4. Kapitel Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich nach diesem Tag nicht wieder an Amelie dachte. Häufig kreiste sie in meine Gedanken, aber immer mehr holte mich auch der Alltag wieder ein. In der Schule begannen bald die Sommerferien. Unzählige Konferenzen, Schreibarbeiten, Auf-und Umräumereien und Planungen für das neue Schuljahr füllten die letzten Wochen. Das waren die Tage des Schuljahres, die ich am wenigsten mochte. Die Schüler, aber auch ein Teil der Lehrer, waren unmotiviert, mit den Gedanken bereits im Urlaub und die meist wärmer
werdenden Tage waren nicht förderlich, für einen guten Unterricht. Während es in der Schule stimmungsmässig bergab ging, war die Zeit für mich als Trainer eine Hoch-Zeit. Die letzten Spiele vor der Sommerpause standen an, die Spannung und der Eifer meiner Spieler wuchs in ungeahnte Höhen und die Motivation, den Pokal mit nach Hause zu nehmen, war in den letzten Wochen ungebrochen. Die beiden Mannschaften, die ich trainierte, forderten meine ganze Aufmerksamkeit, zumal ich auch immer bemüht war, den wachsenden Eifer für die Spiele und den nachlassenden für die Schule halbwegs im Gleichgewicht zu halten. Leider kam es zum Saisonende in
der Mannschaft der 10 bis 12-jährigen noch zu einem unschönen Zwischenfall. Es war nicht unüblich, aber ebenso wenig die Regel, dass auch Mädchen in die Mannschaften aufgenommen werden konnten. Mädchen-und Frauenfootball hatte sich längst durchgesetzt, aber eigene Mannschaften gab es nur in wirklich großen Städten. Nie wäre ich damals auf die Idee gekommen, dass Curly sich als Mädchen entpuppen würde. Sie kam mit ihrem ein Jahr älteren Bruder, stand mit raspelkurzem Haar und verpackt in Spielerkleidung vor mir und absolvierte einige Stunden Probetraining. Sie war gut, sehr gut und mich begeisterten von Beginn an ihr
Durchsetzungsvermögen und ihre Ausdauer. Als es aufflog, dass sie ein Mädchen ist und eigentlich nicht in die reine Jungsmannschaft gehörte, setzte ich mich dafür ein, dass sie bleiben durfte. Es gab unzählige Diskussionen dazu, aber letzten Endes haben die Jungs und ich mich durchgesetzt. Curly durfte als einziges Mädchen in der Mannschaft mitspielen. Kurz vor Saisonende passierte dann dieser unschöne Unfall. Sie wurde zu heftig gerempelt, stürzte unglücklich und zog sich starke Prellungen des Brustkorbs zu. Was im Grunde ein ganz normaler Football-Unfall war, der so oder so ähnlich unzählige Male vorkam, weckte wieder
die Diskussion, ob es richtig sei, ein Mädchen in einer Jungsmannschaft spielen zu lassen. Der Standpunkt eines Vaters der Gegenmannschaft, schaffte es sogar auf die Lokalseite des Beaverton Couriers. Curly wurde vom Arzt ausgemustert und ich wusste eine Wochen später noch nicht, ob die Entscheidung mit rechten Dingen vor sich gegangen war. Und dennoch war das Thema Amelie noch nicht vorbei. Genau zweieinhalb Wochen nach unserem Zusammentreffen und genau an dem Tag, als ich bis zum Mittag noch nicht einmal an sie gedacht hatte, bekam ich diesen Brief von der
Versicherung. Der Schaden am „gegnerischen“ Fahrzeug war nicht sonderlich groß, da es sich aber um ein teures Auto handelte, waren die Reparaturkosten außergewöhnlich hoch. Die Versicherung wollte zusätzliche Angaben zum Fahrzeughalter und eine weitere Erklärung der Besitzerin. Natürlich hätte ich den Fragebogen in den nächsten Briefkasten stecken können, auch ein Anruf wäre ausreichend gewesen, aber es fühlte sich so an, als ob ich mich heimlich freute. Ich konnte meine Neugier befriedigen, ohne aufdringlich zu wirken und hatte vielleicht die Möglichkeit bekommen, nach der ich schon seit Tagen suchte, um
noch etwas über Amelies Leben herauszufinden. Spontan und ohne schlechtes Gewissen beschloss ich, nach der Schule auf direktem Weg zu ihrem Haus zu fahren. Ich wollte nur kurz einen Blick auf die Gegend werfen, in der Amelie wohnte und die Sache mit der Versicherung klären. Niemand konnte mir das übel nehmen. Es dauerte nicht lange, das Villenviertel in Portland zu finden. Das war großflächig, protzig, ein Haus war größer und kostspieliger als das andere und das merkwürdige Gefühl, welches mich beim langsamen Fahren durch die Straßen befiel, ließ mich beinahe umkehren. Wo war ich nur hingeraten?
Konnte es wirklich wahr sein, dass Amelie dort wohnte? Die Amelie, die ich in einfachen Cargohosen, Schlabber-Shirt und Sneakers kennengelernt hatte, wohnte hier in diesem Nobel-Viertel? Die Adresse fand ich schnell und auch an der bewachten Schranke kam ich unerwartet problemlos vorbei. Ich hatte nach Mrs. Baker gefragt und wurde nach einem kurzen Anruf durch gewunken. Es war ein düsterer Tag, schon seit Stunden braute sich ein Gewitter über der Stadt zusammen, die Bäume bogen sich im Wind und es war absehbar, wann die ersten schweren Tropfen auf den sauberen Asphalt fallen
würden. Kaum hatte ich das Auto verlassen, war es soweit - die Wolken gaben ihren Kampf gegen die Schwerkraft auf. Ich hatte die Wahl, entweder ich lief die wenigen Meter zum Haus oder ich setzte mich wieder in meinen Wagen. Die Entscheidung wurde mir allerdings abgenommen. Da ich angekündigt war, öffnete sich die Eingangstür bereits. Dort stand Amelie, wickelte sich schützend eine Strickjacke um den Körper und schaute mir sehr eisig entgegen. Es war ein Fehler hierherzukommen. Das begriff ich augenblicklich, nachdem ich auch die Falte auf ihrer Stirn wahrnahm und ein weiteres Gefühl. War das Angst?
Jagte ihr mein Auftauchen Angst ein? Ich sah das Bild vor mir, so als ob ich uns durch eine Kamera betrachtete. Am Auto stand ich, erstarrt und unsicher, den Kopf erhoben und ihre Augen fixierend. In der Tür, die mehrere Stufen erhöht zum Vorplatz, den Blick in den großen, hell erleuchteten Vorraum der Villa freigab, stand sie - ebenso regungslos. Wenn mich auch jeder Funken Vernunft aufforderte, das Grundstück und damit Amelie, auf der Stelle zu verlassen, fühlte ich mich von ihrem Blick so magisch angezogen, dass ich mich langsam und dann immer schneller zu ihr hin bewegte. Zum Umkehren war es zu spät, also lief ich
durch den beginnenden Regen und stand kurz darauf vor ihr. „Amelie!“, war alles, was ich im ersten Moment über die Lippen brachte. Einem Impuls folgend, hätte ich diese, mir im Grunde fremde und vor allem verheiratete Frau, am liebsten in meine Arme gezogen, stoppte aber dieses Bedürfnis in der ersten Bewegung. „Jim, was machst Du hier? Du darfst hier nicht herkommen! Das ist ein Fehler!“, sprach sie aus, was ich auch ohne Worte schon begriffen hatte. Ihr Blick und der fast verzweifelte Klang ihrer Stimme jagten mir eine Gänsehaut über den Körper und ließen mein Innerstes frösteln.
„Ich wollte nur kurz …“, versuchte ich schnell mein Auftauchen zu erklären, wurde von ihr aber mitten im Satz unterbrochen. „Nein, fahr bitte wieder.“ Sie sprach hastig und schaute immer wieder über ihre Schulter, hatte jedoch nicht geschafft, mich schnell genug loszuwerden. Hinter ihrem Rücken öffnete sich eine Tür und ein großgewachsener, schlanker Mann, mit einem sehr gepflegten Äußeren, in Anzug und Krawatte kam auf uns zu. Misstrauisch ließ er den Bruchteil einer Sekunde lang, seinen Blick von Amelie zu mir und wieder zu ihr gleiten, setzte dann ein überaus freundliches Lächeln
auf und zog sie dicht an seine Seite. „Liebling, warum lässt Du unseren Gast vor der Tür stehen? Kommen sie doch bitte herein Mr. …?“ Sein Lächeln war betont herzlich, wirkte jedoch aufgesetzt und die Freundlichkeit erreichte seine Augen nicht annähernd. „Jim Rigby“, stellte ich mich vor, „Amelie hat Ihnen ja sicherlich erzählt, dass wir neulich gemeinsam ein bisschen Blech verbeult haben.“ Während ich unbeholfen lächelte, fror sein Gesicht noch ein wenig mehr ein und Amelies erstarrte ganz zur Maske. Trotzdem fand sie ihre Sprache zuerst wieder. „Jim wollte gerade wieder gehen Schatz, es ist alles ok“, beteuerte sie und
schaute mich flehend an, während ihr Mann noch einmal einen prüfenden Blick zwischen uns schweifen ließ. „Jim Rigby also.“ Immer noch lächelte er zuvorkommend und trotzdem zuckte ich unter seinen Worten fast zusammen. Was war das nur für ein Typ? Und Amelie klebte an seiner Seite wie festgeleimt. Nein, dieses Bild gefiel mir ganz und gar nicht. „Ja, wenn Sie grade gehen wollten, dann kann ich Sie sicher nicht aufhalten. Guten Tag!“, reichte er mir eine kühle trockene Hand, zog Amelie mit sich in die Höhle und klappte die Tür zu, ehe ich die Gelegenheit hatte, mich entweder weiter zu erklären oder
wenigstens von Amelie zu verabschieden. Da ich ein Stück zurücktreten musste, um der Tür auszuweichen, stand ich nun im Regen, bemerkte es aber erst nach einigen Minuten. Zu sehr war ich irritiert von dem, was sich gerade abgespielt hatte. Nass bis auf die Haut, setzte ich mich in mein Auto und starrte noch einige Minuten auf das Gebäude vor mir, konnte noch immer nicht begreifen, was da eben vor sich gegangen war. Zudem bemerkte ich erst zu diesem Zeitpunkt den durchgeweichten Brief der Versicherung, den ich noch immer in der Hand hielt. Wütend warf ich ihn auf den
Beifahrersitz und fixierte immer noch die Mauern der Villa, mit dem dringenden Bedürfnis, durch diese in das Innere schauen zu können. Irgendwann hatte ich das Grundstück mit einem mächtig mulmigen Gefühl verlassen. Wenn mir auch zu der Zeit schon klar war, dass ich dieses Viertel nicht noch einmal aufsuchen würde, wusste ich dennoch genau, dass ich versuchen musste, Kontakt zu Amelie aufzunehmen. Mein Instinkt sagte mir, dass es ihr nicht gut ging und wenn er mir auch gleichzeitig zuflüsterte, dass mich das alles überhaupt nichts anging, forderte mich mein Gefühl geradezu auf,
mich um diese Frau zu kümmern. Sie war mir nicht egal und dass es ein Problem gab, war fast offensichtlich. Es war die Frage des Hin- oder Wegsehens, die man oft in wenigen Augenblicken für sich entscheiden musste. Es ist eine Sache, etwas zu beobachten, aber eine ganz andere, einzuschreiten und sich einzumischen. Bei Amelie war es nur diese mulmige Gefühl, das mich schon bei unserem ersten Treffen befiel, aber der Umstand, dass ich sie kannte, führte dazu, dass ich nicht lange zögerte. Ganz nebenbei musste auch noch diese lästige Versicherungs-Angelegenheit geklärt werden.
Ich wusste, dass sie regelmäßig ihren Vater besuchte, also war mir bekannt, wo ich sie mit ziemlicher Sicherheit und einiger Geduld antreffen würde. Etwas sagte mir, dass Amelies Mann sie ganz bestimmt nicht dorthin begleiten würde. Schon am Samstag, zwei Tage nach der merkwürdigen Begebenheit, saß ich wie ein Stalker in meinem Auto und wartete in der Nähe ihres Elternhauses auf sie. Unter scheinheiligen Gründen hatte ich ein Treffen mit Otis abgesagt, um mich vor diesem bunten Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite wie ein Wachposten aufzubauen. Von Dekoration und Ästhetik hatte ich etwa so viel Ahnung, wie als Sportlehrer
vom Handarbeitsunterricht, aber je länger ich mir das Haus, in dem Amelies Vater wohnte, an diesem Nachmittag anschaute, umso besser gefiel es mir. Es war so einfach und schlicht und doch liebevoll dekoriert und mit Blumenkästen geschmückt. Ein Haus, in dem man sich sicherlich wohlfühlen konnte und dessen Mauern ganz bestimmt viel zu erzählen hatten. Mir hätte schon gereicht, wenn Amelie mir etwas erzählen würde und tatsächlich hatte ich Glück. Kurz nach sechzehn Uhr, etwa zu der Zeit, als wir drei Wochen zuvor unseren Zusammenstoß hatten, fuhr ihr Auto um die Kurve. Sofort registrierte ich, dass sie allein
kam und atmete erleichter auf, obwohl mich zeitgleich ein schlechtes Gewissen befiel, weil ich ihr dort so auflauerte. Begeistert war sie auch dieses Mal nicht mich zu sehen, aber zumindest waren diese merkwürdigen Gefühle aus ihrem Blick verschwunden. Fast freundlich begrüßte sie mich. „Schon wieder Du, Jim! Was willst Du von mir? Hast Du etwa hier auf mich gewartet?“ Suchend schaute sie sich um und stellte augenscheinlich beruhigt fest, dass wir weit und breit allein auf der Straße standen. Ehe ich antworten konnte, schob sie mich auf das kleine Gartentor zu und von dort auf den schmalen Steinweg. „Geh in den Garten
hinter, ich komme gleich zu Dir, muss nur erst Dad Bescheid sagen, dass ich da bin.“ Verwundert schaute ich ihr hinterher, als sie im Haus verschwand und stand verwirrt und aufgeregt allein in ihrem Garten. Abermals stellte ich fest, dass auch die hintere Haushälfte und der Garten sehr liebevoll und schön angelegt waren. Rundum ein Haus zum Wohlfühlen. In Gedanken vertieft erschrak ich leicht, als ich ihre Stimme vernahm. Sie selbst hatte ich nicht gehört, aber plötzlich stand sie hinter mir. „Also, nimm Platz!“, forderte sie mich auf und schaute sich schuldbewusst lächelnd im Garten um, da keine
Sitzgelegenheit vorhanden war. Nur eine Schaukel bewegte sich ganz leicht im sachten Wind. Nachdem ich mich an der Stelle, an der ich stand, auf einen Begrenzungsstein gesetzt hatte, schaute ich zu, wie sie unsicher zu mir herab blickte und sich dann auf dem schmalen Brett der Schaukel niederließ. Als ich Amelie so auf dem Stückchen Holz sitzen sah, so liebenswert, hilflos, unbeschützt und wehrlos, wusste ich, dass ich diesen Anblick nie wieder in meinem Leben vergessen würde. Schmal war sie und blass, ihre dunklen glatten Haare rahmten ihr Gesicht ein und ihre Augen erzählten in diesem Moment eine ganz eigene, traurige Geschichte.
„Amelie, sag mir, was schief läuft in Deinem Leben“, forderte ich sie leise auf und hoffte so sehr, dass sie mit mir reden würde. © Fliegengitter