Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist nach 20 Jahren in seinen Heimatort zurückgekehrt. Kurz darauf werden angesehene Bürger im Ort, der Geschäftsmann Jürgen Reeder und der Architekt Christian Meyer, tot aufgefunden. Die Polizei geht in beiden Fällen von Selbstmord aus. Gote lernt in einem Buchladen Anna Bäcker kennen und die beiden kommen sich näher. Erstaunlicherweise scheint das Ding in dem Holzkästchen, das Gote mitgebracht hat und welches so wertvoll zu sein scheint, dass es in einen Safe gehört, keinen Einfluss auf sie zu haben. Der Grund dafür ist, dass sie selbst eines besitzt, das aber schweigt. Schließlich stirbt mit Arndt Münzer noch ein dritter Mann. Danach fällt Gote die Entscheidung, dass Anna und er sich nicht wiedersehen dürfen.
"The world will rejoice today
As the crows feast on the rotting poet"
Nightwish - The poet and the pendulum
Das Gefühl war wieder da gewesen, nicht zum ersten Mal, wenn Gote Anna gegenüber saß. Es war etwas an dieser jungen Frau, der Tochter von Klaus Bäcker, des Mannes, der Melanie Reeder - damals hatte sie noch anders geheißen, aber an ihren Mädchennamen erinnerte er sich nicht mehr - vergewaltigt und fast totgeschlagen hatten. Ohne ihn wäre das alles nicht geschehen, wären mehrere Menschen noch am Leben. Dennoch hatte Gote zu keinem Zeitpunkt Hass gegen sie verspürt. Auf lange Sicht war es zwar besser gewesen, dass er Anna niemals zuvor getroffen hatte, aber da war ja auch noch ihre Mutter gewesen. Was war mit ihr
geschehen? Er befürchtete das Schlimmste. Dennoch war aus Anna eine kluge Frau geworden. Oder vielleicht gerade darum? Gote wusste es nicht. Auf jeden Fall hätte er ihr in der Pizzeria beinahe alles erzählt, wer er war, warum er zurückgekehrt war und was er bisher alles getan hätte. Er war sich sicher, dass sie ihn nicht verurteilen würde, auch wenn sie Gewalt ablehnte, so viel hatte er verstanden. Aber nicht das hatte ihn zögern lassen, war schließlich der Grund gewesen, warum er schwieg. Die Sache war noch nicht ausgestanden, auch wenn er diesen letzten Schritt anfangs nicht geplant hatte. Außerdem gab es noch die Polizei. In allen drei Fällen hatte er sie beobachtet, sich unauffällig unter die Gaffer gemischt. Dieser Kommissar mit der ausgewaschenen Jeansjacke, der ein wenig zu oft nach seiner jüngeren Kollegin schaute, schien genug von seiner Arbeit zu verstehen und so bestand die Gefahr, dass irgendwann
Uniformierte vor seiner Tür standen und ihm zu einen Gespräch baten. Zwar gab es nichts zu gestehen, schließlich hatten die drei sich selbst gerichtet, aber Gote hatte kein Alibi. Schlimmer noch, er war an allen drei Tatorten gewesen. Die Wirkung der Kugel würden weder die Polizei noch ein Gericht anerkennen und schon stand er schlecht da. Er konnte Anna nicht zur Mitwisserin machen, das würde ihr im besten Fall Probleme einbringen. Weder hätte er das ertragen können, noch wollte er das. Außerdem bestand die Gefahr, dass sie versuchte, ihm sein letztes Vorhaben auszureden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie damit erfolgreich war, musste Gote als groß einschätzen, ob er wollte oder nicht, denn sie war klug und hatte großen Einfluss auf ihn. Ja, er hätte diesen letzten Schritt gelassen und das wollte er nicht. Er musste die Sache zu Ende bringen, das war er Ikarus und Pegasus schuldig, jenen jungen Liebenden, die vor 20 Jahren gestorben waren,
jeder auf seine Art. Niemand, auch keine noch so kluge Frau, durfte das verhindern. Also hatte er geschwiegen, was das Härteste war, das er je in seinem Leben geleistet hatte. Vielleicht war es sogar eine Lüge gewesen, aber das hing vom Standpunkt ab. Und aus all diesen Gründen durfte er sie auch nicht wiedersehen. Seine Seele wehrte sich dagegen, aber sie Geist verstand die Zusammenhänge.
Es dauerte nicht lange, bis Gote seinen wenigen Habseligkeiten zusammengeräumt hatte. Etwas mehr Zeit nahm es in Anspruch, alle Räume wieder in den Zustand zu versetzen, in dem er sie vorgefunden hatte. Vor allem in der Küche musste er schrubben und wienern. Als er mit dem Ergebnis zufrieden war, brachte er die Scheuermittel zurück ins Bad und machte eine letzte Runde. Zuletzt ging er auf die Terrasse. Er hatte sie nur drei Mal betreten, jeweils als er die Laufschuhe in dem offenen Grill verbrannte. Anna hätte das beinahe
herausgefunden. Der Gestank der brennenden Kunstfaser war aber auch zu verräterisch gewesen. Aber die Fußspuren in den Vorgärten von Reeder, Meyer und Münzer hätten ihn verraten können, auch wenn er die Häuser nie betreten hatte. Und das einzige, was Spuren endgültig beseitigte, einschließlich der DNA, war Feuer. Die Überreste hatte er tief im Wald vergraben. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass man sie finden würde, konnte man sie ihm niemals zuordnen. Was die Tatorte betraf, war Gote ein unsichtbarer Geist, oder, falls ihn doch jemand gesehen hatte, der Mann in Schwarz.
Nachdem er das Haus abgeschlossen hatte, warf er die Schlüssel in den Briefkasten, ganz so, wie er es mit dem Makler abgesprochen hatte. Nun würden sie dort eben ein paar Tage länger liegen. Gote ging zum Wagen. Die Reisetasche stand auf dem Beifahrersitz, ganz oben in ihr lag das kleine Holzkästchen mit der
Kugel. Heute Nacht würde er sich ihrer ein letztes Mal bedienen. Dazu hatte er die Sachen wieder angezogen: schwarze Jeanshose, schwarzen Kapuzenpullover, langen schwarzen Regenmantel. Gote war der Mann in Schwarz. Nur die Schuhe waren dieses Mal seine eigenen, doch das war nicht zu ändern. Er hatte einfach vergessen sich ein viertes Paar Laufschuhe zu besorgen. Doch er wusste schon, was er mit diesen machen würde. Es waren nur Schuhe.
Gote zog die schwarze Kapuze über den Kopf. Früher waren sie oft in schwarz durch die Straßen gezogen. Vielleicht tat er es aus diesem Grund nun wieder, aber eigentlich hoffte er nur auf eine furchteinflößende Wirkung. Drei Mal hatte das funktioniert. Außerdem fühlte er sich so wohler.
Als er den Motor startete, hatte er wieder den Eindruck, dass er leiser als sonst im Leerlauf blubberte, genau wie bei den anderen Malen. Das war Unsinn und Gote wusste es, doch die
Vorstellung, dass selbst die Maschine sein Vorhaben unterstützte, gefiel ihm. Mit geschlossenen Augen sog er die durch den nahen Wald aromatisierte Abendluft ein. Es war nicht so warm wie zuletzt, aber immer noch sehr angenehm. Er mochte die Entwicklung. Dieser Ort hatte den Sonnenschein nicht verdient. Wenn es nach ihm ging, hätte in dem Nest am See hinter den Bergen der Frost das ganze Jahr über sein eisiges Zepter schwingen können, doch leider funktionierte die Welt nicht so. Gote setzte den Seven rückwärts aus der gepflasterten Parkbox und ließ ihn langsam den Hügel herunterrollen, ein letztes Mal.
Das Haus, zu dem er wollte, stand näher am See. Es war im 17. Jahrhundert errichtet worden und früher hatten die Fischereiaufseher in ihm gewohnt. Die Geschichte hatte ein feines Gespür für bittere Ironie, denn sein erster Bewohner war ein Stallwang gewesen. Heute gab
es sie hier nicht mehr, keine Fischereiaufseher, keine Stallwangs.
Weil es so alt war, lag es ein wenig abseits der anderen, später errichteten Gebäude. Ein ausgefahrener Feldweg durchschnitt ein kleines Wäldchen und führte zum Haus. Das war sicherlich nicht schlecht, doch dieses Mal war es Gote gleich, ob jemand den Mann in Schwarz sah. Dennoch parkte er den Seven unter einer kaputten Laterne, ein ganzes Stück von der Stelle entfernt, wo der Feldweg auf die Straße mündete. Er nahm das kleine Holzkästchen aus der Reisetasche und machte sich zu Fuß auf den Weg. Das Rufen einer jagenden Eule hallte über die Straße. Niemand antwortete ihr. Bei Einmündung angekommen, schaute sich Gote noch einmal gründlich um. Er konnte den Seven nicht einmal mehr ausmachen. Kein Mensch war auf der Straße. Er betrat den Feldweg.
Gote ging auf dem nicht ausgetretenen Mittelstreifen. Der Grasboden federte unter
seinen Füßen. In einiger Entfernung konnte er hinter einem Jägerzaun das Haus ausmachen. Im Erdgeschoss brannte noch Licht. Er konnte ihn bestimmt nicht hören, denn das Gras dämpfte seine Schritte. Quietschend öffnete Gote das Gartentörchen. Die Frau des anderen war schon vor Jahren gestorben, dass wusste er. Kinder gab es nicht und Gäste empfing er in seinem Haus nicht, außer es ließ sich gar nicht vermeiden. Zum Skatspielen ging er in eine Kneipe im Ort.
Der Garten war gepflegt, der Rasen gemäht, die Sträucher beschnitten. In der Regel bezahlte er einen Ausländer, der nicht wusste, wie er über die Runden kommen sollte, für diese Arbeit. Über der Tür hing eine Holztafel. Nur Müh schafft Ehrlichkeit war kunstvoll in sie eingeschnitzt. Gote betätigte die Klingel, vernahm das Läuten. Womöglich würde es etwas dauern, schließlich war der andere nicht mehr der Jüngste. Aber er gehörte nicht zu jenen, die
zunächst vorsichtig aus einem Fenster lugten, um zu sehen, wer vor der Tür stand. Schließlich war er früher Polizist gewesen.
Geräuschlos trat Gote einige Schritte zurück. Der anderen sollte ihn nicht sofort sehen, auch wenn er vermutete, dass seine Augen eh nicht mehr die Besten waren. Dann wurde die Tür geöffnet. Die schlohweißen Haare leuchteten in der Nacht. Nur ein schwacher Lichtschein fiel auf den Weg. Wie fast immer trug er seine graue Strickjacke.
"Wer ist da?"
Wilhelm Henkel, der ehemalige Dorfpolizist, drehte verwirrt den Kopf, schaute nach links und rechts, schien jedoch niemanden zu entdecken. "Hallo?"
Jetzt trat Gote näher. Er hatte das geübt und wusste, dass es im Halbdunkel schien, als schwebe er heran. Prompt wich Henkel angstvoll einen Schritt von der schwarzen Gestalt zurück. Weglaufen oder die Tür
schließen, was am klügsten gewesen wäre, konnte er nicht mehr. Die augapfelgroße Kugel in der kleinen Holzkästchen tat bereits ihre Wirkung.
Zwei Meter von einander entfernt blieben sie stehen. Eine Minute lang schauten sie sich an, Gote in die angstvollen Augen des Greises und der in das schwarze Nichts unter der Kapuze. Über den See klang das dumpfe Läuten einer Kirchenglocke. Daran sollten sich ein Nachbar später verwirrt erinnern. Es war gar nicht die Zeit für irgendein Geläut. Aber vor allem gab es gar keine Kirche an den Ufern des Sees.
Das kleine Holzkästchen hatte Gote hinter den Gürtel geklemmt. Mit beiden Händen schlug er die Kapuze zurück. Wilhelm Henkel blickte ihn an.
"Ich kenne Sie", sagte er nach einer Weile. "Sie haben das Haus oben am Waldrand gemietet."
"Schauen sie genau hin!", forderte Gote ihn
auf.
Zögerlich machte Henkel einen Schritt auf ihn zu und blickte ihm ins Gesicht. Der Geruch von altem Mann stieg Gote in die Nase. Und dann prallte der andere von ihm ab, hob die Hand vor den Mund und schluckte hörbar. "Das... nein.. ich... das kann nicht sein!", stotterte Wilhelm Henkel. "Du?"
"Dachten sie, ich wäre auch tot, Herr Wachtmeister?"
"Das kann nicht sein. Du hattest doch blaue Haare?"
Gote lachte. "Machen Sie sich nicht dümmer als Sie sind. Früher waren meine Haare blau, heute sind sie schulterlang und morgen werde ich mir den Schädel kahl rasieren, davon können Sie ausgehen."
"Aber Du nennst dich Hajo Gote?"
"Ich heiße Hajo Gote. Hans-Joachim. Schon immer. Gote war der der Name meiner Frau."
"Frau? Ich dachte immer..." Weiter kam Henkel
nicht.
"Typisch. Aber seit wann denken Sie? Oder ist es anders herum: Warum denken sie einfach mal nicht?" Gotes Augen funkelten.
Die Schuld stand dem anderen ins Gesicht geschrieben. "Jochen Balck", flüsterte er. "Jochen Balck ist wieder da."
"Ja, ich bin wieder da. Und ich war es, der Reeder, Meyer und Münzer in den letzten Tagen einen Besuch abgestattet hat."
"Jochen Balck..."
"Ich kannte gar nicht die ganze Wahrheit. Ich wusste nur von den Dreien. Aber Jürgen Reeder war gesprächig. Er hat mir alles erzählt, bevor er sich selbst gerichtet hat. Er hat mir von Ihnen erzählt."
"Jochen... ich..." Wilhelm Henkels Gesicht war kreidebleich. "Was willst Du denn tun, Jochen?"
Die anderen hatten ähnlich ängstlich gesprochen.
"Oh, ich werde gar nichts tun. Das ist weder meine Absicht noch mein Recht. Unrecht kann nicht durch Unrecht gesühnt werden. Die Frage lautet: Was werden Sie tun, Wilhelm Henkel?"
Mit diesen Worten holte Gote das kleine Holzkästchen hervor, öffnete es und zeigte dem anderen die Kugel. Sofort begann diese grün zu leuchten.
- Fortsetzung folgt -