5. Kapitel
Mit den Gedanken wohl sehr weit entfernt, schien Amelie einen inneren Kampf auszufechten. Verloren schaukelte sie ein wenig hin und her, wodurch das Sonnenlicht auf ihrem Gesicht ständig wechselte. Befand sich die Schaukel vorn, erstrahlte ihre, ansonsten blasse Haut im Sonnenlicht und erschien warm. Bewegte sie sich nach hinten, zog sich jedes Mal der Schatten des Apfelbaums über ihre Züge und verlieh diesen Härte und Traurigkeit. Das Spiel der Natur konnte dessen ungeachtet trotzdem nicht über
ihre Gefühle hinwegtäuschen, die sie in diesem Moment der Stille nicht verbergen konnte oder wollte.
Ich hatte mich immer als gefühlvollen Menschen empfunden, war eher ein sentimentaler Typ und weniger der harte Kerl, der klischeehaft hinter einem Sportlehrer und Football-Trainer vermutetet wurde. Egal ob Weichei oder Macho - dieser Anblick weckte nie gekannte Gefühle in mir. Ich fühlte mich verpflichtet. Stark oder auf jeden Fall stark genug, wollte ich sie vor dem Rest der Welt oder zumindest vor dem, was sie so traurig und hilflos machte, beschützen und hatte das Bedürfnis, das laut in den Himmel zu schreien.
Stattdessen saß ich wie versteinert vor ihr. Schaute äußerlich regungslos und innerlich vollständig aufgewühlt auf diese Person vor mir und fürchtete, dass jede Bewegung oder jeglicher Laut die Seifenblase in der wir saßen, zum Platzen bringen könnte. Zu dieser Zeit fühlte ich bereits, dass uns etwas ganz Besonderes verband und glaubte, auch Amelie hatte es gespürt.
„Sag doch etwas!“, forderte ich sie nach einer kleinen Ewigkeit auf und sah, wie sie meine Worte zu mir zurückholten. Mit leeren Augen schaute sie auf mich herab, lächelte leicht und schüttelte den Kopf, so als ob sie lästige Gedanken loswerden wollte.
„Du siehst Gespenster, Jimmy. Alles ist im grünen Bereich und mir geht es wirklich sehr gut“, log sie mich doch tatsächlich an, schaffte es aber nicht, unseren Augenkontakt aufrecht zu halten. Ihr Blick wanderte zum Haus und damit fiel ihr wohl ein, weswegen sie wirklich dort war. Ich war ja leider nicht der Grund dafür.
„Ich sollte dann auch bald anfangen, da drin. Dad wartet“, nickte sie leicht zum Haus hin.
„Amelie, warum sagst Du mir nicht, was los ist? Ich bin weder blind, noch blöd. Das neulich bei Euch daheim …“
„War alles in bester Ordnung, glaub mir. Josef war ein bisschen gestresst, er kam
gerade von der Arbeit, sonst ist er viel freundlicher zu Besuchern.“
„Du verarschst mich! Ich glaub Dir kein Wort!“, kam ich langsam in Rage. Wenigstens hatte ich nun ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, denn sie versuchte die Fassung zu bewahren und schaffte es trotzdem, mich ein bisschen ärgerlich anzufunkeln. „Jim Rigby, Du hast keine Ahnung wovon Du sprichst. Mein Mann ist ein guter Ehemann, er ist treu, fürsorglich und trägt mich auf Händen.“
„Fragt sich nur wohin?“, murmelte ich und begriff, dass ich wahrscheinlich zu weit gegangen war.
„Sorry! Es tut mir leid und es geht mich nichts an“, fügte ich hinzu und suchte
erneut ihren Blick. Was für eine Veränderung! War vorher Ärger und Trotz in ihren Augen, wirkte sie nun enttäuscht. Ihr Gesicht schrieb wirklich Bände. Sie war enttäuscht! Mutig geworden durch ihr offenes Gefühl, wollte ich doch noch einmal nachhaken, stand auf und ging einen Schritt auf sie zu. Mit beiden Händen ergriff ich rechts und links die Seile der Schaukel, stoppte diese in ihrer Bewegung und zwang Amelie auf diese Weise, meinem Blick zu begegnen.
„Doch! Doch, es geht mich etwas an. Egal, ob wir uns kennen oder nicht, mein Gefühl sagt mir, das etwas ganz und gar nicht stimmt. Und wenn es nicht
Dein blitzsauberer Ehemann ist, der Dir Angst macht, dann ist es was anderes. Und ich bin nicht der Typ, der sich wegdreht und wegschaut. Du hast die Wahl, erzähl es mir jetzt oder später oder gar nicht, aber ich werde Dir solange auf den Fersen bleiben, bis ich es mit Deiner Hilfe oder allein herausgefunden habe.“ Ernst starrte ich sie an und nahm erneut eine Veränderung in ihren Zügen wahr. Sie lächelte resignierend, tippte mir auf die Brust und rutschte vor mir von dem schmalen Brett der Schaukel. Ganz dicht stand sie plötzlich vor mir, da ich noch immer die Seile festhielt, zu dicht - viel zu dicht. Zu gern hätte ich die letzten
Zentimeter überwunden und ihr einfach gezeigt, dass ich für sie da sein wollte, wagte es aber wieder nicht, aus Furcht, ihr zu nahe zu treten. Den magischen Moment unterbrechend, duckte sie sich unter meinem Arm durch, entfernte sich rückwärts und murmelte kapitulierend, während sie sich zum Haus umdrehte: „Ich muss jetzt wirklich zu meinem Dad. Es gibt nichts zu erzählen, aber wenn Du nächste Woche wieder Langeweile hast, kannst Du ja noch einmal her kommen. Gleiche Zeit, gleicher Ort.“ Damit verschwand sie hinter der Tür und ließ mich mit meinen vielen Fragen, die immer mehr wurden, allein.
Amelie flüchtete fast in das Haus zu ihrem Vater und wieder war sie nach einer Begegnung mit Jim den Tränen nahe. Ehe sie sich zu ihrem Dad auf das Sofa setzte, wagte sie noch einen Blick aus dem Fenster in den Garten. Jim stand immer noch an genau der gleichen Stelle und schaute in ihre Richtung. Konnte er sie sehen? Natürlich konnte er sie nicht sehen und auch ihr Schluchzen hörte er nicht. Hatte sie ihn gerade eben wirklich aufgefordert, in einer Woche wieder zu kommen? War sie von allen guten Geistern verlassen? Sicher, Josef würde es nicht mitbekommen, wenn sie versuchte, sich so normal wie möglich zu verhalten. Und sie hoffte, dass er auch
nicht wieder nach Jim fragen würde. Vor zwei Tagen war er mächtig böse gewesen, als er registriert hatte, dass sie Jim kannte, war richtig zornig geworden, weil er ihnen unterstellte, ein Treffen vereinbart zu haben. Sie hatte gerade noch die Kurve gekriegt und konnte ihren Mann besänftigen, ehe die Situation wieder einmal eskalierte. Aber Josef war an diesem Tag gut gelaunt und verließ das Haus bald darauf. Was passierte, als er Stunden später zurückkahm, hatte sie verdrängt. Auch in der Nähe ihres Vaters schob sie die Gedanken an Josef beiseite, wollte ihn nicht mit ihren Sorgenfalten belasten, die er immer noch zur Kenntnis nahm,
obwohl er sichtlich schwächer und matter wurde. Sie drehte sich vom Fenster weg und mit dem Gedanken an Jim, lächelnd ihrem Vater zu. Obwohl sie sich sehr bemühte, ganz bei ihrem Dad zu sein und alles genauso wie sonst erledigte - putzte, kochte, seine Hand hielt und mit ihm redete - dachte sie trotzdem immer wieder an den Mann im Garten. Jim hatte beschlossen, hinter ihr Problem zu kommen, mit ihrer Hilfe oder ohne sie. Was bedeutete das? Für sie, für Josef und letzten Endes auch für Jim? Würde er wirklich das sorgsam von Josef errichtete Kartenhaus zum Einstürzen zu bringen? Und wie würde dieser darauf reagieren? Würde er wahr
machen, was er andauernd und allzeit wiederholt androhte und ihr Leben zerstören, was auch immer er darunter verstand? Was war nur aus ihnen geworden?
Sie hatten sich geliebt und den Josef von damals liebte sie auch immer noch. Und sie hatten sich vor den Augen oder Ohren Gottes geschworen, das auch in schlechten Zeiten zu tun. Im Nachhinein konnte sie nicht mehr sagen, wann es angefangen hat. Sie hatten keine Probleme, sein Job füllte ihn aus und er arbeitet sehr gern in dieser Firma, in der er inzwischen ein angesehener Manager war, Geld hatten sie genug und sie hatten sich. Trotzdem war er immer
häufiger später nach Hause gekommen, war nach der Arbeit in eine Bar gefahren und hatte in kurzer Zeit oft viel zu viel getrunken. Schnell wurde es zur Regelmäßigkeit und Gewohnheit, dass sie allein am gedeckten Tisch saß und mit dem Abendessen wartete. Kam Josef dann heim, suchte er Streit und wurde aggressiv. Sie verstand es nicht und wenn er wieder nüchtern war, verstand er es selbst nicht, beteuerte ihr ständig seine Liebe und versprach, dass es nie wieder passieren würde. Daheim hatte er noch nie getrunken, es gab in ihren vier Wänden keinen Alkohol und sie war um jedes Mal froh, wenn er auf direktem Weg nach Hause kam. War das doch der
Garant für einen friedvollen Abend. Verspätetet er sich, wusste sie, was ihr bald blühte, denn der Alkohol hat einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Er war nicht mehr der liebevolle Mann, der ihr jeden Wunsch von den Lippen ablas, der sie oft mit Blumen überraschte, sie am Abend ausführte oder sie einfach so zwischendurch zu einem Kurzurlaub einlud. Diese Zeiten waren lange her und sie konnte nicht mehr sagen, wann sie ihn zum letzten Mal mit Hingabe geliebt hatte. Die körperliche Liebe lief brutal ab, wie alles andere auch. Jähzornig, eifersüchtig und rücksichtslos war er für sie zu einem Monster geworden, vor dem sie sich
immer häufiger fürchtete. Sie wusste nicht mehr, wann dieser Strudel begonnen hatte, der sie beide in eine finstere Zukunft zog, aber sie wusste, dass sie in diesem Chaos gefangen war. Einmal hatte sie damit gedroht, für immer zu gehen, wenn er die Trinkerei nicht aufgeben würde und lag am Ende dieser Diskussion mit einer Gehirnerschütterung, zwei Tage lang im Krankenhaus. Er würde sie und ihr Leben zerstören und sich selbst umbringen, wenn sie gehen würde. Was hatte sie für eine Wahl? Immer noch hoffte sie darauf, dass es der alte Josef irgendwann wieder ans Licht schaffte, denn sie allein wusste, wieviel Liebe er
bereit war zu geben. Es war eine schlechte Zeit, aber sie hoffte darauf, dass die gute wieder zurückkommen würde. Sie hatten es sich versprochen und Jim passte ganz und gar nicht in dieses derzeitige Desaster. Allein sein kurzes Auftauchen vor zwei Tagen hatte ihr jede Menge Ärger und diverse blaue Flecken eingebracht, dabei war Josef zu der Zeit nüchtern gewesen. Er unterstellte ihnen, verabredet gewesen zu sein, in der Hoffnung, dass er erst später kommen würde. Natürlich glaubte er ihr nicht und sie konnte ja nicht einmal sagen, was Jim bei ihr wollte. Seine Erklärung hatte sie im Keim erstickt und da sie auf Josefs Fragen
keine Antwort wusste …
Sie wollte sich jetzt nicht mit Josef befassen und schon gar nicht mit seinen groben Händen, seinen nach Alkohol riechenden Atem und seine verletzenden Worte. Fast mit Gewalt zwang sie sich dazu, an Jim zu denken, an seine forschenden Augen, die leicht kraus gezogenen Stirn, wenn er redete und seine sanfte Stimme, während er eindringlich mit ihr sprach. Sie stellte sich seine Hände vor und die Wärme, die von seinem Körper ausging. Als sie vorhin an der Schaukel so dicht vor ihm stand, hätte sie fast einem unvermittelten Bedürfnis nachgegeben und sich an diesen warmen Körper
gelehnt. Jim hätte sicherlich nichts dagegen gehabt. Stattdessen hatte sie ihn einfach stehen gelassen und zu einem weiteren Treffen eingeladen. Sie ahnte viele Probleme auf sich zukommen und dennoch bereute sie ihren letzten Satz nicht.
Ohne es zu bemerken, hatte sie unbewusst und automatisch alle Arbeiten erledigt und war gerade dabei, das fertige Essen zum Tisch zu bringen, an dem ihr Dad inzwischen saß. Schlecht sah er heute aus, bemerkte sie erst jetzt schuldbewusst. Sie sollte sich einfach mehr konzentrieren, tadelte sie sich selbst und setzt sich zu dem alten Herren.
„Wer war der junge Mann da draußen im Garten? War das Dein Mann?“, fragte er unvermittelt. „Und warum ist er gar nicht mit hereingekommen?“ Nach fast jedem Wort schnappte er nach Luft und seine Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern. Mit neugierigen, wenn auch müden Augen, blickte er Amelie an und verstand in diesem Moment wohl genauso wenig wie sie, warum sich ihre Augen mit Tränen füllten. „Er sah aus wie ein guter Mann, bring ihn bitte das nächste Mal mit rein, meine Kleine.“
„Wahrscheinlich ist er ein guter Mann, Daddy, aber er war nicht mein Mann. Du kennst doch Josef, er sieht ganz anders aus. Das da draußen war Jimmy, ich hab
Dir letzte Woche schon von ihm erzählt.“ Amelie versuchte, ihrer Stimme einen möglichst neutralen Klang zu geben, schaffte es aber nicht. Zu sehr schmerzte sie der Gedanke, dass ihr geliebter Dad, ihren Ehemann nicht kannte. Den Mann von dem er sich wünschte, dass er mit ihr in diesem Haus eine glückliche Familie gründen würde.
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