Romane & Erzählungen
Der Mann, der nichts tat - Erzählung - 20.: Die Kugel und die Mutter

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"Wenn die Wahrheit ans Licht kommt ..."
Veröffentlicht am 22. Juli 2016, 16 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Zweifler, Pessimist, Misanthrop ... ... ungefähr so: "Nein, nein, ich habe nicht bewundernswert gesagt, ich sagte, ich bin außergewöhnlich. Das was ich tue, das was dir so viel bedeutet ... du meinst, ich tue es, weil ich ein guter Mensch bin? Ich tue es, weil es zu schmerzhaft wäre, es nicht zu tun. (...) Weißt du, es tut weh (...), alles das! Alles was ich sehe, alles was ich höre, rieche, berühre, die Schlussfolgerungen, die ich ...
Wenn die Wahrheit ans Licht kommt ...

Der Mann, der nichts tat - Erzählung - 20.: Die Kugel und die Mutter

Was bisher geschah: Hans-Joachim Gote kehrt nach 20 Jahren in seinen Heimatort zurückge. Der Geschäftsmann Jürgen Reeder und der Architekt Christian Meyer werden tot aufgefunden. Selbstmord!. Gote lernt in einem Buchladen Anna Bäcker kennen, beiden kommen sich näher. Erstaunlicherweise scheint das Ding in dem Holzkästchen, das Gote mitgebracht hat, keinen Einfluss auf sie zu haben. Der Grund dafür ist, dass sie selbst eines besitzt, das aber schweigt. Schließlich stirbt mit Arndt Münzer noch ein dritter Mann. Danach fällt Gote die Entscheidung, dass Anna und er sich nicht wiedersehen dürfen, denn auf ihn wartet noch ein Letztes: Die Konfrontation mit dem ehemaligen Dorfpolizisten Wilhelm Henkel. 







"Thoughts from a severed head" Nightwish - The poet and the pendulum ... 6 Monate zuvor ... "Du bist total langweilig. Und fett bist Du auch. Mein Gott, Historiker! Gibt es etwas langweiligeres als Geschichte? Draußen, das Leben, feiern, das ist geil. Hab aber keinen Vernünftigen gefunden. Bis dahin halte ich mich an Dich. Zumindest bist Du im Bett keine Enttäuschung. Zeitvertreib, mehr nicht. Schnarchsack!"

Gotes Freundin war nicht seine Traumfrau. Vielleicht hätte er gar nichts mit ihr anfangen sollen. Aber er war zu traurig und einsam gewesen. Mit der Zeit hatte er sie sogar lieb

gewonnen. Dabei waren sie zu verschieden. Es konnte nicht gut gehen. Die Kugel bestätigte das.

Sie war über sich selbst erschrocken, schlug die Hände vor den Mund und zitterte am ganzen Körper. "Das habe ich nicht so gemeint", schluchzte sie. "Ich liebe Dich doch und genieße die Zeit mit Dir."

Gote hatte das kleine Holzkästchen geschlossen. Das machte sie wieder zur Schauspielerin.

"Nein", sagte er. "Zum ersten Mal bist Du ehrlich gewesen. Es gefällt mir nicht, aber das ist die Wahrheit."

"Pah, Wahrheit, die kannst Du doch gar nicht ertragen. Ich verzieh mich, du Lusche, und Du siehst mich nie wieder."

Nachdem seine Freundin für immer gegangen war, was er gar nicht mehr bedauerte, schloss Gote das kleine Holzkästchen

wieder. ... 7 Monate zuvor ... Seine Freundin arbeitete in einem Kino. Manchmal lagen ihre Schichten darum auch auf einem Sonntag. Gote langweilte sich. Er wollte nicht lesen und das Fernsehprogramm gab auch nichts her. Müde schlurfte er zum Fenster, um ihn auszuschalten. Da sah er auf der anderen Straßenseite ein Plakat, das jemand auf die mit Brettern verrammelten Scheiben des alten Restaurants auf der anderen Straßenseite, das bereits seit zwei Jahren geschlossen war, gekleistert hatte. Trödelmarkt. Der Parkplatz, auf dem dieser stattfand, war keine zehn Minuten Fußweg entfernt.

'Besser als nichts', dachte Gote und nahm seine Jacke. Als er aus der Tür trat, bereute er

es sofort. Ein scharfer Novemberwind blies die Straße entlang und brachte winzige Regentröpfchen mit sich, die ihm ins Gesicht schnitten. Doch wenn er schon einmal draußen war, konnte er sich auch auf den Weg machen.

Wie meist wurde auch auf diesem Trödelmarkt kaum Trödel angeboten. Die neuen Produkte, von nicht selten fragwürdiger Herkunft, wurden von Händlern angeboten, die kaum weniger fragwürdig waren, als ihre Auslagen. Da gab es Handyhüllen, seltsame Computerprogramme auf CDs, die es im Netz umsonst gab, Handyhüllen, Autoradios, Handyhüllen, falsche Markenuhren, Handyhüllen, echte Billigshirts, Handyhüllen, echt falsche Fußballtrikots, Handyhüllen, Plastikspielzeug und Handyhüllen. Der größte Auflauf war jedoch bei den Glühweinbuden. Gote bereute es endgültig, hierher gekommen zu sein, als er in einer Ecke des Parkplatzes den Stand eines kleinen verhutzelten Männchens ausmachte. Der

Mann musste 1.000 Jahre alt sein. Aber er lächelte geheimnisvoll und darum trat Gote näher.

Auf grünem Samt waren Weltkriegsdevotionalien ausgelegt. Orden, Helme, Münzen, Klappspaten und noch mehr Orden gab es zu sehen. Gote kannte sich mit diesen Dingen schon von Berufswegen gut genug aus, um zu erkennen, dass hier Repliken überteuert an den Mann gebracht werden sollten. Nur ein SS-Koppelschloß machte einen echten Eindruck. Das schien der Verkäufer aber nicht zu wissen, denn er bot es für einen sehr günstigen Preis an. Gote kaufte es - warum auch immer, denn er war gar kein Sammler - und wollte sich schon abwenden und gehen, als ein kleines Holzkästchen seine Aufmerksamkeit erregte. Es schien nicht zu den anderen Dingen zu passen. Gote ging auf es zu und öffnete es. Das der Verkäufer die Luft anhielt, bemerkte er nicht. In dem Kästchen lag eine augapfelgroße

Glaskugel. Sie war perfekt rund und makellos glatt. Mit geweiteten Augen betrachtete er sie. Gote war so fasziniert, dass er nicht bemerkte, wie alle Leute hinter ihm begannen zu streiten.

"Was wollen Sie dafür haben?", fragte er das verhutzelte Männchen, denn das Holzkästchen war nicht ausgepreist.

"Ein schönes Stück, sehr selten", sagte der.

"Ja, schon gut. Der Preis, alter Mann", erwiderte Gote ungeduldig.

"50." Gote lachte. "Ich habe ja nichts dagegen, verarscht zu werden, aber bitte nicht, wenn ich dabeistehe. Ich gebe ihnen 10."

"Mein guter Herr, so etwas Seltenes..."

"10. Nicht mehr."

"Ihnen ist klar, dass ich hiervon lebe?"

"Gut. 15."

"Hm..."

"Das war's. Auf Wiedersehen."

Gote hatte sich schon einige Schritte entfernt,

als der Händler ihn zurückrief. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. "Mein Herr, ich...", stotterte er und hielt inne. "Nun gut", meinte er nach einigem Zögern, "20 und es gehört ihnen."

Gote bezahlte und nahm das Kästchen an sich. Als er längst außer Hörweite war, murmelte der Händler still: "Sieben Jahre. Sieben Jahre und endlich bin ich das Scheißding los!" ... 5 Monate zuvor ... Es hatte einige Wochen gedauert. Das mit der Kugel, die in dem kleinen Holzkästchen auf einem schwarzen Samtkissen ruhte, etwas nicht stimmte, hatte er sofort bemerkt. Manchmal, wenn er sie anschaute, schien es ihm, als wolle sie grün aufleuchten, brachte jedoch nicht mehr als einen Schimmer zustande. Es ging da etwas

vor und richtig wohl fühlte Gote sich in seiner Nähe nicht, auch wenn er keine Veränderung bei sich spürte. Er wusste auch nicht, warum er auf die Idee gekommen war, aber einmal nahm er sie mit in die U-Bahn. Die Wirkung war phänomenal. Alle Menschen in seiner Nähe begannen sich sofort zu streiten. Erstaunlicherweise gingen sie dabei auch mit sich selbst hart ins Gericht. Es verging einige Zeit, bis er verstand. Die Kugel konfrontiert die Menschen mit ihren eigenen Taten. Schlimmer noch, sie lässt jeden sich nach seinen eigenen moralischen Vorstellungen bewerten. Da wunderte es nicht, dass die meisten vor sich selbst nicht gut dastehen. Wer erfüllt schon seine eigenen ethischen Standards? Irgendwann glaubte er, seine Freundin testen zu müssen. Auch wenn er sie mittlerweile mochte,

erinnerte er sich noch gut daran, was er zu Anfang über sie gedacht hatte: verlogen, selbstsüchtig, ohne Moral. Es gab Menschen, die waren nicht gut und sie war eine davon. Eigentlich war er froh darüber, dass diese Einschätzung sich bestätigt hatte. Das er mit der Kugel eine Waffe in Händen hielt, begriff er erst später. Es war kein Gedanke, sondern einer der zahlreichen Albträume, die ihn seit 20 Jahren quälten, der es ihm deutlich vor Augen führte. Dennoch hätte er es wohl nicht gewagt, wenn nicht etwas anderes passiert wäre. ... 3 Monate zuvor ... Ein Hospiz war kein Krankenhaus, aber es roch dort ähnlich. Der Geruch verursachte Gote Übelkeit. Sie wusste das und war ihm nicht bös, dass er nur alle zwei Wochen vorbeikam,

seit sie hier lebte. Und das, obwohl er fast ihr einziger Besuch war. Soweit Gote wusste, schaute nur noch ihr alter Hausarzt regelmäßig vorbei.

Er nickte den Schwestern und ehrenamtlichen Betreuerinnen zu. Männer arbeiteten hier kaum. Man nickte zurück. Sie kannten ihn. Ihr Zimmer lag ganz am Ende des eingeschossigen Gebäudes. Wegen einiger Hochhäuser in der Nähe wehten ständig Fallwinde an ihrem Fenster vorbei. Das war gut so. Sie vertrieben den Rauch. Vor ihrer Tür blieb Gote stehen und las wie immer das Namensschild. Bald würde jemand kommen und es herausnehmen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Leise klopfte Gote und sie rief ihn herein. Maria Stallwang saß in einem Rollstuhl beim Fenster und schaute in einen Steingarten. Sie hatte keine Haare mehr, hing an einer Sauerstoffflasche und einem Tropf.

"Hallo Hajo."

"Hallo Maria."

"Schön Dich zu sehen." Sie hustete. Lungenkrebs im Endstadium. Heilung unmöglich.

"Wie geht es Dir?"

"Och, heute ist einer der besseren Tage. Keine Schmerzen und das Essen hat sogar geschmeckt. Hast Du die Zigaretten dabei?"

"Meinst Du, das ist weise?" Gote legte fünf Päckchen auf das kleine Tischchen neben Maria.

"Weise?" Sie lachte krächzend. "Jochen, über weise bin ich schon lange, sehr lang hinaus. Alles, was es jetzt noch gibt, sind ich und meine Glimmstengel."

Gote gab ihr Feuer. Sie nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch aus ihren zerstörten Lungen durch das geöffnete Fenster in den Steingarten. Der Wind zerstreute ihn sofort.

"Was macht deine Veröffentlichung für den Sammelband des Sowiesoinstituts?", fragte Maria.

"Institut für Zeitgeschichte. Sie haben ihn angenommen, auch wenn ich ihn ein wenig

einkürzen musste."

"Geld?"

Jetzt lachte Gote. "Nein. Oder kaum. Eher Ruhm."

"Einen Scheißjob hast Du da. Na, warst ja schon immer ein komischer Idealist."

Er schwieg, sie rauchte.

"Maria“, sagte Gote nach einer Weile.

"Ja?"

"Ich habe vielleicht einen Weg gefunden, die Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen."

Und dann erzählte er ihr langsam, damit er nichts Falsches sagte oder Dinge vergaß, von dem kleinen Holzkästchen, der Kugel, ihrer Wirkung und seinem Plan. Als er geendet hatte, schweig Maria lange, überlegte und steckte sich eine Zigarette an der anderen an. Als sie antwortete, sprach sie klar und deutlich.

"Was ich mir wünsche, weißt Du. Was diese Kugel bewirkt, wissen wir aber nicht genau. Es bleibt ein Risiko. Und außerdem weiß ich, dass

Du nicht dorthin zurück möchtest. Darum denke nicht an mich. Es ist einzig und allein deine Entscheidung."

Gote nickte. Sie unterhielten sich noch leise, schweigen zusammen und als er sich von ihr verabschiedete, küsste er sie auf die Stirn. Zwei Tage später, nachdem die fünf Päckchen Zigaretten, die Gote mitgebracht hatte, aufgeraucht waren, starb Maria Stallwang im Schlaf. Ihre Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Darum denke nicht an mich. Das ging nicht. Es ist einzig und allein deine Entscheidung. Sie war gefallen. Er würde es tun.




- Fortsetzung folgt -

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Hörbuch

Über den Autor

ArnVonReinhard
Zweifler, Pessimist, Misanthrop ...

... ungefähr so:

"Nein, nein, ich habe nicht bewundernswert gesagt, ich sagte, ich bin außergewöhnlich. Das was ich tue, das was dir so viel bedeutet ... du meinst, ich tue es, weil ich ein guter Mensch bin? Ich tue es, weil es zu schmerzhaft wäre, es nicht zu tun. (...) Weißt du, es tut weh (...), alles das! Alles was ich sehe, alles was ich höre, rieche, berühre, die Schlussfolgerungen, die ich imstande bin zu ziehen, die Dinge, die sich mir offenbaren ... die Hässlichkeit. Meine Arbeit fokussiert mich. Das hilft. Du sagst, ich benutze meine Gaben. Ich sage, ich geh nur mit ihnen um."
(Sherlock Holmes; In: Elemantary)


Fantasy- und Schauergeschichten sind mein Ding, weil sich darin alles Menschliche verarbeiten lässt.
Und ob ich es will oder nicht, auch das Thema "Freundschaft" taucht immer wieder auf.
Aphorismen.
Ein weiterer großer Bereich, mit dem ich mich beschäftige, in Erzählungen und Nonfiction, ist das Thema Krieg.

Arn von Reinhard ist EU-Skeptikerkritiker und Medienkritikerskeptiker.


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Willie Ja die Trödler und manche Stücke, habe es eben in sich und schon der alte Lois Stevenson hat das mal in einer seiner Geschichten thematisch verarbeitet.War aber eine ganz andere Kiste- fiel mir nur eben ein.
Bis demnächst also...
b.G.
W
Vor langer Zeit - Antworten
ArnVonReinhard Ich habe "Die Schatzinsel" erst gelesen, nachdem ich diese Geschichte fertiggestellt hatte, ich schwör!
;-)

LG
AvR
Vor langer Zeit - Antworten
Willie Ach, mein Gott, das war doch nicht auf deine Arbeit bezogen. Fiel mir nur so ein. Ich meinte auch nicht seine Schatzinsel, sondern "Das Flaschenteufelchen" aus seinen Südseegeschichten. Hab gerade googeln müssen, weil ich den Titel nicht mehr wusste. Wie ich schon schrieb eine ganz andere Kiste, einzige Gemeinsamkeit- ein Kauf beim Trödler kann Folgen haben- manchmal unangenehme.
Machs gut!
W.
Vor langer Zeit - Antworten
ArnVonReinhard Darum: ;-)
Vor langer Zeit - Antworten
EllaWolke Puuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuh
Ein Kästchen, seine Kräfte und vor allem Geheimnisse

LG Ella
Vor langer Zeit - Antworten
ArnVonReinhard Das wäre doch was, wenn es ein solches Artefakt gäbe - CHAOS!
;-)

LG
AvR
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EllaWolke Du glaubst gar nicht welche Nachfolgegedanken es auslöst :-)
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