Kurzgeschichte
In meinem Käfig bin ich frei

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"In meinem Käfig bin ich frei"
Veröffentlicht am 14. August 2016, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Kudryashka - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich schreibe, seit ich 8 Jahre alt war, besonders haben es mir Kurzgeschichten und Gedichte angetan. Dabei probiere ich immer wieder gerne etwas Neues aus - sei es beim Genre, oder beim Schreibstil.
In meinem Käfig bin ich frei

In meinem Käfig bin ich frei


Ich starre die Türschwelle an. Eigentlich sieht sie ganz harmlos aus, unschuldig weiß, eine goldene Naht in der Mitte; sauber, weil niemand über sie drüber trampelt und dabei Dreck hinterlassen könnte. Uneigentlich hingegen ist sie die letzte Bastion, die mich von der Welt dort draußen trennt; von dem Wahnsinn, der Hektik, den Autos, dem Lärm. Den Menschen. Ich starre die Türschwelle an und finde sie gleichzeitig angsteinflößend und beruhigend, schrecklich und schön. Manchmal ist sie mein Freund – mein einziger, wenn ich darüber nachdenke, weil sie mir das Gefühl gibt, in

Sicherheit zu sein. Manchmal aber verfluche ich sie, wie jetzt, weil sie da ist – eine unsichtbare Mauer, die sich zwischen der goldenen Naht und dem Türrahmen spannt; an der ich nicht vorbeikomme. Ich war schon lange nicht mehr jenseits dieser Türschwelle. Eigentlich seit meinem Einzug nicht mehr. Das war vor acht Jahren.

Manchmal (wie jetzt) war ich kurz davor; hatte meine Schuhe angezogen und den Schlüssel fest umklammert.

Manchmal wollte ich tatsächlich rausgehen, um eine Freundin im Krankenhaus zu besuchen, zum Beispiel. Sie kam mich ja schließlich auch

besuchen, wenn es mir schlecht ging. Ansonsten telefonierten wir. Aber immer war da die Türschwelle. Sie hypnotisiert mich und hält mich fest.


„Draußen ist es schön! Du wirst dich daran gewöhnen müssen, aber es wird dir irgendwann gefallen – so viel Neues gibt es da!“, ruft Mut mir euphorisch ins Ohr, tanzt über die Schwelle durch die offene Tür hinaus und winkt mir strahlend vom Flur aus. „Neues? Meinst du Veränderungen?“, quietscht Angst und klammert sich an meinem Jackenzipfel fest: Bloß nicht loslassen! „So viel Frischluft!“, jubelt Freiheit und

gesellt sich zum Mut. „Papperlapapp!“, poltert Griesgram, „Frischluft? In der Stadt? Dass ich nicht lache!“ Freiheit schaut ihn vorwurfsvoll an. „Was willst du überhaupt da draußen? Hast doch nicht mal ein Ziel!“, grummelt Schweinehund vom Sofa aus, genüsslich ausgestreckt. „Wenn du Frischluft willst, mach einfach ein Fenster auf – ist nicht schlechter als draußen!“ Ich bin ratlos. Ich schaue auf die Schwelle, dann in den Flur. Mut ist weg. Wohin, weiß ich nicht – ich werde ihn wohl vorerst nicht wiederfinden. Freiheit ist wieder in die Wohnung gehüpft und drückt sich an

einem Fenster die Nase platt. Ich öffne es und atme die Luft ein; den Smog; den Gestank der Menschen. Höre Alarm; höre Autos, Menschen, blecherne Musik. Ich schließe es. Stille wieder. Die Tür steht noch immer offen. Hinter ihr liegt das Treppenhaus und verströmt den muffigen Geruch bis in meine Wohnung. Ich schließe auch sie. Ich nehme wahr, dass Misserfolg an Selbstwertgefühl herumkratzt, bis es Furchen bekommt und noch mickriger wird. Es ist mir egal, Zeit heilt Wunden; langsam zwar, aber sie

heilt. Muss ich denn wirklich raus?, frage ich mich mal wieder. Was ist am Draußen denn besser als am Drinnen? Was ist da schon, was den Stress, die Angst, die Anstrengungen wert wäre? Meine Familie nennt meine Wohnung abschätzig meinen „Käfig“, aber in Wahrheit gefällt sie mir. Ich überlege weiter, aber mir fällt nichts ein, was draußen besser wäre.



„Die Welt ist grenzenlos! “, hat meine Mutter mir gesagt. Erstens: Das ist gelogen. Die Welt ist

eine Kugel; ziemlich groß, aber theoretisch könnte man jeden Flecken erkunden. Kugel heißt: abgeschlossene Fläche – nicht Unendlichkeit. Zweitens: Diese Weite, die von ihr so angepriesen wird, macht mir nur noch mehr Angst; nichts, was mich schützen kann, wenn ich zu weit von Zuhause weg bin. Und Menschen sind so unberechenbar und grausam. Ich möchte ihnen nicht ausgeliefert sein. Draußen würde meine Beklemmung, die ich an der Türschwelle spüre, über meinen Kopf wachsen. Aber in meinem Käfig bin ich frei: Von Angst, Sorge, Druck, Hektik. Von

Lärm, Gestank, Chemie. Von Menschen, Gesprächen, Streitereien. Von Gewalt. Ich höre, wie sich die Tür öffnet und dann wieder ins Schloss fällt. Schweinehund schnarcht zufrieden auf der Couch. Freiheit sitzt daneben und lächelt beseelt. Griesgram hat sich wieder beruhigt und starrt gewohnt mürrisch aus dem Fenster. Ich stelle mich zu ihm. Unten öffnet sich die Haustür und Angst entschwindet schnell, mischt sich ins rege Getümmel und treibt im Strom die Straße hinunter.

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Über den Autor

JanaRetlow
Ich schreibe, seit ich 8 Jahre alt war, besonders haben es mir Kurzgeschichten und Gedichte angetan.
Dabei probiere ich immer wieder gerne etwas Neues aus - sei es beim Genre, oder beim Schreibstil.

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Annabel Ja, da kann man nur glücklich sein, wenn es einem gut geht. Beeindruckend geschrieben.
Vor langer Zeit - Antworten
JanaRetlow Vielen Dank, liebe Annabel!
LG
Jana
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Mutig, diese psychische Erkrankung mit einer Prise Humor zu beschreiben. Deine Protagonistin jedenfalls versucht ihre Dämonen mit eben diesem Humor zu bekämpfen. Wie lange ihr das n o c h gelingt ist fraglich - in der Realität fehlt den Betroffenen der Sinn für das Heitere dieser Situation, auch wenn sie in der ´erzwungenen` Abgeschirmtheit die vermeintliche Sicherheit haben.
Wie dem auch sei - interessant und kurzweilig zu lesen.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
JanaRetlow Vielen Dank für deinen Kommentar; ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.
Allerdings würde ich gerne eine Sache richtigstellen: Auch wenn ich ihre Situation ein wenig auf die Schippe genommen bzw. mit einem zwinkernden Auge beschrieben habe, hat diese Situation in Wirklichkeit gar nichts Heiteres an sich.
Die Hauptperson hat eine ernstzunehmende Angststörung, wegen der sie nicht rausgehen kann und nur in ihrer Wohnung Frieden findet. Selbst dieser ist nicht von Dauer, weswegen sie immer wieder vor ihrer Türschwelle endet.
Sicher vor Gefahren mag sie zwar sein, aber man muss sich nur mal bewusst sein, wie abhängig so eine Person von Lieferdiensten ist (um nur ein Beispiel zu nennen), damit sie überhaupt so überleben kann.
Eigentlich ist ihre Lage relativ fatal.

Hoffe, ich habe jetzt nicht zu viel in deinen Kommentar hineininterpretiert, aber ich wollte das ganz kurz einmal loswerden ;-)

Vielen Dank und liebe Grüße,
Jana
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Du hast meinen Kommentar absolut richtig interpretiert! :-)
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Mutig, diese psychische Erkrankung mit einer Prise Humor zu beschreiben. Deine Protagonistin jedenfalls versucht ihre Dämonen mit eben diesem Humor zu bekämpfen. Wie lange ihr das n o c h gelingt ist fraglich - in der Realität fehlt den Betroffenen der Sinn für das Heitere dieser Situation, auch wenn sie in der ´erzwungenen` Abgeschirmtheit die vermeintliche Sicherheit haben.
Wie dem auch sei - interessant und kurzweilig zu lesen.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
EllaWolke Super , super gut geschrieben
und eines Tages kommt die Neugier zu Besuch und der Schritt ist dann ein leichter.

LG Ella
Vor langer Zeit - Antworten
JanaRetlow Das wäre jedenfalls eine tolle Idee für eine Fortsetzung, Dankeschön dafür!
Sollte ich sie wirklich schreiben, werde ich dir natürlich den Kredit zollen.

Vielen Dank für das Lob, die kleine Spende und die Favorisierung!
Liebe Grüße
Jana
Vor langer Zeit - Antworten
EllaWolke Neugier, Endeckerdrang... Und die Lust zu leben :-)
Ich fand mich ein kleines Stück wieder... Einst war's
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Ich schiebe mal noch ein d dazu :-)
LG Ella
Vor langer Zeit - Antworten
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