Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist nach 20 Jahren in seinen Heimatort zurückgekehrt. Dort hatten damals Jürgen Reeder, Christian Meyer und Arndt Münzer mit dem Wissen des Dorfpolizisten Wilhelm Henkel seinen Freund Andreas Stallwang in Selbstjustiz gelyncht, weil sie ihm ein Verbrechen vorwarfen, dessen es unschuldig war. Kurz hintereinander kommen die vier Männer ums Leben. Die Polizei geht von Selbstmord aus und tatsächlich liegt sie damit richtig, denn mit Hilfe einer Kugel in einem kleinen Holzkästchen hat Gote sie gezwungen, sich ihren Taten zu stellen. Ihre Strafe wählten die Männer gemäß ihren Vorstellungen von Richtig und Falsch selbst aus. Nun verlässt Gote seinen Heimatort wieder.
"Tell me once my heart goes right
Take me home"
Nightwish - The poet and the pendulum
Als die auf Fernlicht geschalteten Scheinwerfer von Gotes Seven das Ortseingangsschild erfassten, drückte er das Gaspedal durch. Mit Leichtigkeit beschleunigte der Wagen auf 120 km/h, durchstieß die kalte Nachtluft über der Straße wie der Steven eines Schnellbootes das Wasser teilte. Erlaubt waren 60 km/h. Ein irres Grinsen wanderte über Gotes Gesicht. Nie wieder würde er hierher zurückkehren. Doch diese Mal war es keine Flucht. Er hatte getan, was getan werden musste.
Die nächste Rechtskurve kam rasend schnell auf ihn zu. Gote bremste viel zu spät. Mit 90
km/h wollte er sie durchfahren. Das Heck brach nach links aus. Das hatte er beabsichtigt. Gekonnt fing er den Seven ab. Quietschend schlitterten die breiten Hinterreifen über den Asphalt. Mit Lenkrad, Bremse und Gaspedal kontrollierte er den Wagen und zwang ihn am Ausgang der Kurve wieder in Fahrtrichtung. Die Nacht gehörte ihm, ihm und seine Caterham Seven Supersport 125. Die Toten hatte er fast schon vergessen, zumindest für den Augenblick. Ohne weiter nachzudenken ließ er den Seven fliegen, berauschte sich an der Geschwindigkeit und den vielen engen Kurven. Die Gedanken in seinem vom Fahrtwind umwehten Kopf legte sich. Es war vorbei... zumindest fast.
Der Wagen sprang über die erste Felskuppe und nach dieser musste Gote heftig abbremsen. Das Fernlicht beschien eine schmale Einfahrt auf der rechten Straßenseite. Er ließ den Wagen auf den kleinen Waldparkplatz rollen, stoppte erst an dessen Ende. Aus seiner auf dem
Beifahrersitz stehenden Reisetasche holte er eine Taschenlampe. Schnell fand er den Weg, der zwischen den Bäumen zu Jülichs Fall führte. Das er mit Andreas oft hier gewesen war, hatte Gote schon fast vergessen.
Er schaltete den Motor ab. Die Nacht umfing und versteckte ihn. Entschlossen stieg er aus, ging einmal um den Seven herum und beugte sich über den Beifahrersitz, um das kleine Holzkästchen aus der Reisetasche zu nehmen. Er klemmte es unter den Arm und betrat den Weg. Das Dunkel der Bäume verschluckte das Taschenlampenlicht, so dicht standen sie beieinander. Kleine Äste und Blätter, gefallen schon im letzten Jahr, knackten unter seinen Füßen. Er ging langsam, denn das, was er suchte, konnte selbst bei Tageslicht leicht übersehen werden. Zumindest war das vor 20 Jahren so gewesen. Aber Gote entdeckte ihn auf Anhieb. Ein Trampelpfad führte vom Weg ab. Linksumfassend umrundete man auf ihm den
kahlen Felsen, in dem die Höhle, Jülichs Fall genannt, lag. Bald schon vernahm er ein leises Quaken.
Alles was man sich unter einem Tümpel vorstellen konnte, dieses Gewässer hatte es. Es war nicht sehr groß und an seinem meist morastigen Ufer wuchsen lange Gräser, die in der Nacht verkrüppelten Zauberstäben glichen. Im Nachtwind wogten sie leicht hin und her. Ein unangenehmer Geruch von verwesendem organischen Material lag in der Luft. Der Boden des Tümpels war schlammig und brauchte, einmal aufgewühlt, Stunden, um sich wieder zu beruhigen. Nur selten verirrte sich jemand hierhin. Dieser Ort war ideal.
Gote benötigte eine Weile, bis er mit der Taschenlampe eine trockene Uferstelle fand. Dort machte er sich ans Werk. Er stellte das kleine Holzkästchen ab und zog die Schuhe aus, zuerst den Rechten. Eine Zeitlang betrachtet er ihn. Er mochte diese Schuhe, doch wenn er
wollte, dass man ihm nicht auf die Schliche kam, musste es sein. Weit ausholend warf er den Ersten in den Tümpel. Dann zog er den Linken aus und ließ ihn dem Rechten folgen. Schließlich hob er das kleine Holzkästchen auf. Mittlerweile wusste er zwar, was es bewirkte, wie es das tat, war ihm jedoch immer noch unklar. Und auch wenn es ihm bei seinem Tun behilflich gewesen war, ja, den ganzen Plan erst ermöglicht hatte, war Gote sich doch bewusst, wie gefährlich es sein konnte. Außerdem war nicht gesagt, dass er seiner Macht für alle Zeiten widerstehen würde. Darum holte er ein drittes Mal aus. Das kleine Holzkästchen flog durch die Luft, landete platschend auf dem Wasser und versank. Der schlammige Tümpelgrund würde es bald schon unter sich begraben haben und das war gut so.
Auf Socken ging er zurück zum Wagen. Er steig ein und startete den Motor. Es war ungewohnt, die Pedale ohne Schuhe zu bedienen.
Doch er würde sich daran gewöhnen, ebenso wie er sich daran gewöhnen würde, die Last nicht mehr zu tragen. Mit aufheulendem Motor verschwand der Seven mit Gote in der Nacht.
- Fortsetzung folgt -