Ein Ausflug mit Folgen
Als treu fürsorglicher Partner versprach ich meiner Freundin sie zum Arzt zu begleiten. Solche unterstützenden Tätigkeiten gehören eben einfach dazu, wenn die Beziehung gut funktionieren und intakt bleiben soll. Obwohl ich genau wusste, dass dieser Tag äußerst anstrengend verlaufen wird.
Schließlich fuhren wir mit der S-Bahn gegen zwölf Uhr mittags los, und mussten noch in eine andere bis zum Ziel unseres Ausflugs umsteigen. Damit leisteten wir unseren Beitrag zur Schonung der Umwelt, und diese
Tatsache stimmte uns zufrieden.
In meiner Tasche befanden sich zu diesem Zeitpunkt eine Flasche mit anderthalb Liter Wasser und zwei Kiwis, die meine bessere Hälfte vorher schälte, und in kleine, mundgerechte Happen schnitt. Dazu noch ein Regenschirm, denn diese Wetterlage in Deutschland im Sommer empfanden wir als absolut unberechenbar. An dieser Stelle sei erwähnt dass Sie sicherlich wissen, wie empfindlich Frauen auf Regen in sämtlichen Auswirkungen der Menge reagieren können, und aus diesem Grund musste ich dafür gewappnet sein.
Somit waren wir beide bestens für alle Eventualitäten gerüstet, und trafen
pünktlich am Anmeldebereich der Praxis ein. Zwei junge Damen begrüßten die Patienten, und fertigten sie erst einmal mit den üblichen Formalitäten ab. Natürlich auch uns, und danach baten sie uns im Wartebereich mit den roten Stühlen Platz zu nehmen.
Etwa dreißig Sitzgelegenheiten fanden wir vor und ich freute mich schon unbändig darüber, dass jetzt nur achtundzwanzig besetzt waren.
Daher wartete ich mit recht guter Laune darauf, dass wir demnächst aufgerufen wurden. Nachdem eine halbe Stunde verging, schlug sie jedoch allmählich in eine leicht genervte Richtung um.
Ja, ja, ich weiß schon was Sie denken,
wir müssen alle warten, stell dich nicht so an!
Dafür kann ich Ihnen bloß Recht geben, und bestätige dies hiermit.
Also formierte ich meinen Hintern in eine andere Position, damit ich dieses Herumhocken auf der harten Oberfläche aus Kunststoff besser aushalten konnte. Langsam aber sicher füllten sich die freien Plätze mit weiteren Patienten, und ich glotzte gelangweilt in der Gegend herum. Den ersten Schluck aus der Wasserpulle schüttete ich mir auch schon in den Hals, und zur Beruhigung meines angeschlagenen Nervenkostüms legte meine Freundin ihre Hand auf meinen Oberschenkel. Nachdem ich von
der Toilette zurückkehrte überlegte ich angestrengt, womit ich mir die Zeit vertreiben könnte.
Da dieser Wartebereich über große Fenster verfügte und an einer belebten Hauptstrasse lag, hätte ich ganz lässig eine Verkehrszählung durchführen können.
Dabei wäre es mir ausgesprochen leicht gefallen die unterschiedlichen Fahrzeuge nach Klassen des Gewichts zu unterteilen, jedoch nach dem jeweils anteiligen Ausstoß ihrer Schadstoffe in der Luft hätte ich keine zuverlässigen Angaben machen können. Allerdings wurde ich ja auch nicht damit beauftragt. Somit verblieb mir keine
andere Möglichkeit als die Menschen um uns herum zu beobachten, da es nun keinen einzigen freien, roten Stuhl mehr gab.
Mir gegenüber saß ein Vater mit seiner etwa dreizehn bis vierzehnjährigen Tochter, und dem Mädchen wurde es offensichtlich auch langweilig. Deswegen reichte der Mann ihr sein Handy aus der Brusttasche, und widmete sich danach wieder seiner Autozeitschrift in den Händen. Gespannt verfolgte ich wie die Fingerkuppen des Teenagers in einer atemberaubenden Geschwindigkeit auf die Tasten des Displays einhämmerten, und dass sie ihre Resultate mit einem zufrieden
stellenden Grinsen zur Kenntnis nahm. Das temporeiche Spiel wurde lediglich von einer dringenden Bitte ihres Erziehungsberechtigten unterbrochen, indem er sie dazu aufforderte ihm einen Becher Wasser vom kostenlosen Spender am Eingang zu holen.
Dabei kam mir in den Sinn künftig keine Flasche mehr mitzuschleppen, jedoch verwarf ich diesen Gedanken recht zügig wieder. Meine Freundin würde dieses Gesöff niemals trinken, und für die nachfolgende Einkaufstour sollte schließlich auch noch genügend durstlöschende Flüssigkeit vorhanden sein.
Mein Blick wanderte neben die beiden und dort saß eine ältere Dame, die in einer Fachzeitschrift für Balkonmöbel und Gartenpflanzen blätterte. Bei allem Respekt für ältere Mitmenschen schoss mir sofort durch den Kopf, wie sie diese anstrengenden Tätigkeiten überhaupt bewerkstelligen konnte. Oder sie informierte sich einfach für jemanden aus ihrem Umfeld, um dieser Person nach dem Arztbesuch einen ausführlichen Bericht abzuliefern.
Direkt neben mir saß ein Mann, der mit seinem Alter durchaus mein Vater sein könnte. Mit einer stoischen Ruhe las er durch seine silberne Brille ein Buch dessen Inhalt ihn vollkommen
fesselte,sodass er nichts um sich herum wahrnahm.
Ob er es allerdings mitbekam wenn sein Name aufgerufen wurde blieb mir ein Rätsel, und deswegen beschloss ich ihn im Auge zu behalten. Selbstverständlich wollte ich um jeden Preis jegliche unnötigen Verzögerungen für den geregelten Ablauf verhindern. Vielleicht hätte ich in dieser Zeit auch einen Roman schreiben können aber ich bezweifelte erheblich, dass ich die notwendige Konzentration und Ruhe für das Verfassen eines solchen Werkes haben würde.
Schräg links von mir entfernt entdeckte ich eine elegante Dame mittleren Alters,
die offenbar ihre Mutter begleitete. Auf ihrem Schoss lag deutlich sichtbar eine Handtasche von Prada und damit dürfte absolut klar sein, dass die beiden vor uns dem Arzt die Beschwerden mitteilen durften.
Dazwischen machte ich mit meiner Freundin den ein oder anderen Scherz zur Auflockerung des ganzen Dramas, und eine Frau von gegenüber beobachtete uns dabei amüsiert. Immerhin sorgte ich damit ein klein wenig für Unterhaltung, die mich zugleich von meinen Schmerzen im Gesäß ablenkten.
Aus dem Nichts tauchte ein junges Mädchen in weißer Hose und
Turnschuhen mit einem dunkelblauen Poloshirt vor uns auf, und sie sprach meine Süße an.
Nachdem sich die Identität meiner Partnerin klärte, wurden ihr von der Arzthelferin Tropfen in die Augen verabreicht. Da nun eine geschlagene Stunde verstrich in der sich nicht einmal etwas im Ansatz einer Untersuchung meiner Liebsten ereignete, musste ich darüber nachdenken.
Wahrscheinlich gehörte es zu den essentiellen Aufgaben des Personals, sich auf solch eine Patientin entsprechend vorzubereiten. Dieser Akt musste extrem durchdacht, und sämtliche Folgen die daraus entstehen
könnten, mit allerhöchster Gründlichkeit in jeder denkbaren Hinsicht genauestens abgewogen werden.
Gleichzeitig hielt ich es für ausgeschlossen, dass meine Freundin jetzt als Versuchskaninchen für wissenschaftliche Studien dienen musste. Jedoch bewahrte ich aus verständlichen Gründen Stillschweigen darüber.
„Ich komme dann in zehn Minuten wieder, und dann tropfe ich Sie noch einmal. Das muss ich insgesamt dreimal mit Ihnen machen!“, flötete sie, und schwirrte ab.
Diese Mitteilung klang für mich wie eine üble Drohung, denn damit verlängerte
sich unser Aufenthalt um zusätzliche dreißig Minuten. Wahre Freudensprünge darüber konnte ich beim besten Willen nicht in die Lüfte machen, und manche Leute schauten uns schon etwas mitfühlend an. Ja, beinahe schon tiefes Mitleid.
Unsere Wasserflasche leerte sich inzwischen zur Hälfte, und ich musste deshalb ein zweites Mal die Toilette aufsuchen. Auf dem Weg fühlte ich mich dabei irgendwie so, als ob ich ein Gast in irgendeinem Hotel eines Kurorts wäre. Mittlerweile viele vertraute Gesichter begegneten mir unterwegs, und wir fingen damit an uns gegenseitig zu begrüßen. Dabei hätte bloß noch
gefehlt, dass wir untereinander ein nettes Pläuschchen abhalten würden, welche Unternehmungen denn jeder im Einzelnen an diesem herrlichen Tag noch so plante.
Bei meiner Rückkehr erfolgte die zweite Ration der ominösen Tropfen. Nach meinem prüfenden Blick durch die versammelte Runde stellte ich fest, dass die Pradatasche nicht mehr unter uns weilte. Damit bestätigte sich mein Verdacht hinsichtlich einer Privatpatientin. Nun denn, Geld regiert die Welt. Die nächsten zehn Minuten verstrichen ohne nennenswerte Ereignisse, und meine Laune entwickelte sich in eine gleichgültige Haltung.
Die Dame mit der Gartenzeitschrift bekam offensichtlich genug brauchbare Informationen, und beendete das Lesen. Allerdings wirkte sie jetzt ziemlich angestrengt, und etwas erschöpft.
Das letzte Hineinträufeln in die Augen meiner Freundin mit dieser geheimnisvollen Substanz ging über die Bühne, und ich zählte die nächsten Minuten des Wartens wie bei einem Countdown herunter.
„Kommen Sie dann bitte in fünfundzwanzig Minuten zur Vermessung nach vorne in das Behandlungszimmer am Eingang!“, wurden wir vom blauen Poloshirt unterrichtet.
Himmel, Arsch und Zwirn, ich möchte hier nicht übernachten! , hätte ich am liebsten gebrüllt, aber die Erziehungsmaßnahmen meiner Eltern hielten mich davon ab.
Trotzdem ließ ich diesen reizvollen Gedanken einen Augenblick auf mich wirken.
Mit einer Klappliege in der einen Hand, und in der anderen meine Freundin, den Wartebereich zu betreten. Nein, die erstaunten und verstörenden Blicke von den anderen Besuchern wenn ich mich gemütlich auf die Liege fleetzen würde, wären mir dabei völlig egal gewesen! Allerdings bei näherer Betrachtungsweise konnte meine Süße
dieses Gepäck beim Aufsuchen eines Arztes niemals zulassen, und würde mich zugleich für total verrückt abstempeln. Aber auf eine gewisse Weise wäre es bestimmt lustig, dies versuchsweise einmal auszuprobieren.
Die Zeiger meiner Uhr krochen im Schneckentempo über das Ziffernblatt, bis wir uns auf den Weg nach vorne machten. Als wir dabei an einem Ehepaar vorbeikamen glaubte ich zu hören, dass sie sich leise Worte zuraunten.
„Schau mal, die sind auch noch da!“
Vielleicht handelte es sich andererseits bloß um eine Einbildung von mir, weil ich nicht mehr wusste welche Haltung
ich auf meinem roten Stuhl einnehmen könnte.
Andere blaue Poloshirts schwirrten wie die Bienen um den Stock der Königin herum, und wechselten hektisch ein paar Worte miteinander.
Jetzt konnte ich keine einzige Sekunde mehr länger sitzen, aber für meine Freundin stellte es überhaupt kein Problem dar. Bewundernswert, dachte ich mit einem kleinen Anflug von Neid.
Nichts passierte, und ich starrte irritiert auf die geschlossene Tür.
Meine Liebste ergriff spontan die Initiative, und erhob sich vom grauen Stuhl.
„Komm wir gehen jetzt einfach rein, da ist gerade jemand raus gekommen!“, teilte sie mir mit.
„Ich glaube nicht, dass es zu unseren Aufgaben gehört auf die korrekte Reihenfolge der Patienten zu achten!“, entgegnete ich.
Diese Bemerkung ignorierte meine Partnerin, und zog mich stattdessen an der Hand schnurstracks in das Zimmer hinein.
Erneut erfolgte die Prüfung der persönlichen Daten meiner Freundin während ich dem Irrtum unterlag, dass wir uns inzwischen einen gewissen Bekanntheitsgrad erarbeitet hätten. Schließlich wurden die Ergebnisse der
Vermessung in den Computer gehackt, und wir sollten zu den roten Stühlen zurückkehren.
Diese Sitzgelegenheiten strafte ich mit einem finsteren Blick der obersten Kategorie und setzte mich, obwohl es mich eine unfassbare Menge der Überwindung kostete.
Nach fünf Minuten wurde ich von dieser Strapaze erlöst, indem wir aus mir schleierhaften Gründen zum Augenarzt ins Zimmer hinein gerufen wurden.
Wer hätte das gedacht, so schnell! , musste ich dabei denken.
Zuerst begrüßte mich der Arzt mit dem Nachnamen von meiner Freundin, allerdings korrigierte ich ihn dabei nicht.
Diesen seltenen Augenblick in meinem Leben wollte ich mir auf keinen Fall wegnehmen lassen. Mit falschem Familiennamen und der Handtasche meiner Liebsten auf dem Schoss dieser Untersuchung beizuwohnen. Denn ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass diese Verwechslung sich beinahe wie in einem James Bond Film abspielte.
Somit drangen wir endlich zum hauptsächlichen Anliegen des Besuches vor, und der Doktor untersuchte die Patientin gewissenhaft. Danach sprach er noch ein paar erklärende Worte die sogar mir einleuchteten, und nach siebzehn Minuten spülte es uns wieder auf den Gang hinaus.
Entkräftet und erledigt schaute ich meine bessere Hälfte nach insgesamt zwei Stunden und siebzehn Minuten unserer ausgedehnten Anwesenheit bloß an.
„So, jetzt gehen wir noch ein bisschen einkaufen!“, meinte sie.
Boah, diese Unternehmungen rauben mir zweifellos die letzten Körner meiner Kraft dachte ich augenblicklich, aber natürlich stimmte ich zu.
Naja, Sie wissen schon, für eine gut funktionierende Beziehung…
Nach etwa zwei Stunden verzehrten wir auf einer Bank die Kiwihappen und diese Früchte verliehen mir einen ungeahnten Energieschub, um den nächsten
Klamottenläden unsere Aufwartung zu machen.
Gegen zweiundzwanzig Uhr trafen wir wieder zu Hause ein, und ich leckte mir meine Wunden. Von dieser mordsmäßigen und enervierenden Herumlatscherei trug ich eine Blase in der Größenordnung einer Zwei Euromünze an meinem Hacken des rechten Fußes davon.
Nein, nein, ich bitte Sie, jetzt keine mitleidsvollen Bemerkungen oder sonst irgendwelche tröstenden Worte für mich an der Stelle, während Sie diesen Text lesen. Wir Männer sind nicht wehleidiger veranlagt als die Frauen, jedoch kann das weibliche Geschlecht es
wesentlich besser und geschickter vor uns verbergen.
Also, wo waren wir? Ach ja, mein Fuß.
Es tat schon ordentlich weh und wann ich wieder meine beiden Füße mit Schuhen bekleiden konnte, rückte zunächst in unabsehbare Ferne.
In unserer Wohnung war es nun verdächtig ruhig, und ich überlegte mir den Grund.
Kurz darauf hüpfte meine Freundin lockeren Schrittes ins Wohnzimmer hinein, und führte mir das erste Beutestück ihrer neuesten Errungenschaften vor.
Mit ihrem mintgrünen Poloshirt baute sie sich vor dem Spiegel auf, und drehte
sich dabei in allen denkbaren Richtungen mehrfach im Kreis herum.
„Findest du, dass steht mir?“, fragte sie.
„Ja, es sieht gut an dir aus, und es steht dir!“, antwortete ich gelassen.
„Meinst du?“, fragte sie, und ich dachte dabei einen leicht zweifelnden Unterton herauszuhören.
„Ja wirklich, es steht dir Klasse!“, bestätigte ich zum zweiten Mal.
„Eheeecht?“, fragte sie, und diesmal deutlich mit Zweifel behaftet.
„Nee, das ist eine schöne Farbe, und du kannst es mit vielen deiner Sachen kombinieren! Probier' doch mal das Zweite an!“, erwiderte ich in der stillen Hoffnung, jetzt genug positive
Bestätigungen an die Frau geäußert zu haben.
Unverändert schaute sie überall an sich streng begutachtend herunter, doch ganz allmählich weckte das in der Luft wedelnde Preisschild an ihrer Hüfte die ungeteilte Aufmerksamkeit unserer Katze. Mit blitzenden Riesenaugen und heftig klopfendem Schwanz verfolgte sie diesen zappelnden Papierschnipsel und ich fragte mich gleich, wann sie in Raubtiermanier zum totalen Angriff überging.
Doch so weit kam es nicht denn meine Freundin schwirrte wieder ab, um den privaten Laufsteg ein zweites Mal zu eröffnen. Dabei stellte ich mir die Frage,
warum die Frauen in solchen Situationen alles dreimal wissen wollen. Da mich dies bereits mein ganzes Leben beschäftigt, fand ich auch diesmal keine eindeutige Antwort darauf. Vielleicht haben Sie einen Vorschlag für mich?
Etwas später am Abend schlief ich innerhalb weniger Sekunden tief ein.
Ob ich mich darüber freuen konnte, dass wir in vierzehn Tagen wieder zum Augenarzt müssen erschloss sich mir noch nicht. Aber ich werde meine Liebste in jedem Fall begleiten, gar keine Frage.
©Newcomer