Kapitel 28 Lügen
Der Aufprall im kalten Wasser raubte ihm einen Moment den Atem. Janis geriet unter die Oberfläche, spürte, wie die Wucht seines Sturzes Wellen schlug, während er versuchte, sich irgendwie wieder an die Oberfläche zu kämpfen. Um ihn herum gab es einen Moment nur Dunkelheit, kein unten oder oben. Er wusste nicht mehr ob er überhaupt in die richtige Richtung schwamm, tastete mit den Händen, bekam die von Algen überwucherten Mauern des Brunnens zu fassen. Doch selbst der Versuch sich daran irgendwie orientieren zu wollen
schien vergebens. Seine Lungen brannten, er konnte nicht mehr denken… und dann sah er es. Einen fernen silbrigen Schimmer. Es könnte die Oberfläche sein. Oder auch nur eine Spiegelung auf dem Grund. Doch ihm blieb keine Wahl mehr. Mit letzter Kraft stieß er sich von der Mauer ab, ruderte mit dem Armen, die schließlich die Oberfläche durchbrachen. Nach Atem ringend und zitternd tauchte er schließlich auf, kämpfte darum, nicht wieder unter zu gehen. Bereits jetzt konnte er die Kälte des Wassers bis in die Knochen spüren. Er musste hier raus und zwar jetzt. Das war das einzige was noch zählte oder er wäre in ein paar
Augenblicken tot. Das Innere des Brunnenschachtes bestand nur ganz oben aus wirklichem Mauerwerk. Je weiter er in die Tiefe führte, desto mehr wurde es von simplen behauenem Stein abgelöst und knapp über dem Wasserspiegel wo Janis trieb, aus grob behauenem Stein ragten Vorsprünge aus dem Fels, die einem Fuß oder einer Hand leicht Platz boten. Er konnte wohl von Glück reden, nicht gegen einen davon geprallt zu sein. Auch wenn das Wort Glück hier wohl kaum etwas bedeutete. Er bekam einen der vorstehenden Felsen zu packen und zog sich herauf. Die Luft hier unten war immer noch eisig, aber besser, als im Wasser zu bleiben, dachte er. Was ihn
wieder zu der Frage brachte, was eigentlich passiert war. Das letzte woran er sich erinnern konnte, war wie ein Schatten aus dem Eingang zur Mine getreten war und dann… Jemand hatte ihm einen Stoß versetzt der ihn, ob nun beabsichtigt oder nicht, über den Rand des Brunnens befördert hatte.
Und warum half ihm dann niemand? Janis spähte nach oben, wo schwach Licht schimmerte. Verzerrte Stimmen hallten zu ihm herab, ohne das er mehr als Wortfetzen verstehen konnte. Was ging da oben nur vor sich? Man musste seinen Sturz doch bemerkt haben?
Vorsichtig tastete er sich mit der Hand weiter, bekam einen weiteren Vorsprung
zu fassen und zog sich hinauf. Ganz nach oben würde er es die Wand entlang nicht schaffen, dazu wurde der Stein in der zweiten Hälfte der Wand zu glatt. Aber dafür wäre das Seil fast in Reichweite. Das hieß, wenn er sein Leben einem morschen Strick anvertrauen wollte. Andererseits, schien ihm auch niemand zur Hilfe zu kommen.
,, Hallo ?“ , rief er und die Worte hatten seinen Mund kaum verlassen, als sie auch schon von den Wänden als Echo zurück geworfen wurden. Doch nichts davon schien oben an zu kommen. Als wäre der Brunnen selbst irgendwie… stumm. Mittlerweile war er soweit hinauf geklettert, wie er es ohne das Risiko
abzurutschen wagen konnte. Er war vielleicht noch drei Körperlängen unter dem Rand des Brunnens. Und doch auch jetzt reagierte niemand auf seine Rufe. Tatsächlich war es Oben mittlerweile tückisch Leise geworden… Als ob man ihn zurück gelassen hätte. Götter, was ging hier nur vor? Von Amatheris hatte er noch immer keine Antworten erhalten, nicht einmal, wieso sie sich so sicher war, dem roten Heiligen etwas entgegen setzen zu können. Und jetzt ließ man ihn hier zum Sterben zurück? Er schloss die Augen, schätzte die Entfernung bis zum Seil. Hatte man ihn wirklich umbringen wollen? Und wenn ja, wer ? Bedauerlicherweise viel ihm sogar
jemand ein und er biss die Zähne zusammen, spähte erneut zum Brunnenrand. Und diesmal war er nicht mehr alleine. Eine einzelne Gestalt beäugte sich plötzlich über die Öffnung, lies das Licht einen Moment lang verschwinden.
,, Janis ?“ Träumer ? Er erkannte die Stimme des Mannes, auch wenn er nur einen Schemen sehen konnte. Götter, was machte er hier ?
Statt sein glück lange in Frage zu stellen, rief er: ,, Ich bin hier !“
Träumer seufzte erleichtert auf. ,, Der Herr hat meine Gebete erhört, es geht euch gut. Könnt ihr raus kommen oder muss ich euch
helfen?“
Janis schielte erneut zu dem Seil, schätzte seine Chancen. Es wäre sicherer, Träumer Hilfe holen zu lassen, sagte er sich. Und doch sprang er ab, schwebte einen Moment, bekam das Seil zu fassen. Es war rutschig, verbrannte seine Haut als die rauen Fasern sich hinein gruben, drohte ihm zu entgleiten. Und plötzlich fragte er sich wie er so dumm hatte sein können, hatte Todesangst…
Eine Erinnerung, die ihn wie ein Blitz durchfuhr. Er kannte dieses Gefühl. Er sah sich auf einem Feld, Zelte um sich herum. Er rannte, konnte sein Blut in den Ohren pulsieren hören , spürte die Hitze der Fackeln, die im Halbdunkel an
ihm vorüberzogen. Und jemand rannte neben ihm. Eine Gestalt die er schon einmal gesehen hatte. Als sie gefallen war…
Dann war alles vorbei, das Seil straffte sich mit einem Ruck, knirschte bedrohlich… aber es hielt ihn.
,, Warum habt ihr das getan ?“ Träumer kauerte mit weit aufgerissenen Augen am Brunnenrand, sah zu wie Janis am Seil hin und her schwankte. Dieser konnte einen Moment nicht antworten, versuchte die Erinnerung zu behalten, mehr zu sehen… doch die Bilder verblassten schon wieder, ließen kaum etwas über außer dem unbestimmten Gefühl, diese Situation zu
kennen.
,, Ich weiß es nicht.“ , antwortete er.
Träumer wusste plötzlich nicht mehr, was er von dem Jungen halten sollte, als er ihm die Hand reichte und ihm über den Rand des Brunnens half. Janis Blick blieb natürlich sofort an den zwei toten Körpern hängen. Was von Aiden geblieben war, war kaum mehr als Mensch zu erkennen, nur ein Haufen zertrümmerte Knochen und Blut. Amatheris hingegen, auch wenn sie nicht mehr atmete, war zumindest äußerlich unverletzt. Und ohne den Makel den die Weihe von ihr gefordert hatte… So wie sie dalag wirkte sie fast friedlich, ein
dünnes Lächeln auf den Lippen. Und Träumer insgeheim, ob das am Ende nicht genau ihr Ziel gewesen sein mochte. Vielleicht nicht. Wenn Amatheris eines umgebracht hatte, dann auch ihr eigene Ehrgeiz. Träumer wusste bis jetzt nicht, wie sie glauben konnte, irgendetwas zu bewirken. Im besten Fall hätte sie den roten heiligen ersetzt und was dann? Konnte ein Mann oder eine Frau überhaupt von einer derartigen Macht kosten ohne sich zum negativen zu verändern? Und was bedeutet das für dich selbst? Er wusste es nicht…
,, Was ist geschehen ?“ , fragte Janis leise.
Träumer überlegte tatsächlich kurz ihm
einfach die Wahrheit zu sagen. Nicht nur über all das hier, sondern alles. Aber…
,, Sie haben sich von ihr abgewendet, JAnis. Amatheris hat versucht sie auf einen falschen Pfad zu führen. Der rote Heilige hat sie gerichtet. Der Rest… hat seinen Fehler erkannt.“ Er sah zu der zweiten Leiche. ,, Außer Aiden.“ Dieser närrische, tapfere… Dummkopf. Vielleicht hätte er besser ihn statt Janis in den Brunnen gestoßen. Du hast es nicht wissen können, sage er sich. Ja… aber änderte das etwas an seinem versagen ? Er hatte nicht gewollt, das das hier in Blutvergießen endete. Und wann hat der rote Heilige das letzte Mal etwas friedlich gelöst? Du machst dir
Illusionen…
,, Ich glaube sie hat versucht mich umzubringen. Sie… Ich verstehe es nicht, Träumer. Ich versteh nicht mehr was eigentlich vor sich geht…“ Janis stand einen Moment unsicher da. Und Träumer konnte ihn nur mitleidig ansehen. Hatte er schon einmal jemanden gesehen, der so verloren wirkte? Der Junge konnte ja nicht ahnen, wie die Wahrheit aussah. Amatheris hatte ihn gebraucht. Wofür auch immer. Und doch würde er ihn in dem Glauben lassen müssen. Besser, er lebte damit weiter.
,, Ich glaube dann sind wir grade noch rechtzeitig gekommen.“ , meinte Träumer. ,, Und wir werden die
Wahrheit schon noch herausfinden. Ich helfe euch dabei. Versprochen.“ Seit wann bist du ein so guter Lügner? Allerdings… es brauchte wohl keinen guten Lügner um einen Jungen ohne Vergangenheit… und vielleicht auch ohne Zukunft für sich zu gewinnen.
,, Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll. Amatheris hat gemeint sie wüsste, wer ich bin… War das nur eine Lüge, damit sie mich kontrollieren kann?“
,, Vielleicht war sie verrückt.“ Träumer kniete sich neben sie, schloss ihr die Augen. ,, Es gibt manche, denen es schwer fällt, in Einklang zu bringen, was sie einst sein wollten… und was sie geworden
sind.“
,, Redet ihr von ihr… oder von euch ?“
Träumer seufzte. ,, Ihr seid klüger als euch gut tu schätze ich.“ Und warum sah der Junge dann nicht? Die Wahrheit lag vor seinen Augen. Andererseits… Er hatte keine Erinnerungen. Und den roten Heiligen noch nicht so erlebt wie Träumer es getan hatte. Für Janis… war er im Augenblick die einzige Führungsfigur die er hatte. Neben ihm selbst. Und ich führe ihn nur brav zum Abgrund…
,, Wie oft hast du dich schon mit ihnen getroffen ?“ , wollte Träumer wissen.
,, Nur heute. Aber sagt mir… warum waren sie so überzeugt davon, das der
rote Heilige ein falscher Anführer ist?
,,Vielleicht ist er es.“ , flüsterte Träumer. ,, Und vielleicht auch nicht. Aber den roten Heiligen treibt mehr als nur der Wunsch, die Welt zu reformieren. So wie viele von uns…“ Er stand auf und machte eine Geste in Richtung von Amatheris Körper. Grüne Flammen hüllten ihn ein, verbrannten was von ihr geblieben war zu Asche. Dann wendete er sich dem zu was von Aiden geblieben war und wiederholte den Vorgang. Janis sah ihm schweigend dabei zu, mit ernstem Gesicht, das von den Flammen beleuchtet wurde. Ein Gesicht, das ihm vertraut vorkam. ,, Etwas
Düstereres…“
,,Rache ?“
Woher wusste der Junge das? Oder hatte er nur geraten? Träumer war lediglich in der Lage zu nicken.
,, Also sagt mir… haben sie nicht recht ? Ich bin der letzte, der ihm misstraut, Träumer. Der rote Heilige hat mich gerettet. Und ihr auch. Mag sein, das er Brutal ist, aber schulde ich ihm nicht etwas?“
,, Das ist… nicht so einfach.“ Auch wenn ein Teil von ihm Janis einfach zustimmen wollte. Ja, der Heilige war in Wahrheit ein Monster. Aber eines, das gebraucht wurde. Und eines, das Janis brauchte, auch wenn sich ihm immer
noch nicht erschloss, wozu… ,, Am Ende haben wir alle das gleiche Ziel. Der Kaiser ist das einzige , was noch zwischen uns und der neuen Welt steht. Wenn er besiegt ist, wird sich alles ändern… Dann kann Gerechtigkeit walten.“
,, Und kann Rache nicht ebenfalls gerecht sein ?“
Träumer musterte Janis einen Moment unsicher, wusste nicht ob oder was er antworten sollte. Die Frage ging über den roten heiligen hinaus, nicht war ? Sie hatten dem Jungen genug Lügen gegeben. Und Amatheris hatte unfreiwillig ihr Übriges dazu getan ihn auch noch gegen die Abweichler in den
eigenen Reihen aufzubringen. Und doch weigerte Träumer sich derjenige zu sein, der seinem erwachenden Zorn noch Nahrung gab. ,, Nicht diese Art von Rache, Janis. Niemals… Nicht wenn die ganze Welt darunter leiden muss.“
Viel später, als der Junge längst fort und in Sicherheit war, traf er sich erneut mit dem roten Heiligen. Mittlerweile zeigte sich bereits der erste Schimmer Morgenrot am Horizont, ließ die hoch aufragenden Säulen und Kuppeln des Tempels als dunkle Silhouette vor dem blutroten Himmel stehen. Von den Toren aus konnte man über die Wendelmauern hinweg fast das gesamte Tal überblicken.
Das Lager zu seinen Füßen schlief hingegen noch, von einigen wenigen Nachtschwärmern einmal abgesehen.
,, Glaubt ihr, das Janis wirklich loyal zu euch steht ?“ Er würde den Jungen genau so wenig verraten, wie seinen Herrn. Auch wenn er nicht zu sagen wusste, woher diese Loyalität stammte. Vielleicht war es einfach der erbärmliche Versuch nicht noch mehr Schuld auf sich zu laden.
,, Das werden wir bald sehen.“ , meinte der rote Heilige. ,, Ich habe weitaus mehr getan, als ihm nur seine Erinnerungen zu nehmen, falls es das ist, was euch Sorgen bereitet…“
,, Ihr habt ihn manipuliert
?“
,, Grade genug. Er wird mir weiter aus der Hand fressen, wenn ich es wünsche Träumer. Bis ich ihn auf die Probe stellen kann. Die Taufe ist mehr, als sie zu sein scheint. Ihr wisst das genau so gut wie ich. Was der Herr einmal für sich beansprucht hat, gibt er nur schwer wieder her. Und was sich ihm einmal verschrieben hat… das wird er nutzen.“
,, Ihr wisst, was ihr ihm damit antut ?“
,, Als ob mich kümmert, was aus ihm wird. Er dient einem Plan unseres Herrn, Träumer. Nicht mehr, nicht weniger. Darüber hinaus… ist er wertlos.“
Und doch wird es ihn in den Wahnsinn treiben, wenn er je die Wahrheit erfährt,
dachte Träumer. Und so sicher sich sein Herr war ihn unter Kontrolle zu haben… war nicht alleine die Tatsache, das der Junge auf der Versammlung der Abtrünnigen aufgetaucht war Beweis genug, das er sich seinem Einfluss auch wiedersetzen konnte?
,, Ihr sagt, ihr würdet ihn auf die Probe stellen…“
,, Sehr bald. Doch zuerst gibt es wichtigere Dinge um die wir uns kümmern müssen. Es sieht so aus, als wolle sich uns ein alter Feind erneut stellen… Wenn der Erzmagier närrisch genug ist, mich herauszufordern, wird er bald merken, dass er sich diesmal verschätzt hat… Und diesmal ist er ganz
alleine…“