Der Autopsiebericht krachte auf den Tisch, als wäre nicht nur der Inhalt bedeutend schwer, sondern das Papier gleich mit. Im letzten Augenblick hatte die Kommissarin die Kuchenplatte zur Seite reißen können. Allerdings zum Leidwesen des Kaffeebechers. Dieser verteilte seine Füllung, braun mit Milch und Zucker, über den gesamten Schreibtisch. Zur absoluten Genugtuung der Frau landeten vereinzelte Tropfen auf einer weißen Leinenhose. Ob es an einem guten Jahrzehnt in der Pathologie lag oder an zu vielen Tatort
Filmen, welche ihr Gegenüber sah, wusste die Kommissarin nicht; jedenfalls war ihr klar, dass nur Rebecca ihr eine solche Show bieten würde. Jeder andere wäre von Senta fein säuberlich mit Bügelkante zusammen gefaltet, der Mund wäre mit einem Terminzettel für das nächste Quartal zugeklebt worden und das sorgsam verschnürte Paket wäre dann mit einem Arschtritt, nicht aus dem Büro sondern aus der Wache geflogen. (schöne Beschreibung) Wenn es um ihre Freundin Rebecca ging, wanderte nur eine Augenbraue gen Himmel und sie hörte erst mal zu, was kommen
würde. „Schätzchen, ich weiß, dass du gut bist, aber dieses Mal hast du den Vogel abgeschossen.“ Sie setzte sich auf den Besucherstuhl an Sentas Schreibtisch, während diese aufstand, den Kuchen sicherte und etwas zum Aufwischen holte. „Ich dachte, der Fall Specht war ein Giftmord.“ Aus Sentas Stimme triefte der Sarkasmus, genauso dunkel wie der Kaffee in die weise Schreibtischauflage aus Papier. „Sparre dir die Sprüche! Einen zweiten toxikologischen Test anzuordnen, bei einem Unfalltod dieser Art hätte mich fast eine Abmahnung
gekostet.“ Die Kommissarin begann die Überschwemmung zu bereinigen, suchte nicht den Blickkontakt zu der Pathologin, sondern konzentrierte sich ganz auf ihre Arbeit. „Frau Erna Specht starb wirklich an einem anaphylaktischen Schock durch Bienengift. Die Frau war hochgradig gegen die Biester allergisch. Vermutlich drehte sie sich im Schlaf um und dabei ist eine Biene mit unter die Decke geraten. Als das Vieh nicht raus kam, stach es die Frau in den Bauch und das war's dann. Ich gehe davon aus, dass ihre Atemwege innerhalb weniger Sekunden vollständig zu
waren.“ Senta warf den Lappen ins Spülbecken und schenkte Kaffee ein. „Wir haben den Bienenstachel auf der linken, unteren Bauchseite der Frau gefunden, auch die Biene lag zerdrückt zwischen den Lacken.“ Ein schwarzer Kaffee ohne alles wurde Rebecca vor die Nase gestellt. Sentas Augen waren undurchdringlich. Die Mauer der Wache, so wurde sie genannt, gab nichts von sich preis, außer ihren Unmut: „Erzähl mir nicht die Dinge, die ich schon längst weiß.“ „Kein Sinn für Dramatik.“ „Würde bei der Arbeit nur stören.“ Ein Seufzen schierer Verzweiflung
entwich dem Brustkorb der Pathologin und ihre Miene verzerrte sich zu einer Maske des Wehklagens. Senta nippte ungerührt an ihrem Kaffee. Wenige Sekunden später merkte Rebecca, dass sie ihre Freundin heute nicht zum verbalen Zweikampf aufmuntern konnte. Irgendetwas schien sie zu beschäftigen und das hatte definitiv mit den toxikologischen Ergebnissen zu tun. „Dein Verdacht hat sich bestätigt. Sie hatte Schlafmittel in ihrem Körper. Circadin – es enthält 2 mg Melatonin in retardierter Form. Zudem gibt es lediglich eine einzige Indikation, für die Melatonin hierzulande zugelassen ist: Zur kurzzeitigen Therapie der primären
Insomnie bei Patienten ab 55 Jahren.“ Schweigen zwischen den beiden Frauen. Senta trank und Rebecca kam ins Schwitzen. Ihr Gegenüber hatte definitiv schlechte Laune. „Du bist die einzige Person auf der ganzen Welt, bei der ich sagen kann: Ich habe Angst von deinen wunderschön geschwungenen Augenbrauen ermordet zu werden. Wie trainiert man sich diese Mimik nur an?“ „Frau Dr. Holschuh, ich warte.“ Wieder ertönte ein Schnaufen, dieses Mal aus der Kategorie aufgeben. „Es war doch von vornherein bekannt, dass Frau Specht an Schlafstörungen litt, weswegen dann die zweite
Untersuchung?“ „Du bist mir noch Antworten schuldig, also rede du weiter, bevor ich spreche“, sprach die Mauer und trank weiter. „Ich habe eine weiteres Testverfahren nach natürlichen und unnatürlichen Schlaf fördernden Substanzen durchgeführt und einen echten Methusalem der Einschlafhilfe gefunden. Chloralhydrat war das erste synthetisch hergestellte Schlafmittel. Es kommt vor allem bei älteren Patienten zum Einsatz, da diese auf Benzodiazepine teilweise paradox reagieren. Zudem hat es den Vorteil, dass es das Schlafprofil nicht beeinflusst und einen schnellen
Wirkungseintritt aufweist. Aufgrund der Nebenwirkungen und der von ihm ausgehenden Suchtgefahr ist Chloralhydrat verschreibungspflichtig und hat heute keine große Bedeutung mehr. Früher verwendete man Chloralhydrat manchmal auch zur Behandlung von Keuchhusten, Neuralgien und bei Chorea Huntinton. Äußerlich angewandt wurde es zur Behandlung von Wunden und Geschwüren. In der Tiermedizin dient es immer noch als Narkotikum.“ Rebecca holte tief Luft, sehr tief Luft, denn sie hatte gesprochen und dabei so gut wie gar keinen neuen Sauerstoff zu sich genommen. Im Anschluss an die nun
paradoxe Atempause funkelte die Pathologin spitzbübisch. „So, Schätzchen, und nun raus mit der Sprache. Wie kamst du auf den Trichter, dass sich Hautpartikel auf dem Glasrand des Bechers befanden, der am Nachtisch des Opfers stand und wie kamst du auf die ringförmige Druckstelle um die Stichwunde? Da war nämlich nur mit sehr viel Mühe etwas zu erkennen.“ „Du wirst es mir nicht glauben“, lächelte Senta und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ihr Blick fiel durch das Fenster und während sie sprach, dachte sie weiterhin an etwas anderes. „Der Mann wollte sich nach 35 Jahren von ihr wegen einer Jüngern scheiden
lassen. Es besteht eine Lebensversicherung. Der Klassiker, aber das ist noch nicht alles. Vor zwei Tagen stürmte eine junge Frau mein Büro, so wie du es gerne tust und knallte mir, ebenfalls wie du, das Odenwälder Journal auf den Schreibtisch. Sie war ganz aufgeregt und ratterte die Forensik herunter wie ein Profi. Erst wollte ich sie rausschmeißen, aber dann sah ich in ihre Augen und wusste, dass sie sich nicht wichtig machen wollte. Also hörte ich weiter zu. Trotz Scheidung lebte das Ehepaar Specht immer noch zusammen. Sie wahrten über viele Jahre den Anschein, dass sie glücklich seien, hatten aber schon lange getrennte
Schlafzimmer. Es ist gar nicht so schwer. Frau Specht nahm das Melatonin erst seit kurzem, eine Frau, die vorher noch nie Medikamente benötigt hatte. Ihr Mann musste nur tagsüber die Tabletten austauschen, sodass das leichte Schlafmittel zu einer regelrechten Narkose wurde. Als er sich vergewissert hatte, dass seine Frau nicht aufwachen würde, nahm er eine mitgebrachte Biene zu Hand, drückte das Glas fest auf den Bauch und reizte das kleine Biest solange, bis es zustach. Den anaphylaktischen Schock bekam die Frau wahrscheinlich gar nicht mit. Ich denke, er nutzte ein Glas, weil er befürchtete, die Biene mit einer Pinzette
festzuhalten, hätte das Tier zerquetscht. Sein Fehler bei dem Glas jedoch war, dass er die Biene am Becken der Frau zustechen lassen hat. Am Knochen zeigte sich dann doch der kleine Schatten. Die etwas pergamentartigen Arme hätten sofort einen Abdruck gezeigt. Zudem, wäre sie wachgeworden, hätte sie den Mann wegstoßen können. Ich gehe stark davon aus, dass der Mann gut über diesen Mord nachgedacht hat, jedoch nicht bedacht hat, dass Schlafmittel, insbesondere wenn man welche nutzt, die man vor Jahren selbst mal eingenommen hat, eine andere Zusammensetzung haben als die
heutigen.“ „Bravo, Frau Holmes. Aber nur aus dem Zeitungsartikel von vorgestern konnte diese junge Frau doch nicht darauf kommen.“ „Stimmt, das wäre auch nur durch den Artikel nicht möglich gewesen. Allerdings, und das ist unser Glück, haben Frau Specht und die junge Frau denselben Hausarzt. Sie haben zusammen im Wartezimmer gesessen und sich unterhalten. Frau Specht hat geklagt, jetzt auch Schlafmittel nehmen zu müssen wie vor einigen Jahren ihr Mann. Sie erzählte auch von der Affäre, der Lebensversicherung und der
Bienengiftallergie.“ Dieses Mal war es Rebecca, die ihre Augenbrauen nach oben zog. „Ich weiß, dass Frauen gesprächig sind, aber wieso erzählt sie das einer Wildfremden?“ Die Kaffeetasse war geleert und die Kommissarin stand auf, um für Nachschub zu sorgen, als sie die andere Tasse an sich nahm, sprach sie weiter: „Nun ja, Frau Specht erkannte die junge Frau als eine Goldschmiedin aus Michelstadt und fragte sie, ob es möglich sei, ihren Ehering einzuschmelzen und etwas Neues daraus anzufertigen. Eine Art Glücksbringer für nach der Scheidung.“ „Drama, Baby“, kommentierte Rebecca
und Senta ließ es durchgehen, weil Pathologen im Laufe ihrer Arbeitszeit eine ganz eigene Sicht auf den Tod bekamen. Mit frisch dampfenden Kaffee kehrte sie zurück an ihren Platz. Aus einer Schublade in ihrem Schreibtisch kramte sie Servietten und kleine Gabeln und stellte den geretteten Kuchen zwischen sie beide. „Danke, Becci, dass du mir vertraut hast und genau aus diesem Grund habe ich mir erlaubt deinen Lieblingskuchen zu besorgen, Bienenstich.“