Das Hoffest
„Den soll doch der Blitz beim Scheißen treffen!“
Melanie war außer sich.
„So was sagt man nicht, Kindchen!“
Während Oma Bärbel ihre Enkelin zur Vernunft rief, vergrub ich mich in dem Berg von Apfelschalen vor mir, damit mich die beiden Frauen aus diesem Gespräch heraushielten.
„Am liebsten würde ich dem Typen das stille Örtchen unter dem Hintern wegsprengen.“
Irgendwie tat mir das männliche Individuum, das Ziel ihrer Aggressionen
war, leid. Oma Bärbel nahm sich den nächsten Apfel und begann, diesen seelenruhig seiner Schale zu berauben.
„Und so 'was macht man nicht, Melanie.“
„Du hast recht. Diesen Halsabschneider müsste man stilecht auf dem Marktplatz aufknüpfen. Gut sichtbar und noch besser abgehangen.“
Mir lief es schaurig den Rücken hinunter. Eigentlich wollte ich meiner Freundin nur helfen, das Hoffest ihrer Eltern vorzubereiten, aber einem martialischen Ausbruch beiwohnen zu dürfen, daran hätte ich nie gedacht. Allmählich war mir nicht mehr klar, was dicker zum Schneiden war: Die Äpfel für „Apfelmus mit Reibekuchen“ oder
Melanies Zorn auf den zweiten Organisator der bevorstehenden Veranstaltung.
„Das kannst du nicht machen“, kommentierte Oma Bärbel immer noch in ihrer ruhigen Art. Anscheinend hätte die Welt untergehen können und die weit über achtzig Jahre alte Odenwälderin hätte in der guten Stube gesessen und wäre ihren Vorbereitungen nachgegangen, wie sie es zu jedem Anlass auf dem alten Bauernhof tat.
„Und warum nicht, Oma? Er hat Papa übers Ohr gehauen. Die gesamte staatliche Förderung zur Sanierung des Hofes hat er sich schön in die Taschen gewirtschaftet. Die Eltern werden die
Kredite abbezahlen, bis ich Urgroßmutter bin.“
Die kleine Frau mit der Kittelschürze und den dichten, silbergrauen Haaren sah ihre Enkelin an. „Melanie, das wird nicht passieren. Erstens ist Herr Steinburg dir zu schwer zum Schultern, zweitens willst unser schönes Rathaus mit so einem verunstalten und drittens du musst es erst mal schaffen, mich zur Uhroma zu machen, bevor du es selber wirst.“
Nach dieser logischen Schlussfolgerung biss ich mir auf die Lippen. Allein der Gedanke, meine Freundin würde die zwei Zentner Finanzbestie schultern und unter das Fachwerk wuchten, hatte etwas
von Comedy im Kopfkino. Melanie sah mein Grinsen im Augenwinkel und fand ihre Sprache wieder.
„Luisa, von dir will ich nichts hören. Du hast immerhin 154 Möglichkeiten gefunden, deinen Ex hopps gehen zu lassen.“
Oma Bärbel erhob sich, genau wie eine skeptische Augenbraue, und brachte den Topf zum Herd. Für eine Weile stand sie davor und schien nicht zu wissen, was sie mit dem neuen Induktionsherd anfangen sollte. Mir war fast so, als würde sie ihren alten Elektroherd vermissen.
Die Frau, ein typisches Kind der Nachkriegstage, war in ihrem Pflichtjahr
auf den Bauernhof der Familie Linde gekommen. Der Sohn des Hauses interessierte sich für sie und so kam es, dass sie hier blieb. Ihr ganzes Leben hatte sich immer auf diesem Hof abgespielt. Sie hatte drei Kinder, die großgezogen werden musste, das Vieh, das im Stall stand. Es gab Zeiten der Anbauten von Scheunen und Wohnhäusern und schließlich noch die Schwiegereltern, welche im Alter gepflegt werden mussten. Außer zu ein oder zwei Kaffeefahrten in der Rente hatte Oma Bärbel nie den Odenwald verlassen. Zudem hatte sie vor mehr als zwanzig Jahren ihren Mann beerdigen
müssen.
Melanie trat an sie heran, drückte Oma Bärbel einen Kuss auf die Wange und stellte ihr den Herd ein. Der Hof musste saniert werden und dank eines angeblichen Freundes von Bauer Linde war das Haus neu verdämmt worden, die alte Elektroheizung war herausgeflogen, der Holzofen erneuert und eine Fotovoltaikanlage war auf dem Dach installiert worden. Der Umbau hatte lange gedauert, mehr als ein Jahr war vergangen, und nun sollte das Wiederaufleben des Hofes groß gefeiert werden, symbolhaft für den ökologisch-ökonomischen Aufschwung der Bauernwirtschaft im Odenwaldkreis.
Herr Steinberg hatte sogar den Bürgermeister, die finanzierende Bank und die Presse eingeladen. Wenn es nach Bärbel gehen würde, wäre es die kleine Hofkerb wie jedes Jahr. Würde es nach ihrem Sohn gehen, gäbe es gar kein Fest mehr.
Ich wusste nicht viel über Ökonomisierung und Finanzpläne und Oma Bärbel legte mittlerweile ihre Brille in die Butter und das Gebiss ins Gefrierfach, aber dass der Hof wegen Steinburg kurz vor der Insolvenz stand, war uns vollkommen klar. Vier Generationen Bauernhof Linde würden den Bach hinuntergehen, wegen dieses
Mannes.
Zähneknirschend, dass der Zahnarzt sich freudig die Hände rieb, stand Melanie da und dachte laut: „Wenn ich nur daran denke, wie sich der olle Suffkob morgen Abend wieder volllaufen lässt... Vor ein paar Jahren hat er doch mit dem Vater ein Wettpinkeln veranstaltet. Könnte ihm nicht schaden, wenn das morgen die Presse und die Bank mitbekommen. Oder wie wäre es mit einer Überdosis K.O. Tropfen im Bier? “
Verächtlich verzog ich die Miene. Betrunkene waren mir ein Graus und dieser im speziellen Sinne sowieso.
„Melanie hör auf. Du ruinierst dir dein Leben mit solchem Gewäsch“,
beschwerte sich Oma Bärbel und klang dabei sehr ernst. „Morgen wird vorbei gehen. Irgendwie sind wir doch immer über die Runden gekommen.“
Hier sprach eine Frau, welche ein Leben voller Entbehrungen gelebt hatte. Mir wurde flau im Magen. Ich verstand nicht, wie Oma Bärbel den Herrn Steinburg noch freundlich guten Abend sagen konnte und ihm reichlich Bier einschenkte, wenn er es doch war, welcher ihren Stolz, ihr Leben, ja vielleicht sogar ihr Lebenswerk als fettes Sparschwein zur Schlachtbank führte. Das Hoffest von Melanies Eltern war bekannt und berüchtigt. Für gute Stimmung samt bester odenwälder
Verpflegung: Oma Bärbels berühmte Reibekuchen, Zwetschgenböden vom Blech und saftigen Wildscheinbratwürste. Bauer Linde versuchte sich wie immer an der Gitarre, scheiterte aber jedes Mal an den bereits bekannten Akkorden. Die Presse knipste, der Bürgermeister schwallte seine Reden und die Bank repräsentierte neben einem schon extrem angesäuselten Herrn Steinburg.
Ab diesem Moment der Feier kann ich nur Rekonstruktionen anstellen. Der zweite Gastgeber des Abends stand auf und hatte nicht mehr die Wegsteuer, um irgendwo heil hin zu gelangen, also bot sich die über achtzigjährige Bärbel an,
ihm zu helfen. Es war unglaublich laut und lustig. Sorgen schien es keine zu geben. So wirklich bekam diese Situation niemand mit. Erst in dem Augenblick, in dem die Girlanden ausfielen, die Musik stoppte und das Gelände in gespenstischer Dunkelheit und Stille versank, wussten wir, dass irgendwas geschehen war.
Bauer Linde nahm mich beiseite und wir verließen den Getränkewagen, um nach den Stromleitungen zu sehen. Gerade gingen wir ums Haus. Als Melanies Vater die unruhigen Kühe auf der Weide nahe des Wohnhauses bemerkte, kam Oma Bärbel aus der Richtung der alten Hauptstromversorgung. Sie wischte sich
an der Kittelschürze die Hände und lächelte. Im Gegensatz zu Bauer Linde, dieser schrie plötzlich nach einem Arzt.
Melanie, ihres Zeichens Krankenschwerter, war keine zwei Atemzüge nach mir an der Leiche. Der Hosenladen war unappetitlicherweise offen, die alte Unterhose unordentlich nach unten gezogen und Herr Steinburg hatte sich im Todeskampf das weiße Hemd im grünem Rasen versaut. Er hatte in seinem Vollsuff gegen den Viehzaun gepinkelt.
Angeekelt sah ich vom Ort des tödlichen Ungemachs ab. Das orangefarbene Kabel, welches vom Stromkasten der Weide hinüber zum Wohnhaus lief, fiel
mir als nächstes ins Blickfeld. Heute Mittag beim Aufbau war es noch nicht da gewesen. Oder doch? Ich lief ihm aus einem Instinkt hinter her und traf überraschenderweise wieder auf Oma Bärbel.
„Alfred, Alfred. An den Zaun pinkeln, so was macht man doch nicht.“
Sie schüttelte ganz langsam den Kopf und sprach einer besorgten Mutter gleich, die ihren Sohn halb im Scherze schimpfte. Danach drehte sie sich um und ich hörte ganz leise: „Ich geh dann mal die Rettung holen.“
Wie schon gesagt. Ich kann die ganze Situation nur ungefähr rekonstruieren. Oma Bärbel hat nie wieder ein Wort über
Alfred Steinburg, den ehemaligen Bekannten ihres Sohnes, verloren. Fest steht nur, dass Oma Bärbel bis heute alles tut, was in ihren Möglichkeiten steht, um für Familie und Hof da zu sein. Sie ist eine ganz normale Oma, vielleicht etwas wunderlich mit der Zeit geworden, aber eine der liebsten Personen, die ich je kennen lernen durfte.