Wie ein Wirbelwind raste das kleine, zierliche Mädchen in die Eingangshalle des örtlichen Krankenhauses. Ihre dunkelblonden Haare waren heute noch zerzauster als sonst und standen in allen erdenklichen Richtungen von ihrem Kopf ab. Sie trug eine schwarze große Nerdbrille, die, wie sie meinte, zurzeit der größte Schrei war. Normalerweise sah sie sehr gut, darum befand sich in den Fassungen nur Fensterglas. Abgesehen von ihrer falschen Sehhilfe fiel auch ihr restlicher Kleidungsstil deutlich auf. Sie trug ausschließlich Hosen. Und dann auch nicht etwa
hellblaue oder weiße, nur dunkle oder schwarze. Enganliegende Sachen wurden aus ihrem Kleiderschrank verbannt und so hatte sie meist, wie auch heute wieder, nur ein schlabbriges Männer T-Shirt an, das sie von Jay geschenkt bekommen hatte. Es war ihm zu klein geworden, aber für sie war es immer noch mehr als groß genug. Sie hastete direkt auf den Empfangsschalter zu, ohne auf ihre restliche Umgebung zu achten. Ruckartig kam sie kurz vor dem Tresen zum Stehen, schob ein paar widerspenstige Haarsträhnen aus ihrem Gesicht und holte tief Luft, bevor sie zu sprechen begann. Doch ihre Stimme war wie immer kaum
zu hören. „Guten Tag! Ich heiße Ella Adams und möchte gerne zu meinem besten Freund!“ Der ganze Elan war auf einmal verflogen und so stand sie nun zaghaft vor der Dame, die hinter dem Tresen saß und sie nur mit großen, verständnislosen Augen ansah. Sie hatte kein Wort verstanden. Wieso musste Ellas Nervosität immer in den unpassendsten Momenten auftauchen? Sie wusste, dass sie eine Angst gegenüber fremden Menschen entwickelt hatte, dennoch war diese Frau doch nur jemand, der ihr Informationen geben würde. „Na du bist mir eine, rennst durch die Tür, als würde es brennen und dann kriegst du keinen Ton heraus. Was
möchtest du denn nun?“ fragte die Empfangsdame verwundert und löste sich aus ihrer Starre. „Ich… Ich…“, stotterte Ella und fand die Worte nicht, die sie gerade suchte. Mit hochrotem Kopf wünschte sie sich, dass die Erde sich auftun und sie verschlucken würde. Dieser Auftritt war die reinste Blamage. Mit ihren 16 Jahren musste man doch normal mit einer fremden Person reden können. Doch für Ella war es das Schlimmste überhaupt. Generell lebte sie gern in ihrer eigenen Welt, zeichnete oder lernte. Die einzige Vertrauensperson, außer ihren Eltern, war Jay. Jay, der im Krankenhaus lag und
sicherlich auf ihre Ankunft wartete. „Nun, verrat mir noch einmal deinen Namen“, sprach die Rezeptionistin mit Ella, als ob sie ein Kleinkind vor sich hätte. Auch wenn man es als gute Geste ansehen konnte, lief Ellas Kopf nur noch roter an. Das alles war so schrecklich peinlich! „Ella Adams“, antwortete das Mädchen, wenngleich mit derselben Lautstärke wie zuvor. Die Frau hinter dem Schalter lächelte. „Und du suchst wen?“ „Jayden James.“ „Ich sehe sofort für dich in der Kartei nach. Setzt dich doch bis dahin auf einen der Stühle dort vorn. Es könnte ein
bisschen dauern, da unser System gerade erneuert wird“, erwiderte die Dame wieder langsam und deutlich, sodass sich Ella ein weiteres Mal unendlich dumm vorkam. Als die Empfangsdame sich dann zu ihrem Computer umdrehte, entfernte sich auch Ella vom Tresen und atmete schwer aus. Sie musste diese Eigenschaft unbedingt loswerden, wenn sie an einer Universität bestehen wollte. Ihr Traum war es nach Harvard zu gehen, um dort Medizin zu studieren. Das hatte sie noch keinem gesagt, weil sie Angst hatte jemand würde zu ihr sagen, dass sie es dort sowieso nicht schaffen könnte. Bis jetzt waren ihre Noten dafür aber perfekt. Trotzt
ihrer ruhigen und stillen Art konnte sie ihre Lehrer mit dem Fleiß und den zusätzlichen Aufgaben von sich überzeugen. Auch wusste sie immer auf jede Frage, die sie ihr stellten, die passende Antwort. Das Komische daran war, dass, wenn sie wusste, was sie sagen musste, ihre Stimme nicht ganz so leise war. Der einzig negative Punkt war, dass sie keinen außerschulischen Aktivitäten nachging. Obwohl sie sich dieses Jahr vorgenommen hatte an einen Kunstkurs teilzunehmen. Allerdings befürchtete sie, dass sie die Freude am Malen verlieren könnte, wenn ihre Bilder zu sehr kritisiert werden würden. Außerdem hegte sie wie
immer Selbstzweifel. Waren ihre Zeichnungen überhaupt vorzeigbar? Noch dazu war Zake Hastings in dem Kurs und Ella wollte ein Zusammentreffen mit den Zwillingen unbedingt vermeiden. Auf Grund ihres Aussehens wäre sie ein gefundenes Fressen für die beiden, vor allem für Lexi. Langsam ging sie auf die eisernen Wartestühle zu, die schon von Weitem viel zu unbequem aussahen. Kaum angekommen war sich Ella sicher, dass sie sich auf keinen Fall auf dem kalten Stahl hinsetzen würde. So betrachtete sie die Eingangshalle genauer. Rechts von ihr befanden sich zwei
Aufzüge, die zu den oberen Stockwerken führten, sowie eine Treppe, die höchstwahrscheinlich dasselbe Ziel verfolgte. Auf der anderen Seite führten verschiedene Gänge weg, wobei man diese kaum wahrnehmen konnte, da Menschenmaßen hin und her liefen. Ella beobachtete vor allem die Ärzte, die mit ihren weißen Roben herausstachen. Eine blonde Ärztin war gerade dabei mit einer Familie zu sprechen. In der Hand hatte sie ein hellblaues Klemmbrett in das sie unentwegt hineinblickte. Im selben Moment, in dem sich Ella die gläserne Eingangsfront genauer ansehen wollte, rief die Frau am Schalter sie wieder zu sich. Die Peinlichkeit wieder
angefacht, schritt sie schüchtern zurück zum Tresen, ihre Hände in den Hosentaschen vergraben. „Dein Freund befindet sich im zweiten Stock, Zimmer 11, aber mach dir keine Sorgen, so schlimm steht es nicht um ihn“, gab die Dame zwinkernd ihre Informationen an Ella weiter und schrieb etwas auf einen Zettel. Danach gab sie Ella das beschriebene Blatt und wies sie in Richtung der Fahrstühle. Anscheinend hielt die Rezeptionistin Ella für richtig bescheuert, denn auf dem Papier stand nochmals das Stockwerk und die Zimmernummer von Jay. Mit einem schüchternen Nicken bedankte sich das
Mädchen und ging zum Lift. Genervt von ihrem Auftreten und der kindlichen Konversation schlug sie regelrecht auf den Knopf um die Türen des Aufzugs zu öffnen. Sie war so sauer auf sich selbst und in Gedanken versunken, dass Ella nicht bemerkte, wie die Fahrstuhltür aufging und sich der ankommende Fahrstuhl zusätzlich noch durch einen Piepton bemerkbar machte. „Möchtest du nicht rein?“, holte eine tiefe, männliche Stimme sie aus ihrer Welt in die Realität zurück. Perplex sah sie auf und starrte in zwei hellbraune, wunderschöne Augen. Diesen Jungen hatte sie noch nie in New Castle gesehen. Er trug kurze beige
Bermudashorts und ein dunkelblaues T-Shirt mit einer weißen unleserlichen Schrift darauf. Mit Leichtigkeit hielt er die Tür auf, die sich immer wieder schließen wollte. „S.. S.. Sicher!“, stotterte Ella und betrat den Lift ohne ihren Blick von dem Jungen lassen zu können. Mit einem Lächeln ließ er die Tür los, die sich daraufhin langsam zu schließen begann. Danach schlenderte er in Richtung Ausgang. „Danke!“, schrie das gebannte Mädchen dem jungen Mann nach, der abschließend nur die Hand hob. Selbstkritisch fluchte sie leise. Sie konnte doch nicht durch die ganze
Eingangshalle schreien. Selbst die Empfangsdame hatte sie gehört und lachte laut auf, da sich Ellas Stimmlage doch erheben konnte. Das hatte wohl niemand erwartet. Die Fahrstuhltür schloss sich ganz und der Aufzug fuhr nach oben. Durch die aufkommenden Sorgen um Jay, verschwanden die Gedanken an den fremden hübschen Liftjungen und die blamablen Gefühle plötzlich wieder. Zimmer 11 befand sich ganz hinten im Gang, der nach rechts wegführte. Schüchtern klopfte sie an die Patiententür und öffnete sie daraufhin unbemerkt. Im Zimmer standen vier Betten, zwei auf jeder Seite. An der großen Fensterfront
gegenüber dem Eingang sah Ella einen kleinen Tisch mit vier Sesseln auf dem ein Krug mit Wasser und Gläser platziert waren. Zu Ellas großer Freude bemerkte sie erst jetzt, dass nur ein Bett im Raum belegt war. Keine weiteren unbekannten Personen. Anscheinend waren die anderen Patienten ausgeflogen oder die Plätze waren sowieso leer. Beunruhigt, ob es ihrem Freund auch wirklich gut ging, schlenderte Ella auf das besetzte Bett zu, dass sich gleich neben dem Fenster befand. Jay hatte die Anwesenheit seiner besten Freundin nicht einmal bemerkt, da er gedankenverloren das Äußere der Glasscheibe betrachtete. „Gott sei Dank, du hast keinen Gips“,
meldete sich Ella zu Wort und blickte auf Jays einbandagierten Fuß. Jay schreckte hoch und drehte sich blitzartig zu Ella um. Seine Freunde waren schon wieder gegangen, jedoch hatten sie versprochen am Abend noch einmal vorbeizuschauen. Hunt hatte sich noch zigmal für sein brutales Verhalten entschuldigt, während Finn ihm für jedes Mal einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben hatte. O’Murphy hatte die ganze Zeit nur davon geschwärmt, wie schön es wäre verletzt zu sein, da man mit einem Gipsfuß sicherlich gut bei den Mädels ankam. Unterdessen hatte sich Aaron Sorgen gemacht, ob die Verletzung von Jay tödlich sein
könnte. Im Großen und Ganzen war ihr angeschlagener Spielkollege froh gewesen, als die Gruppe das Zimmer wieder verlassen hatte. „Ella! Du hast mich aber erschreckt!“, gab Jay als Antwort zurück und zog im selben Moment instinktiv seine Bettdecke hoch. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht umarmte sie Jay umständlich und setzte sich danach auf die Bettkante zu ihm. „Du brauchst dich doch nicht zu schämen, Jay. Manche Mädels würden Luftsprünge machen, wenn sie mehr von deinen Körper zu Gesicht bekommen würden!“ „Das kann ich nur zurück geben!“,
konterte der angeschlagene Fußballer und schubste Ella liebevoll, „Mit Jungs, mein ich natürlich.“ „He, ich fühl mich wohl in meiner Haut, so wie ich bin.“ „Selbstverständlich und wieso redest du dann nur mit mir normal und bei anderen m… mu… musst d… du st… sto… stottern?“, wollte Jay wissen und spielte die schüchterne Ella nach. Um seine Performance noch zu unterstreichen legte er verlegen eine Hand in den Schoß und mit der anderen spielte er an seinen imaginären langen Haaren. „Hast du mich eben belauscht?“, fragte Ella unglaubwürdig. „Wie hätte ich das anstellen sollen?“,
stellte Jay die Gegenfrage und zeigte auf seinen verletzten Fuß. „Aber…?“ „Ich kenne dich eben, El!“ „Nenn mich nicht so!“, sagte Ella gereizt und fing an ihren Freund unbefangen locker zu boxen. „Du schlägst wie ein Mädchen“, provozierte der Junge seine Freundin weiter. „Ich bin auch ein Mädchen!“ „So siehst du mir aber nicht aus.“ Plötzlich ließ Ella von ihm ab: „Das war gemein.“ Sie wusste, dass sie nicht das typische weibliche Wesen war, jedoch war es hart so etwas von ihrem besten Freund zu
hören. Traurig erhob sie sich und ging zum Fenster. Es war ein herrlicher Tag, die Sonne schien und man sah nur vereinzelt kleine Wolken am Himmel. „Das hab ich ja nicht so gemeint. Es tut mir leid!“, entschuldigte sich Jay bei ihr, „Wenn ich jetzt aufstehen könnte, würde ich zu dir kommen und dich umarmen.“ Jay neckte Ella des Öfteren, allerdings vergaß er immer wieder ihren wunden Punkt, was schon häufig zu Tränen geführt hatte. „Weißt du was?“, erklärte der Junge, um seine Freundin wieder aufzuheitern, „Du darfst einmal auf meinen Fuß schlagen, dann sind wir wieder Quitt.“ „Das mache ich bestimmt nicht. Ich tue
dir nicht absichtlich weh“, sagte Ella vorwurfsvoll und verschränkte die Hände vor ihrer Brust. Draußen flog gerade ein Vogelschwarm vorbei und landete auf den umstehenden Bäumen. „Ich wollte dir auch nicht absichtlich wehtun. Ella, komm schon. Ich bin dein bester Freund!“, probierte Jay es weiter sich mit Ella wieder gut zu stellen. So wie immer war das schüchterne Mädchen ziemlich nachtragend im Bezug auf manche Aussagen die er machte und so benötigte er überragende Überredungskünste, um das Schiff wieder an Land zu ziehen. Doch diesmal würden diese Sätze für das Ausbleiben einer
Sintflut ausreichen. „Du bist mein einziger Freund!“, sagte Ella betrübt, drehte sich um und sah auf den Boden. „Ich werde auch immer zu dir halten, dass weißt du“, sprach Jay aufmunternd und grinste. Jetzt entkam auch Ella ein Lächeln. Kopfschüttelnd ging sie wieder aufs Bett zu und umarmte ihren besten Freund. Während der lieben Geste ließ es sich Jay jedoch nicht nehmen den nächsten Spruch loszuwerden: „Eigentlich ich bin nur mit dir befreundet, um an deine Schwester ran zu kommen!“ Sekunden später befand er sich wieder im Handgefecht, das allerdings kurz darauf
stoppte, da Ella eine Antwort eingefallen war. „Sie hat sowieso nach dir gefragt.“ „Wirklich?“, wollte Jay freudestrahlend wissen und setzte sich ruckartig ein Stück auf, was allerdings dazu führte, dass er seinen Fuß zu schnell bewegte und er mit schmerzverzerrtem Gesicht aufjaulte. Schon seit einiger Zeit fand er Ellas Schwester hinreißend. Sie hieß Bethany, hatte strahlend grüne Augen und blondes langes glattes Haar. Noch nie hatte Jay sie traurig oder mies gelaunt gesehen. Sie liebte das Leben und das Leben liebte sie, glaubte der Fußballer zumindest. Auch wenn sie ein Jahr jünger als Ella war, fand man sie in den Pausen immer in der
höheren Klasse. Ihre Freundinnen waren zwei Klassenkameradinnen ihrer Schwester, was Ella sehr störte, denn jeder mochte Beth lieber als sie. Als Ella überdies hinaus herausfand, dass ihr bester Freund in Beth verknallt war, war es zu einem großen Krach gekommen. Nach tagelangen Diskussionen hatte sie schließlich beschlossen, Jays Glück nicht im Wege zu stehen, selbst wenn es bedeutete, ihn mit ihrer kleinen Schwester teilen zu müssen. Sie selbst war damit leider alles andere als glücklich, aber bis jetzt hatte Beth sowieso noch kein Interesse an Jay gezeigt. Sie war eher für die populären Jungs zu begeistern. Dass sie nach Jays Befinden fragte, war
allerdings für Jay fast der Anfang einer Liebesgeschichte. „Sag schon, hat sie wirklich gefragt wie es mir geht?“, fragte er ungläubig noch einmal. Ella zog eine Grimasse. „Nein“, sagte sie dann ehrlich, aber schuldbewusst, „Es tut mir leid.“ Deprimiert atmete der Verliebte aus. Er würde sicher nie bei Beth gut ankommen, auch wenn er im Sterben liegen würde, würde sie sich niemals darum Gedanken machen. „Was ist jetzt überhaupt los mit dir? Wie lange musst du hier bleiben?“, erkundigte sich Ella, um schnell das Thema zu
wechseln. Noch immer griesgrämig über die unglückliche Liebe antwortete Jay: „Die Ärzte meinten es wäre nur eine Überdehnung der Bänder. Sie haben einige Tests gemacht, meinen Fuß geröntgt und sind der Meinung, dass ich morgen wieder nach Hause darf. Danach heißt es für mich eine Woche ruhen und keine anstrengenden Bewegungen.“ „Das heißt kein Fußball für den Oberfußballer!“ „Nein, kein Fußball. Allerdings erstaunt es mich, dass du das sagst. Normalerweise hätte kommen müssen…“ „Aber dann versäumst du doch die erste Schulwoche“, beendete Ella Jays Satz,
„Ich weiß.“
Schule ging für Ella über alles. Sie war stets pünktlich, fehlte nie und machte extra Hausaufgaben. Man könnte sie Streber nennen, doch für sie war es einfach nur Ehrgeiz.
„Ich denke in der ersten Schulwoche wirst du nicht allzu viel versäumen. Was wird sich schon ändern gegenüber dem Vorjahr?“, nahm Ella an und wusste noch nicht, dass dieses Jahr alles anders verlaufen würde.