„Beth, jetzt komm endlich!“, schrie Ella nach ihrer kleinen Schwester. Es war der erste Schultag und so wie an jeden solcher Tage wartete Ella im Vorzimmer vor der Treppe auf die sich immer zeitlassende Bethany Adams. Manche fanden, dass Beth vielleicht ein bisschen eingebildet wirkte, denn sie musste jeden Tag perfekt aussehen. Nicht um Jungs zu beeindrucken, nein, sondern um Lexi zu gefallen und zu hoffen, dass sie irgendwann das Privileg bekam, in die populärste Gruppe der ganzen Schule aufgenommen zu werden. Doch bislang waren ihre Versuche
erfolglos. Lexi ignorierte Beth regelrecht, was zufolge hatte, dass sich Beth nur noch mehr anstrengte. „Wir wohnen direkt neben der Schule, Ella. Da kommt es um ein, zwei Minuten nicht an“, antwortete Beth, die deshalb am Gang im 1. Stock kurz inne hielt. Kurz darauf hörte man wieder das Eilen von Stöckelschuhen von einem Zimmer ins nächste. „Aber je früher wir da sind desto bessere Plätze können wir uns aussuchen“, argumentierte die ältere Schwester, die etwas ärgerlich näher zum Treppenaufgang stürmte. Ella konnte sich in den letzten Jahren immer weniger vorstellen, dass sie und
Beth von den gleichen Eltern gezeugt wurden. So gern sie ihre jüngere Schwester auch mochte, so froh war sie nach der High School aufs College zu gehen und dadurch Beth nicht mehr vor ihrer eigenen Dummheit beschützen zu müssen. Wie konnte eine Person nur so naiv sein? Nichts was Beth tat oder sagte, zeugte von Intelligenz oder Verstand. Die beiden Schwestern waren so verschieden. So wie Wasser und Land. So wie Apfel und Birne oder Leder und Seide. Instinktiv zog sich Ella ihre Jacke zurecht, die sie schon seit drei Jahren hatte. Die Jacke war dunkelbraun, aus Leder und geschmückt mit goldenen
Reißverschlüssen. Darunter hatte sie wieder ein zu großes T-Shirt an und eine dunkle Jeans, die an den Knien Löcher aufwies. Ihre Haare hatte sie heute etwas mehr gekämmt, was man durch ihre natürliche Dauerwelle jedoch nicht bemerkte. Auf den Rücken war ihr säuberlich gewaschener roter Rucksack befestigt, der so schwer aussah, als ob sie zehn dicke Wälzer darin versteckt hatte. Unruhig fing Ella an vor der Treppe auf und ab zu gehen. „Die erste Reihe bleibt immer für dich frei. Jeder normale Mensch will dort nicht sitzen“, konterte Beth wieder, als sie im Gang zwischen Zimmer und Bad
stand. „Was machst du dort oben überhaupt?“, fragte Ella jetzt und blieb stehen. „Mädchensachen, Ella, das verstehst du nicht!“, kicherte Beth und ging wieder ins Badezimmer. „Okay, jetzt reicht‘s! Bethany Antonia Adams, wenn du jetzt nicht sofort herunter kommst, geh ich ohne dich!“, drohte Ella ihrer kleinen Schwester, wie es ihre Mutter, wenn sie böse auf Beth war, immer tat. „Jetzt hab ich aber Angst“, kam es nur von oben in einem sarkastischen Ton. So wie immer funktionierte die „Mutter-bedroh-Nummer“ nicht. Wütend schnaufte Ella aus und ging in großen Schritten auf
die Eingangstür zu. Beth konnte in manchen Dingen so nervig sein. Von Pünktlichkeit bis hin zu ihrem Benehmen war sie der reinste Albtraum. Warum Jay so etwas gut fand, war für Ella noch immer ein Rätsel. Trotz der Bemühungen der Älteren für Beth ein Vorbild zu sein, half alles nichts. Beth hatte ihren eigenen Kopf und wieder fragte sich Ella ob sie überhaupt wirklich Schwestern waren. Ella war an der großen aus heller Eiche bestehenden Haustür angekommen. Wenn sie es unbedingt wollte, dann sollte sie doch alleine zur Schule laufen. Die Ältere wollte um nichts auf der Welt nur eine Sekunde in der Schule verpassen und vor
allem ihren heißersehnten Platz in der ersten Reihe nicht verlieren. Geräuschvoll öffnete sie die Haustür, als sie ihre Schwester mit hastigen Schritten die Treppe herunterlaufen hörte. „Warte, Ella! Ich bin schon fertig!“, rief Beth ihr eilig nach und bog um die Treppenecke, von der aus man die Haustür sehen konnte. Ella schlug die Haustür wieder zu, was dazu führte, dass Beth abrupt stehen blieb und in das ungläubige, zusammen gekniffene Gesicht von Ella blickte. „Ist was? Hab ich etwas im Gesicht?“, fragte Beth und holte aus ihrer bunten, modernen und mit Buttons verzierten Umhängetasche einen kleinen
Klappspiegel heraus, um etwaige Unerwünschtheiten in ihrem Gesicht zu erspähen. Ohne Erfolg. „Was hast du da an?“, stellte die Ältere die Frage und zog spielerisch eine Augenbraue hoch. Beth blickte verwundert an sich herunter. Sie hatte ein rosarotes enges schulterfreies Top an, darüber einen kurzärmligen schwarzen Bolero, welches mit silbernen Glitzersteinen geschmückt war die auf dem Rücken sogar Engelsflügeln bildeten. Einen Jeansrock der am Ende etwas ausgefranzt und so kurz war, dass man die hellblauen Hosensäcke herausblicken sah und hohe schwarze offene Sandalen, die man mit
Schnüren bis zu den Knien herauf binden konnte. Ihre blonden langen Haare waren wieder einmal aalglatt und umschmückten ihr mit Makeup versetztes Gesicht perfekt. „Kleidung?“, erwiderte Beth lustig. Ella schüttelte augenrollenden den Kopf. Wie konnte man sich nur so kleiden? Es sah ihrer Meinung nach nicht nur billig, sondern auch total geschmacklos aus. Einen kurzen Moment fragte Ella sich, warum sie nicht einfach alleine losgegangen war, dann hätte sie sich diesen Anblick erspart. „Das weiß ich auch, aber welche? Willst du wirklich so zur Schule gehen?“, fragte
Ella. „Natürlich!“, antwortete Beth grinsend, dann betrachtete sie ihre Schwester genauer, „Und du? Willst du „so“ zur Schule gehen?“ „So seh‘ ich immer aus!“, reagierte Ella gereizt, dass man ihren Kleidungsstil als fragwürdig bezeichnete. „Wie du meinst“, redete Beth und zuckte kurz mit den Schultern, „Wollten wir nicht gehen?“ Wie immer machte sie sich nichts aus Ella. Hauptsache sie war der Mittelpunkt und gewann jede Situation für sich. Knurrend öffnete Ella die Haustür ein zweites Mal und ging als erstes nach draußen. Beth schlenderte ihr lachend
hinterher, noch einmal überlegend, ob ihr Outfit wirklich die richtige Wahl war. Es war ein sonniger Tag in New Castle. Trotzdem ließen die Temperaturen zu wünschen übrig und so gingen die beiden Schwestern nicht einmal dreißig Schritte zum großen Areal der Schule, während Beth sich immer wieder wärmend selbstumarmte. Kaum waren die beiden dort angekommen, bemerkte Ella wie sich Beth immer mehr von ihr entfernte. Ein kurzes und leises „Wir sehen uns in der Pause“ ließ Ella zu verstehen geben, dass ihre Anwesenheit um Beth nicht mehr erwünscht war und sie nach ihren Freunden zu suchen begann, die eigentlich in Ellas Klasse
gingen. Das Schulgebäude mochte von außen recht groß wirken, jedoch beherbergte es nur zwei Stockwerke. Es war im altgriechischen Stil gebaut und hatte jede Menge Säulen, die das Haus stützten. Große Fenster ließen das Prachtwerk noch edler aussehen und so war es auch im Inneren nie zu dunkel, was Ella besonders an ihrer Schule gefiel. Mit schnellen Schritten bog sie am Haupteingangsweg des Areals ein und befand sich auf dem Vorplatz der Schule. Die Wege auf der eher kleinen Fläche waren liebevoll mit Blumen und Sträuchern umringt worden. Grüne Grasflächen mit kleinen Bäumen, die an
sonnigen Tagen Schatten spendeten, luden zum relaxen ein. In der Mitte des Platzes und nur einige Meter vom Gebäudeeingang entfernt stand ein großer Springbrunnen, der ebenfalls mit Blumentöpfen eingekreist war. An diesem Ort wartete Ella gern auf Jays Eintreffen. Jedoch konnte sie sich das heute sparen. Trotzdem stand sie ungeduldig vor dem wasserspeienden Ding, um auf Jays Freunde zu warten. Speziell auf Finn, der die meisten Fächer mit ihr gemeinsam hatte. Auch wenn sie wusste, dass sie nur durch Jay in der Gruppe anerkannt wurde und sie die vier nicht als gute oder beste Freunde bezeichnen konnte, wartete sie
nichtsdestotrotz auf die Jungs. Währenddessen sah sie sich etwas um. Das machte sie immer, um die Warterei zu beschleunigen und um auf alles vorbereitet zu sein. Gleich im ersten Moment fiel ihr auf, dass sie definitiv mit ihrer Kleidung herausstach. Alle anderen Mädels hatte entweder luftige Kleidchen mit dünnen Jäckchen oder hautenge Jeans mit T-Shirts, die ihnen nicht zu groß waren, an. Auch hatte sie die populärste weibliche Gruppe erspäht, die Gott sei Dank weit links von ihr auf einem der Tische, die zum Außenbereich der Cafeteria gehörten, Platz genommen hatten und eine hitzige Diskussion ausfocht. Sowie Ella das beurteilen
konnte, redeten allerdings nur Lexi und Jessica miteinander. Durch das wilde gestikulieren von der Anführerin war Ella doch etwas neugierig geworden. Normalerweise kannte man dieses aufgeregte Verhalten von der reichen Tochter eines Hotelmanagers überhaupt nicht. Kurz darauf erblickte sie Beth, die mit zögernder Miene nur ein paar Meter weit von der coolen Clique entfernt war. Es wäre Selbstmord auch nur zu denken, in solch einer Situation Lexi anzusprechen. Ella betete dafür, dass Beth es nicht tat und zu ihrer Erleichterung wurde ihre jüngere Schwester von Ava, ihrer besten Freundin, weggezogen.
Noch immer darüber nachdenkend was Lexi so in Rasche versetzte, umrundete sie einmal den Springbrunnen und hielt nach Finn Ausschau. Plötzlich hörte sie das Spielen lauter Musik aus einem Autoradio, das immer näher kam. Kurz darauf ein Quietschen von Reifen, das zu einem schwarzen Cabrio gehörte und um die Ecke in den Parkplatz der Schule bog, der sich gleich rechts von ihr befand. Auch die anderen Schüler blickten sich gespannt nach dem Fahrzeug um, wobei jeder wusste, von wem er gelenkt wurde. Der Motor und die Musik wurden abgestellt und aus dem Auto stieg unweigerlich der männliche
reiche Zwilling mit seinem Anhang. Man konnte sehen, wie der Weg für die Drei freigemacht wurde und auch Ella versteckte sich etwas hinter dem Brunnen, als die Gang, nicht einmal in der Nähe von ihr, an ihr vorbei ins Gebäude ging. Auch wenn solch eine Szene fast jeden Tag standfand, hatte Ella ein ungutes Gefühl im Bauch. Hatte sie sich das nur eingebildet oder war die Miene von Zake Hastings heute noch griesgrämiger als sonst gewesen? Außerdem kamen keine coolen Sprüche von seinem Gefolge, während sie den Weg entlang zur Eingangstür gingen. Sie sahen ebenso miesgelaunt wie ihr Anführer aus. Irgendetwas war da im Busch, dem war
sich Ella ganz sicher. Ihre Vermutung wurde auch noch bestärkt, als Lexi, die die Anwesenheit ihres Bruders auch bemerkt hatte, aufsprang. Gefolgt von ihren „Untertanen“ ging sie in schnellen Schritten durch die offene Tür der Cafeteria ins Innere der Schule. Perplex von dieser Situation fiel es Ella nicht auf, dass ihre Schwester in genauso schnellem Gang, dem weiblichen Zwilling folgte. Als sie, die eher untypisch für ein Mädchen war, sich ein weiteres Mal umblickte, erspähte sie endlich das Ankommen ihrer gewünschten Clique. „Hey Ella!“, begrüßte O’Murphy sie und
fragte darauf gleich nach Jays Befinden, „Wie geht’s dem alten Knaben? Hast du heute schon etwas von ihm gehört?“ „Hey..“, sagte Ella nur leise und blickte schüchtern zu Boden, „N.. Nein.“ „Vielleicht schläft er noch!“, brachte sich Aaron in das Gespräch ein, „Ich würde schlafen, wenn ich keine Schule hätte. Es ist kurz vor acht. Da würde jeder noch schlafen, der nicht auf müsste.“ Augenzwinkernd stieß er gespielt Hunt mit dem Ellbogen an, der dadurch nur einen bösen Blick von dem Gestoßenen kassierte. Hunt war es noch immer unangenehm einen seiner besten Freunde wehgetan zu haben. Da Grußworte und ein kurzes ‚alles
klar?‘ ausgetauscht wurden, breitete sich auf einmal eine peinliche Stille aus, die nur durch Finns Aufforderung, in die Schule zu gehen, unterbrochen wurde. Ella wusste, warum das so war. Mit Finn oder O’Murphy hatte sie, wenn sie alleine waren kein Problem. In diesen recht seltenen Momenten stotterte sie auch kaum oder bekam einen roten Kopf. Jedoch war sie von Hunts Seite aus, ein Dorn im Auge der Gruppe und da sie auch keine Witze von Aaron verstand oder verstehen wollte und seine gespielte Dämlichkeit auch eher ablehnte, war sie aus diesem Grund auch auf Aaron nicht gut zu sprechen. Darum kam es immer wieder zu
Momenten in der Gruppe, bei denen sie dabei war, wo niemand etwas sagte, um nicht den ein oder anderen auszuschließen. Meistens regelte Jay solche Situationen, doch diesmal war es Finn.
Ella nickte Finn zu und zusammen gingen sie an vorderster Front in die Schule.