Einleitung
Eine wahre Geschichte, eine meiner frühen Kindheitserinnerungen ....
Bärbels Kindheitserinnerungen"Schlüsselkinder" riefen auch mir Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis. Dies ist eine meiner frühesten.
Der Mond kann laufen!
Das gibt es nicht! Wie angewurzelt bleibe ich stehen und starre auf den Mond. Das ist unmöglich! Ich muss mich getäuscht haben. Probeweise laufe ich einige Schritte vor, einige zurück.
„Irmi“, rufe ich meiner Freundin zu, „Irmi, schau, der Mond!“
„Was ist mit ihm?“
„Er kann laufen! Er läuft mit uns mit!“
„Blödsinn!“
„Doch! Schau nur, der Mond kann wirklich laufen.“
Aufgeregt rennen wir den kurzen Weg der Häuserreihe entlang. Drei Häuser vor, drei Häuser zurück, wieder vor,
wieder zurück. Den Blick stets himmelwärts gerichtet – und der Mond läuft tatsächlich mit. Unglaublich!
Wenn wir das morgen im Kindergarten erzählen, müssen wir Gewissheit haben.
Also stellen wir den Mond auf die Probe. Wir wollen ihn überrumpeln – laufen schneller oder langsamer, bleiben abrupt stehen. Doch egal, was wir tun, der Mond macht alles mit. Er läuft, wenn wir laufen, und er bleibt stehen, wenn wir stehen bleiben. Ein herrliches Spiel! Irmi und ich bekommen nicht genug davon. Atemlos laufen wir mit dem Mond um die Wette, der Abendwind kühlt unsere erhitzen Wangen.
Plötzlich jagt mir ein Schauer über den Rücken. Ängstlich schaue ich mich um. Aber da ist nichts. Nichts anders als sonst. Mein Blick sucht Irmi. Die lacht und läuft vergnügt vor mir her.
„Papa!“, schießt es mir in den Sinn.
„Papa!“ klopft es in meinem Herzen.
Mein Vater war vor kurzem im 2. Weltkrieg gefallen. Mutti hat mir erzählt, er sei nun im Himmel, aber trotzdem immer bei mir.
„Wie soll das gehen?“, habe ich mich gefragt. Jetzt weiß ich es: Papa sitzt auf dem Mond, er will bei mir sein - und deshalb rennt uns der Mond ständig nach.
Diese Erkenntnis ist so atemberaubend, dass ich nur noch nach Hause und in
mein Bett will. Ich bin verwirrt. Ich muss allein sein!
Endlich liege ich in meinem Bett. Mutti erzählt mir eine Geschichte, gibt mir einen Gute-Nacht-Kuss und schließt leise die Zimmertür.
„Was macht der Mond?“, frage ich mich. Auf Zehenspitzen schleiche ich zum Fenster, ziehe die Vorhänge auf – und da steht der Mond ruhig am Himmelszelt und lächelt mich freundlich an.
Ich lächle auch, denn ich weiß, mein Papa sitzt da oben und passt auf mich auf.
„Gute Nacht, Papa! Gute Nacht, lieber Mond! Und morgen werden wir wieder miteinander laufen.“ Mit diesem
Gedanken schlafe ich beruhigt ein.