Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist nach 20 Jahren in seinen Heimatort zurückgekehrt. Dort hatten damals Jürgen Reeder, Christian Meyer und Arndt Münzer mit dem Wissen des Dorfpolizisten Wilhelm Henkel seinen Freund Andreas Stallwang in Selbstjustiz gelyncht, weil sie ihm ein Verbrechen vorwarfen, dessen es unschuldig war. Kurz hintereinander kommen die vier Männer ums Leben. Die Polizei geht von Selbstmord aus und tatsächlich liegt sie damit richtig, denn mit Hilfe einer Kugel in einem kleinen Holzkästchen hat Gote sie gezwungen, sich ihren Taten zu stellen. Ihre Strafe wählten die Männer gemäß ihren Vorstellungen von Richtig und Falsch selbst aus. Nun verlässt Gote seinen Heimatort wieder. Anna Bäcker bleibt zurück.
"Please, no more words
Thoughts from a severed head
No more praise
Tell me once my heart goes right
Take me home"
Nightwish - The poet and the pendulum
Früh am Morgen hatte Anna im Laden angerufen und gefragt, ob sie den Tag frei bekommen könne. Ohne zu zögern gewährte ihr Hedwig Braun diesen Wunsch. Sie klang kein wenig verärgert, für Anna ein deutliches Zeichen dafür, dass sie sich zuletzt wirklich näher gekommen waren. Das würde der schwierigste Teil werden.
Anna duschte nicht - das würde nichts bringen,
weil sie es später doch nur wiederholen müsste - und zog die Sachen vom vergangenen Tag an. Kurz bevor sie das Haus verließ, dachte sie noch an ein Handtuch. Dann schwang sie sich auf ihr Rad und fuhr los. Kurz hinter dem Ortsausgangsschild begann die Straße anzusteigen. Mit aller Kraft musste sie in die Pedale treten, an mehreren Stellen sogar aus dem Sattel gehen. Anna wusste, dass sie kein Straßenradrennen fuhr, doch in manchen Abschnitten kam es ihr so vor. Schweiß rann über ihr Gesicht und immer wieder musste sie ihn sich aus den Augen wischen. Autos überholten sie nicht oder kamen ihr entgegen, so dass sie sich voll und ganz auf die Schmerzen in ihren Waden konzentrieren konnte. Sie wollte schon vom Rad steigen, als die letzte Kuppe über den felsigen Untergrund in Sicht kam. Nur noch 500 Meter Quälerei waren von Nöten, dann hatte sie die große körperliche Anstrengung hinter sich gebracht.
Mit verbissenem Gesicht bewältigte sie diese Strecke, dann konnte sie ihr Rad hügelabwärts rollen lassen. Der immer schneller werdende Fahrtwind trocknete ihren Schweiß und kühlte ihre Haut. Dann erkannte sie auf der rechten Straßenseite die schmale Einfahrt. Sie lenkte ihr Rad auf den Waldparkplatz und bremste an dessen Ende.
Es war gut möglich, dass Anna schon einmal hier gewesen war, daran erinnern konnte sie sich jedoch nicht. Darum benötigte sie einige Zeit, bis sie den zugewachsenen Anfang des Weges fand, der auf den Hügel hinauf führte. Anna ging langsam, damit sie den Trampelpfad nicht übersah. Sie fand ihn an der beschriebenen Stelle. Es war für sie nicht einfach, ihn zu erkennen, doch bald schon konnte sie ihrer Nase folgen. Als sie schließlich vor dem stinkenden Tümpel stand, war sie sich ganz sicher, noch niemals hier gewesen zu sein. Angestrengt suchte sie an seinem Ufer einem
trockenen Platz. Schließlich fand sie eine und trat an das Gewässer heran. Sie konnte nicht wissen, dass dies die Stelle war, an der 36 Stunden zuvor Gote gestanden hatte. Das Wasser, ein trübe Brühe, lag regungslos vor ihr. In diesem Augenblick hasste Anna sie.
Es war sieben Jahre her. Die Anderen hatten sich bei ihr gemeldet, als sie 16 Jahre alt war. Mittlerweile war Anna davon überzeugt, dass es die romantischen Anwandlungen eines Teenager gewesen waren, die sie ihr Angebot hatte annehmen lassen. Das und die Vorstellung Bedeutung zu haben. Sie selbst nannten sich die Wachtposten. Bei all ihrer Macht hatten sie aber offensichtlich Probleme, in der dinglichen Welt zu existieren. Darum brauchten sie Menschen wie Anna. Sie sollte in die Geschehnisse nicht eingreifen, vielmehr war es ihre Aufgabe zu beobachten und zu berichten. Einen Tag nachdem Anna zugestimmt hatte, sich auf ihre
Seite zu stellen, war ein Päckchen mit der Post gekommen. In ihm war ihr kleines Holzkästchen mit der faustgroßen Kugel. Es war gar nicht so leicht gewesen, diese vor ihren Zieheltern zu verstecken.
Sieben Jahre lang hatten sie - Anna nannte sie nur die Anderen - geschwiegen, aber dass so etwas passieren konnte, hatten sie angekündigt. Nur einmal hatte sie den Auftrag erhalten, alles über Hans Hasenscharte Anders Leben herauszufinden. Das hatte sie getan und Bericht erstattet, aber geschehen war daraufhin nichts. Erst als sie einen interessanten, wenn auch viel zu alten und nicht gerade hübschen Mann kennengelernt hatte, waren die Anderen wieder aktiv geworden. Sie hatten ihr alles über seine Vergangenheit und seine Pläne erzählt und ihr vorhergesagt, dass diese Beziehung keine Zukunft hatte. Und nun sollte Anna auch noch aufräumen. In diesem Augenblick hasste Anna sie.
Weil es keinen Zweck hatte, sich zu widersetzen, wollte sie es schnell hinter sich bringen. Sie zog sich aus und sprang kopfüber in den Tümpel. Der Boden wurde durch die Bewegung des Wasser bei weitem nicht so sehr aufgewühlt, wie es eigentlich hätte sein sollen. Zuerst sah Anna die Schuhe. Sie waren bereits halb im Schlamm versunken. Dann erblickte sie das kleine Holzkästchen. Es lag da wie auf einer Steinplatte. Anna griff nah ihm, tauchte auf und schwamm zurück zum Ufer. Schnell trocknete sie sich ab, wurde den Gestank aber nicht gänzlich los. Als sie genug vergeblich gerubbelt hatte, schlüpfte sie wieder in ihre Kleidung und ging zurück. In der einen Hand hielt sie das Handtuch, in der anderen das kleine Holzkästchen. Nicht ein Tropfen Wasser war auf ihm. Wieder beim Waldparkparkplatz angekommen klemmte sie es auf den Gepäckträger ihres Fahrrads und das Handtuch
stopfte sie in einen bereitstehenden Mülleimer. Auf der Rückfahrt musste sie nur den kleinen Anstieg bis zu der Felskuppe bewältigen, dann rollte sie hügelabwärts in den Ort zurück. Den Gimpel, der neben dem Mülleimer auf dem Waldparkplatz in einem Baum saß, hatte Anna nicht bemerkt.
Nach einer ausgiebigen Dusche und einem verspätetem Frühstück war es fast Mittag geworden und weil die Zeit drängte, bestellte sich Anna ein Taxi. So gelangte sie in das 60 km entfernte Werrentheim. Zuerst ging sie zum Gericht. Mit Hilfe ihres Charmes und zweier Hunderter erfuhr sie, was sie wissen wollte. Dann ließ sie sich zum Krankenhaus bringen. Viel Überzeugungsarbeit war nicht nötig, denn die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb. Ihr letzter Weg führte sie in die Blumengasse, eine kleine Straße hinter der Goldenen Hirschkuh, dem teuersten Esslokal in ganz Werrentheim. Das Büro lag im Parterre der
Hausnummer Sieben, einem einfachen Wohnhaus. In ihm saß Alfons Klee, ein Finanzberater. Er übte diesen Beruf seit 25 Jahren aus. Zu Reichtum hatte er es dabei nicht gebracht - so war sein Auto zehn Jahre alt -, denn er hatte eine entscheidende Schwäche: Er war ehrlich. Die Reichen von Werrentheim hatten ihm noch nie ihr Geld anvertraut. Stattdessen hatte er viele kleine Anleger, die ihm zwar ein geregeltes, aber kein besonders hohes Auskommen sicherten. Erst vor zwei Jahren hatte sich das geändert.
Anna betrat das Büro ohne einen Termin, aber das war kein Problem. Als beste Klientin war sie immer willkommen.
"Guten Tag, Frau Bäcker. Schön Sie zu sehen", sagte Alfons Klee. Er war ein freundlicher Mann, knapp über 50, hatte kurzgeschorenen graue Haare, einen runden Kopf und war in allem, was er tat korrekt.
"Ich hoffe, ich störe nicht, Herr Klee. Aber es
ist wirklich dringend."
"Oh, keinesfalls, keinesfalls, Frau Bäcker. Sie sind mir immer willkommen. Möchten Sie etwas zu trinken? Tee? Mineralwasser? Natürlich Werrentheimer Grafenquelle, ein wenig Luxus muss ja sein. Wenn ich jetzt noch wüsste, wo ich ein sauberes Glas habe... Natürlich, an der Spüle, dort wo es hingehört. Bitte sehr. Was kann ich für Sie tun, Frau Bäcker?"
"Ich würde gerne wissen, wie viel von meinem Kapital sie sofort flüssig machen können."
"Was heißt sofort?"
"So schnell wie möglich. Sagen wir in einem Zeitraum von vier Wochen."
"Das kriege ich schnell heraus", antwortete Alfons Klee. Annas Werte verwaltete er über ein eigene Programm. Mit ein paar Mausklicks rief er eine Gesamtübersicht auf, druckte sie aus und reichte sie ihr, damit Anna nachvollziehen konnte, was er sagte. Er selbst schaute auf den Bildschirm, als er seine
Erläuterungen begann. "Rechnet man alles zusammen, die Mietshäuser, die Unternehmensbeteiligungen, ihre Aktienpakete und längerfristigen Anlagen, beträgt der Wert ihres von mir verwalteten Kapitals 11 Millionen 560 Tausend. Den genauen Wert finden sie unten rechts auf der Seite."
"Ich habe ihn schon gefunden, Herr Klee", antwortete Anna, "und ich weiß, ich muss die üblichen Schwankungen berücksichtigen."
"Natürlich, das wissen Sie selbst. Verzeihen Sie. Wollen Sie sich auch von Immobilen trennen?"
"Nein, der Kern der Anlagen soll unangetastet bleiben. Außerdem möchte ich noch, dass Sie sich um mein Haus kümmern. Prüfen Sie bitte beide Optionen: Vermietung und Verkauf."
"Sie wollen umziehen?" Alfons Klee war überrascht.
"Ja, dass will ich", antwortete Anna mit fester Stimme.
"Zu uns ins schöne Werrentheim?"
"Nein. Weit weg in eine richtige Stadt." Anna lächelte, doch ihr Gegenüber wirkte ein wenig verunsichert.
"Wollen Sie auch unsere Geschäftsbeziehungen beenden?", fragte er vorsichtig.
"Nein. Sie haben sich sehr gut um mich gekümmert."
In ihrem Heimatort hätte man sich noch mehr das Maul über Anna zerrissen, wenn die Menschen dort gewusst hätten, das Paul und Lisbeth Lehmann ihr nicht nur das Haus, sondern auch Geld und Anlagen im Wert von über 9 Millionen vermacht hatten. Der geschäftstüchtige Alfons Klee hatte daraus - ganz ohne krumme Geschäfte - über 11,5 Millionen gemacht, zuzüglich seiner Provision.
"Da bin ich aber beruhigt", sagte er, machte aber ganz und gar nicht diesen Eindruck.
"Es gibt das Internet, E-Mail, Telefon und wenn es sein muss sogar noch die gute alte
Post", sagte Anna freundlich. "Sie haben sehr gute und verlässliche Arbeit für mich geleistet. Warum sollte ich mir einen anderen Finanzberater suchen? Wir werden uns nur nicht mehr so oft sehen, was ich schade finde. Aber es muss sein."
"Es freut mich, das zu hören", meinte Alfons Klee darauf und nun war er tatsächlich nicht mehr so nervös. "Vier Wochen sagten Sie? Nun, ich schätze in dieser Zeit könnte ich ohne große Probleme 2,1 Millionen aus den Unternehmungen herausziehen. Ist das genug? Schön, ich werde das Geld auf ihr Konto überweisen."
Der härteste Teil war für Anna, sich von Hedwig Braun zu verabschieden, gerade jetzt, wo sie sich so gut verstanden. Zu ihrer Überraschung war diese jedoch nicht ein wenig verwundert.
Ich verliere dich nur ungern. Aber das hier ist
kein Ort für dich. Ich wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Ich werde Fransiska Baum fragen, ob sie nicht bei mir arbeiten möchte. Ich weiß, ihre Eltern sind Atheisten, aber die Kleine scheint mir clever zu sein. Erinnert mich ein wenig an dich in diesem Alter.
Dann umarmten die beiden Frauen sich lange. Dabei versuchte jede die Tränen vor der anderen zu verbergen.
Da sie das Haus möbliert verkaufen oder vermieten wollte, packte sie nur die Sachen, die sie wirklich mitnehmen wollte. Natürlich waren die zwei kleinen Holzkästchen dabei. Trotzdem schaffte sie es gerade drei Koffer zu füllen. Um 9 Uhr am nächsten Tag stand das Taxi vor der Tür. Der Fahrer verlud ihre Sachen in den Kofferraum, sie stieg auf der Beifahrerseite ein. Eine Woche nachdem Hajo Gote seinen Heimatort für immer verlassen hatte, kehrte ihm
auch Anna Bäcker den Rücken.
- Fortsetzung folgt -