Gerade war ich fertig geworden, die einzelnen Teile von Jelia in den Zwischenspalt zu quetschen. Falior wartete draußen auf mich, da er die Umgebung im Auge behalten wollte. Ich fühlte mich nicht sonderlich gut. Nicht weil ich meine Schwester gerade in kleine Stückchen zerhackt hatte, sondern weil mich der Gewissenskonflikt quälte. Tat ich das Richtige? War ich bereit mein Leben in diese Richtung zu steuern? Was hieß es schon eine Valdir zu sein? Schnell schüttelte ich die Gedanken wieder ab und schloss die Lücke im Boden mit der dafür vorgesehenen Diele.
Es war geschehen. Nichts konnte das jetzt ändern. Ich konnte es kaum erwarten mit Falior wieder zurück zu kehren und mir den Respekt vom Anführer wieder zu gewinnen. Viele Fragen hatten sich mir auf dieser Reise aufgetan und natürlich würde er sie mir nur beantworten, wenn ich auf seiner Seite stand. Durch einen lauten Aufschrei wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. War das Falior? Hastig machte ich mich daran aus dem Häuschen zu verschwinden. Ich war nicht einmal aus der Tür, als mir Falior geradlinig entgegen kam. Durch die Dunkelheit konnte ich seinen Blick kaum deuten. Er war so anders, als sonst, so erschreckend -
ängstlich. „Was ist passiert?“, wollte ich von ihm wissen und hielt ihn fest bei den Schultern, damit er mir nicht entkommen konnte. „Draußen tut sich so einiges. Ich glaube ich habe einen Geist gesehen? Aber Geister gibt es nicht!“, redete er so schnell, dass ich den Zusammenhang kaum wahrnehmen konnte. Was redete er da von Geistern? War er verrückt geworden? Ich meine nach der Bewusstlosigkeit war er mir schon etwas sonderbar vorgekommen, aber dass er jetzt halluzinierte, das war mir vollkommen fremd. Und außerdem war er ein Valdir. Er sollte nicht einmal vor angeblichen Geistern Angst haben. Vielleicht ist er ja doch nicht so stark wie er sich das immer
dachte? „Rede keinen Unsinn!“, fauchte ich ihn an, „Es gibt keine Geister, du Vollidiot!“ „Dann sieh doch selber nach! Es hat mich sogar schon angegriffen“, stammelte der eigentlich so starke Mann weiter, „Es ist direkt durch mich hindurch geflogen. Mich schauderte es. Ich… Ich… hab Dinge gesehen, die… die…“ Er ließ sich zu Boden fallen. Anscheinend konnte er seinen Satz nicht mehr zu Ende bringen. Ich schüttelte entrüstet über seinen Zustand den Kopf. Er war offensichtlich wirklich nicht mehr ganz richtig. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Furchtlos blickte ich Richtung Tür. Ich musste mich selber überzeugen, ob seine Geschichte wahr war.
Doch warum sollte er lügen, kam es mir in den Sinn. Draußen hörte man plötzlich einen lauten Knall. Falior schreckte zusammen. Er war nicht mehr wieder zu erkennen. Mich fachte der ohrenbetäubende Schlag nur an, ins Freie zu gehen und mich dem Gegner zu stellen. Egal wer oder was es war. Schritt für Schritt bahnte ich mich zur Hüttentür, als ein weiterer grober Ton ertönte. Jetzt war ich hellwach. Ich war neugierig und mein Valdirinstinkt sagte mir, dass da draußen etwas auf mich wartete, dass ich leicht bezwingen konnte. Geist? Wer glaubte schon an Geister. Eine Valdir glaubte ganz alleine an sich selbst. Um den außerhalb kommenden Gefahren auch
ein Überraschungsmoment zu bieten, schlug ich mit aller Kraft die Tür auf, die auf der anderen Seite von der Wand abgeprallt wurde und etwas aus den Angeln sprang. Mit einem Blick hatte ich die Umgebung gescannt. Es war noch immer stock dunkel, ein paar Nebelfäden liefen über den Platz vor dem Hüttchen. Es schien wieder alles ruhig zu sein. Nochmals ließ ich mein Auge über die Umgebung wandern. Da fiel es mir plötzlich auf. Ein Schatten hatte sich in den Gebüschen bewegt. Er war so groß, dass er von einem Hirsch stammen könnte, doch die Umrisse passten nicht solch einem Tier zusammen. Ich fixierte den Punkt und mir war klar, dass der dunkle Schleier sich beobachtet fühlen musste. Ich konnte ihn nicht fliehen lassen. Ich musste
ihn bekommen. Ich musste ihn töten. Meine Mordeslust brach in mir hoch. Er hatte Falior erschreckt und er hatte mir vielleicht beim Töten zu gesehen. Ich konnte keine Zeugen gebrauchen. Nicht nach dem Plan, den ich ausgeheckt hatte. Gerade wollte ich auf den Busch zu stürmen, als ich eine mir bekannte Stimme wahrnahm. „Xanya, bist du das?“ Nein, das konnte nicht sein. Keiner wusste von diesem Versteck außer ich und meine Schwester. Oder hatte sich das so in den Jahren verändert? Vielleicht hatte Jelia das Geheimnis weitergegeben. Natürlich, ich war doch nicht mehr für sie da. Jetzt musste sie sich einer neuen Vertrauensperson anschließen. Und wer, wen nicht
er. „Koro?“, so fragend hatte ich noch nie einen Namen genannt. Mein Bruder. Schon so lange hatte ich nichts mehr von ihm gehört, ihn geschweige denn gesehen. Die Familienzusammenführung machte mich fertig, vor allem, da ich gerade unsere kleine Schwester begraben hatte und er dies sicher mit verfolgt hatte. Kaum als ich mich versah, flog er aus seinem Versteck und direkt auf mich zu. Ich konnte in der Dunkelheit nur seine Umrisse erkennen. Er war groß und muskulös. Kräftiger als ich ihn in Erinnerung hatte. Seine langen Haare flogen im Wind, welches der Sprung verursacht hatte, nach hinten. Doch warum griff er mich an? Ich war doch seine
Schwester. Die Schwester, die sein kleines Geschwisterchen gerade am Gewissen hatte. Okay, vielleicht konnte ich es doch verstehen. All diese Gedanken machten sich in mir breit, während Koro auf mich zu schoss. Meine Valdirausbildung erlaubte es mir viele Sinne gleichzeitig zu erfassen. Langsam bereitete ich mich in Kampfstellung vor. Ich wollte gegen meinen Bruder nicht kämpfen. Ich hatte schon genug Gewissenkonflikte wegen Jelia. Da brauchte ich nicht noch ein totes Familienmitglied. Oder musste ich meine Tarnung aufgeben? Aber was, wenn Falior davon Wind bekam? Ich musste versuchen ruhig zu bleiben. Ich weiß, als Valdir war es schwer, aber mein
Bruder machte die Sache jetzt doch etwas kompliziert. Nein, ich musste zu meinen Plan stehen. Es half alles nichts. „Du hast Jelia umgebracht! Was bist du für eine Schwester?“, seine Stimme klang ganz und gar nicht wie von einem starken Mann. Ich konnte seine Trauer heraushören. Ich konnte seine Tränen spüren, die seine Wangen hinab liefen. Ich konnte seinen Hass fühlen, den er mir gegenüber brachte. Ich konnte ihn in all diesen Dingen so gut verstehen. Eine Valdir verstand so etwas aber nicht. Eine Valdir tötete. Eine Valdir war böse. Also musste auch er jetzt daran
glauben.