betroffen wandte ich mich ab, um schon nach kurzer Zeit wieder in dieses Gesicht zu blicken, nein, zu starren.
Ich war aufdringlich, unhöflich. Doch meine Unart wurde von ihr nicht wahrgenommen.
Ihr Alter war schwer zu schätzen, wie es oftmals ist, wenn die Menschen einer anderen Nationalität und einem uns fremden Kulturkreis angehören. Sie musste einmal schön gewesen sein. Weiße Strähnen
dominierten in ihrem schwarzen Haar, das am Hinterkopf zu einem schlichten Knoten geschlungen war. Ein verhärmtes, abgemagertes Gesicht - von tiefen Furchen durchzogen. Als sie den Kopf wandte, zeichnete sich eine unschöne Narbe vom Hals bis zum Ohr ab. Ich versuchte meine Augen von ihr abzuwenden und konnte es nicht. Sie hob eine Hand um ein Strähne ihres Haares nach hinten zu streichen. Brandnarben bedeckten den Handrücken und zogen sich bis zum Ärmel ihrer Bluse. Ihre Augen schienen das Leid der Welt gesehen zu haben. Was sah sie jetzt? Worauf richtete sich ihr innerer Blick? Auf Frieden, den sie sich wünschte, Ruhe, die sie nicht mehr kannte, Vergeltung für die Qualen,
die sie durchlitten hatte. Oder sehnte sie sich einfach danach einzutauchen in ein Nichts, zu vergehen? Ihre Augen blickten in eine Ferne, der ich nicht folgen konnte. Dazu bedurfte es wohl einer Portion Weisheit ... und von der bin ich weit entfernt.
Die stumme Begegnung mit dieser Frau im Cafe war der Anlass für meine Zeilen "Weitblick"
© KaraList 08/2016