Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist nach 20 Jahren in seinen Heimatort zurückgekehrt. Kurz darauf werden angesehene Bürger im Ort, der Geschäftsmann Jürgen Reeder und der Architekt Christian Meyer und der Bänker Arndt Münzer tot aufgefunden. Gote lernt in einem Buchladen Anna Bäcker kennen und die beiden kommen sich näher. Erstaunlicherweise scheint das Ding in dem Holzkästchen, das Gote mitgebracht hat und das die drei Männer in den Selbstmord trieb, keinen Einfluss auf sie zu haben. Der Grund dafür ist, dass sie selbst eines besitzt, das aber schweigt. Gote fällt die Entscheidung, dass Anna und er sich nicht wiedersehen dürfen, denn auf ihn wartet noch ein letzter Schritt: Die Konfrontation mit dem ehemaligen Dorfpolizisten Wilhelm Henkel. Auch dieser nimmt sich das Leben. Doch was verbindet die Toten?
"The blade fell upon him
Nightwish - The poet and the pendulum
... 20 Jahre zuvor ...
"Pegasus."
"Ja?"
"Mir ist etwas aufgefallen."
"Hurra!" Jochen Balck schüttelte den Kopf. Er kannte Andreas Stallwang gut genug und er kannte diesen Tonfall, wusste, was nun kommen würde. Ikarus strich ihm zärtlich über den kurzgeschorenen blauen Irokesenschnitt.
"Ich habe heute gesehen, wie Du Karin Kranz hinterhergeschaut hast. Dir sind ja fast die Augen aus dem Kopf gesprungen."
"Hast Du den Hintern von der mal gesehen?"
"Sie ist eine Frau, Pegasus!"
Verärgert machte Jochen sich von Andreas los, sprang vom Bett, zog seine Hose an und setzte sich mit an die Brust gezogenen Knien auf einen Sessel, der in der anderen Ecke des Zimmers stand. "Du hörst dich an wie so ein Heteroscheißer!", brummte er
"Das ist doch nicht normal!", antwortete Andreas.
Balck griff nach einer leeren Kassettenhülle und warf sie nach dem anderen. Sie traf ihn an der Stirn. Darüber stritten sie nicht zum ersten Mal, Jochen Balck, genannt Pegasus und Andreas Stallwang, den seine engen Freunde als Ikarus kannten. Es war eine ständige Belastung für ihre Beziehung.
"Was für ein reaktionäres Arschloch bist Du denn? Das ist doch nicht normal. Du denkst ja genauso wie der Renner, der alte Penner."
Klaus Renner, der Dorfschullehrer im Ort, war
aus allen Wehrmachtskameradschaften ausgetreten, weil sie ihm zu sozialistisch geworden waren.
"Du drückst dich ja nur", erwiderte Ikarus trotzig. "Traust dich nicht, dir einzugestehen, dass Du schwul bist."
Pegasus warf den Kopf in den Nacken und schrie. "Hilfe! Macht bipolares Denken eigentlich glücklich? Oder bist Du bloß der Hohepriester der Mediokrität? Zum letzten Mal: Ich mag Männer, ich mag Frauen! Für mich ist der Mensch entscheidend, nicht seine primären und sekundären Geschlechtsmerkmale. Will das nicht in deinen Kopf?"
Ikarus hatte genug. Schweigend griff er nach seinen Sachen, obwohl die Nacht gerade erst begonnen hatte. Als er sich die zerrissene Lederjacke mit dem unvermeidlichen „The Clash“-Aufnäher angezogen hatte - Jochen hasste diese scheinindividuelle Uniformität -, wandte er sich zur Tür und drehte noch einmal
den Kopf.
"Feigling!", zischte er.
Da konnte Pegasus nicht anders. "Schwule Sau!", schleuderte er ihm entgegen. Es tat ihm sogleich fürchterlich leid, dass er das gesagt hatte, aber da war Ikarus bereits verschwunden.
Andreas Stallwang hatte ein Moped, doch wenn er innerhalb des Ortes unterwegs war, benutzte er sein altes Bonanzarad. Er hatte es feuerrot angestrichen und Hammer und Sichel auf den Sattel gemalt. So fuhr er durch die beginnende Frühsommernacht. Er hatte kein Ziel, radelte nur ziellos durch die Straßen. In seinem Kopf war ein großes Durcheinander. Er hasst sich dafür, dass er dieses Thema immer wieder ansprach, da er Pegasus abgöttisch liebte. Vielleicht versteckte sich da jedoch der Grund. Ohne es gewollt zu haben, war er von ihm abhängig geworden. Nur ein Lächeln von ihm und er fühlte sich im Himmel. Beachtete er ihn
hingegen nicht oder nicht genug, brach seine Welt zusammen. Dabei hatte er sich geschworen, dass er nie derart an einem Menschen hängen würde. Doch es war geschehen. Er war ihm so ausgeliefert, konnte nichts dagegen tun und das wollte er nicht, obwohl Pegasus es niemals ausnutzte. Es war alles nur in Ikarus' Kopf. Vielleicht provozierte er ihn darum immer wieder, weil sein Unterbewusstsein gegen diese Abhängigkeit vorging. Ganz davon abgesehen verstand er ihn wirklich nicht. Man mochte entweder Männer oder Frauen, war schwul oder nicht. Beides zusammen war eigenartig.
So sehr war Andreas Stallwang in Gedanken, dass er die andere Sache ganz vergessen hatte. Die Polizei ließ ihn in den letzten Tagen ja auch in Ruhe. Außerdem achtete er nicht genug auf die Straße. Das war eigentlich auch nicht nötig, denn um Halb Sieben wurden im Ort die Bürgersteige hochgeklappt. Wenn er es getan
hätte, wären sie ihm vielleicht aufgefallen. Die drei Frauen versteckten sich in einem Auto am Straßenrand. Hinter dem knieten Christian Meyer und Arndt Münzer. Ein wenig vor ihm lag Jürgen Reeder in einer Einfahrt hinter einer Mülltonne auf der Lauer. Das schwache Licht der wenigen Laternen malte nur an einigen Stellen helle Flecken auf Asphalt und Bürgersteig, doch es reichte aus, um Andreas Stallwang auszumachen, wie er gemächlich auf seinem Bonanzarad daherradelte. Im richtigen Augenblick sprang Jürgen Reeder auf und rannte zur Straße. Andreas Stallwang bremste scharf ab, kam gerade noch vor dem anderen zu stehen. Der packte den Lenker. Er hatte nicht vor, ihn loszulassen.
"Wer radelt denn da durch die Nacht, als wäre er die Unschuld in Person?", höhnte Reeder und grinste bös. "Stallwang, der alte Gammler."
"Lass mich in Ruhe, Reeder. Hab keine Zeit für deine Spielchen."
"Was? Keine Lust zu spielen? Oh, ich verstehe. Suchst dir lieber schwächere Spielpartner, am liebsten solche, die sich nicht wehren können, was?"
"Was soll der Scheiß?", rief Andreas. Langsam begriff er. Doch bevor die Panik in ganz erfassen konnte, waren Christian Meyer und Arndt Münzer heran. Der Erste bog seine Arme auf den Rücken und der Zweite drückte ihm sein mit Chloroform getränktes Taschentuch unter die Nase. Als Andreas Stallwang auf seinem Rad bewusstlos zusammenbrach, schrien zwei der drei jungen Frauen in dem Auto am Straßenrand vor Freude auf.
Sie warfen ihn und das Fahrrad in den Kofferraum. Jürgen klemmte sich hinter das Lenkrad, Melanie saß zitternd auf dem Beifahrersitz und die vier anderen drängten sich auf der Rückbank zusammen. Sie fuhren zu einem Grillplatz am Waldrand, der am Fuße
eines sanft ansteigenden Hügels lag, der in einiger Entfernung zu einem der Berge wurde, die das Tal einschlossen. Dort angekommen hielten sie an und stiegen aus. Sie hoben den immer noch bewusstlosen Andreas Stallwang aus dem Kofferraum. Mit einer Taschenlampe in der Hand ging Jürgen voran. Christian und Arndt folgten ihm, den schlaffen Körper tragend. Das Ende bildeten Marion und Karin, die Melanie in ihre Mitte genommen hatten. Obwohl sie auf unsicheren Beinen unterwegs war, ließ sie sich nur widerstrebend vorwärtsgeleiten.
An einer vorbestimmten Stelle verließen sie den ausgetretenen Weg nach links, durchquerten eine Feld hüfthoher Pflanzen. Diese gaben kein Geräusch von sich. Kein Wind wehte, kein Tier der Nacht war zu hören.
Es dauerte auch gar nicht lange, bis sie die mit einem Klappspaten markierte Stelle erreichten. Christian und Arndt ließen ihre sich langsam
wieder regende Last auf den Boden fallen. Jürgen reichte Marion seine Taschenlampe. Karin hatte ihre eigene mitgebracht. Mit einer Hand leuchteten die beiden jungen Frauen die Szenerie aus, mit der anderen hielten sie die immer stärker zitternde Melanie aufrecht. Jürgen ging auf sie zu und zwang ihr einen Zungenkuss auf.
"Das tue ich alles nur für dich, mein Schatz", flüsterte er. Seine Freundin verstand nicht, aber das sollte sich sogleich ändern.
Jürgen Reeder ging zu dem schwer atmenden Andreas Stallwang und trat ihn in die Seite. Dessen Stöhnen war ihm nicht genug, darum wiederholte er das noch zwei Mal. Die erste Rippe brach.
"Schau mich gefälligst an, Du feiges Vergewaltigerschwein!", fauchte er. Der kniende Andreas Stallwang hob den Kopf und der Tritt von Christan Meyer traf ihn. Das rechte Jochbein erhielt einen ersten Riss.
"Du hast wohl geglaubt, Du kommst davon, was? Aber wir sind schneller als die Polizei." Das stimmte nicht ganz, schließlich hatte der Polizist Wilhelm Henkel sie mit den notwendigen Informationen versorgt. "Heute wirst Du dafür bezahlen, was Du Melanie angetan hast!"
"Melanie? Angetan? Wovon redet ihr?", keuchte Andreas Stallwang.
"Tu nicht so, als ob Du das nicht wüsstest, Vergewaltigersau!", brüllte Arndt Münzer und trat den vor ihm auf den Boden knienden mit seinen spitzen Cowboystiefeln in den Rücken. Der große Rückenmuskel unterhalb des Schulterblatts riss. Der spitze Aufschrei kam von Melanie.
Sie hatte von Anfang an nicht begriffen, was das alles sollte. Zu sehr war sie in den Geschehnissen der Nacht vor drei Wochen gefangen. Der Schmerz wollte nicht vergehen,
der Schmerz in ihrem Unterleib und der Schmerz in ihrem Kopf. Das war nun ihre Welt. Ohne weiteres hätte Melanie Klaus Bäcker als ihren Peiniger benennen können, denn sein verzücktes Gesicht war dem ihren ganz nah gewesen, als er ihr das antat, als er das Tor für den Schmerz öffnete und dieser sich ungebremst in sie ergoss. Doch Melanie sprach nicht. Sie tat nichts, denn jede kleine Bewegung vergrößerte ihre Qualen, brachte sie in Gefahr. Rührte sie sich hingegen nicht, geschah nichts, wuchsen Angst und Schmerz zumindest nicht. Also rührte sie sich nicht. Zumindest glaubte Melanie das.
Jürgen war an diesem Tag besonders nett zu ihr gewesen und am Abend kamen die anderen. Früher waren sie ihre Freunde gewesen, doch nun fürchtete Melanie sich vor ihnen. Wollten diese sie nicht verstehen? Sie drängten sie in den Wagen von Marions Vater. Dann standen sie lange am Straßenrand. Die Männer waren
ausgestiegen. Schließlich jauchzten die Frauen vor Freude und die Männer stiegen wieder ein. Gesehen hatte Melanie nichts. Auf einem Parkplatz nahe einem Wald, der sich auf einen ansteigenden Hügel ausbreitete, hielten sie und verließen das Auto. Die anderen waren in Hochstimmung. Sie hatten einen Sack bei sich. Marion und Karin nahmen sie in die Mitte, trieben sie vorwärts. Melanie stolperte den Weg entlang und durch hüfthohe Farne. Erst als sie mitten im Wald anhielten erkannte Melanie, dass es sich um keinen Sack, sondern einen Menschen handelte. Sie traten ihn, sie schrien auf ihn ein. War das denn richtig? Es dauerte eine ganze Weile, bis sie den Menschen erkannte. Es war Andreas Stallwang, einer der wenigen Punker im Ort. Das war nicht richtig.
Melanie schrie auf und wollte sich abwenden, doch Marion und Karin, die früher ihre besten Freundinnen gewesen waren, zwangen sie, alles mitanzusehen. Arndt verteilte Tennisschläger an
Jürgen und Christian. Damit prügelten sie auf Andreas Stallwang ein, bis der sich nicht mehr rührte. Nur ein leises Röcheln war noch zu vernehmen. Der Boden um das zerschlagene Gesicht war schwärzer als die Nacht und roch metallisch. Schnell hoben die Männer abwechselnd mit dem Klappspaten eine Grube aus. Das sie diese Stelle zuvor festgelegt hatten, konnte Melanie nicht wissen. Sie warfen Andreas Stallwang, der jetzt mehr ein Sack denn ein Mensch war, in die Grube. Ein leises Stöhnen erklang. Jürgen stieg in die Grube, holte mit dem Klappspaten aus und schlug zu. Es wurde still und sie füllten das Loch wieder mit Erde auf. Das konnte Melanie nicht mitansehen. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen, so wie immer seit jener Nacht vor drei Wochen und darum starrte sie in den Wald. Im Unterholz glaubte sie für einen Augenblick einen blauen Haarschopf ausgemacht zu haben. Doch sie wusste, dass sie ihrer Wahrnehmung
nicht trauen durfte. Darum beschloss sie, dass all das, was sie gerade sah, niemals stattgefunden hatte.
Dieser Schutzwall der Leugnung sollte erste 20 Jahre später wieder eingerissen werden, als sie zufällig über Andreas Stallwangs Grab stolperte, weil die Erde nachgesackt war.
- Fortsetzung folgt -