der Fremde
Eine angenehme Wärme umgab mich als ich auf der Veranda meines kleinen Appartements sass und nach draussen blickte. Ich beobachtete das Geschehen am Strand, welcher direkt vor mir lag. Einige Pärchen spazierten händchenhaltend der Strandpromenade entlang, Kinder liessen ihre Drachen steigen und stürzten sich lachend ins Meer. Andere genossen einfach die herrliche Abendstimmung an der Küste Kaliforniens.
Vor zwei Jahren hatte es mich nach Santa Barbara gezogen. Anders gesagt hielt mich nichts mehr in Illinois. Meine Schwester starb, mit ihren erst 10 Jahren, bei einem Autounfall. Mein Vater verliess uns als ich sechs Jahre alt
war und meine Mutter ist Alkoholikern. Sie war eine gute Frau, schön, intelligent und mit ihrer speziellen Art zog sie alle in ihren Bann. Doch als mein Vater uns verliess ging es Berg ab. Sie heulte Nächte lang und verkroch sich in ihrem Zimmer, man bekam sie fast nicht mehr zu sehen. Ihre Depressionen nahmen zu, sie fing an zu trinken, Drogen zu nehmen und kündigte ihren Job. Ich war damals 16, versuchte ihr zu helfen und sie zu unterstützen, doch dass alles nützte nichts. Irgendwann fasste ich einen Entschluss. Ich musste weg, ich musste mein Leben leben und so kam ich nach Santa Barbara.
Ein kühler Luftzug holte mich wieder in die Realität zurück. Ich warf ein Blick auf die Uhr es war bereits viertel nach acht, mir blieb also
noch eine Halbestunde bis zum Arbeitsbeginn. Der Nachtclub in dem ich arbeitete lag etwa zehn Minuten von meinem Block entfernt. Das Sparks war nichts Besonderes, ein Club wie jeder andere. Ausgestattet mit drei Bars, einer riesigen Tanzfläche und einigen Lounges die so gut wie immer besetzt waren. Ich war zufrieden mit meinem Job, doch es war nie wirklich das was ich wollte. Für den Moment aber, reichte mir das. Ich verliess die Veranda und lief in mein Schlafzimmer wo sofort der hölzerne Schrank auffiel, da er etwa ein Drittel meines Zimmers einnahm. Ich zog an der Schiebetür, welche sich dann mit einem quietschenden Ton öffnete und meine Augen scannten sofort die verschiedenen Ablagen. Ein dunkelblaues, rückenfreies Top fiel mir
sofort ins Auge, ich versuchte es herauszunehmen ohne alle anderen Kleidungsstücke mit zu reissen, was gar nicht so einfach war. In Kombination mit einer Jeans Hotpants und meinen weissen Converse Schuhen war das Outfit perfekt und ich begutachtete mich im Spiegel. Meine braungrünen Augen funkelten und die wilden Locken die ich von meiner Mam geerbt hatte, fielen mir widerspenstig ins Gesicht. Ich schnappte mir meine Tasche und einen Cardigan und verliess mein Apartment. An der Wand des Blocks stand schon mein etwas verrostetes Fahrrad bereit, welches ich schon seit meiner Jugend besass. Ich schwang mich auf den Sattel und trat in die Pedale. Zu dieser Zeit war noch viel los auf den Strassen,
Familien fuhren mit ihren Cheaps nach Hause, Jugendliche stürzten sich ins Nachtleben und einige Fahrradfahrer genossen noch die letzten Sonnenstrahlen vor Einbruch der Nacht. Santa Barbara war wirklich schön. Nach ungefähr zehn Minuten auf der etwas holprigen Strasse, sah ich von weiten das Sparks wo sich schon einige Menschen vor dem Eingang versammelt hatten. Die Türöffnung war erst um neun, also blieb mir noch etwas Zeit. Ich sprang vom Fahrrad und ging die letzten paar Meter bis zum Club. Mein Fahrrad parkierte ich auf den Personalparkplätzen und lief direkt auf den Eingang zu, wo mich auch schon der Türsteher mit einem Lächeln begrüsste. Ich schenkte ihm ein Lächeln zurück und
durquerte den Club bis zur Bar. „Na Camila, bereit für eine anstrengende Nacht“, tönte es hinter der Bar Theke hervor, wo mich der Barkeeper Alan schon freudig erwartete. „Na klar, es kann losgehen“. Also stellten wir noch einige Getränke in den Kühlschrank und bereiteten die verschiedenen Cocktails und Drinks vor. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir dass es schon neun Uhr war. Nach und nach füllte sich der Club und die ersten Getränke wurden ausgegeben. Heute war nichts besonders los, der DJ spielte seine Beats, die Menge tanzte und einige Betrunkene mussten rausgeworfen werden, Standard eben. Ich beobachtete die vielen Leute auf der Tanzfläche die mit ihren verschwitzten Körpern, eng aneinander
tanzten und sich im Rhythmus bewegten. Einige Gesichter waren mir bekannt, da sie fast jedes Wochenende im Sparks feierten. Ab und zu machte ich neue Bekanntschaften, jedoch nichts Ernstes. Ich war lieber vorsichtig, denn mit Freundschaften hatte ich wenig gute Erfahrungen gemacht, Einzelgänger eben. Schluss jetzt mit dem Selbstbemitleiden!, meldete sich meine nervige, innere Stimme. Ganz in meinen Gedanken vertieft bemerkte ich nicht dass jemand an der Bar stand. Ich blickte auf und sah in ein fremdes Gesicht. So wie er sich herumschaute, nahm ich an dass er das erste Mal im Sparks war. „Eine Whisky Cola, bitte“, ich antwortete nur mit einem Nicken und mixte gekonnt seinen Drink. Da ich schon eine Zeit
in der Bar arbeitete konnte man mich schon fast als Profi bezeichnen. Sein kaltes Getränk stellte ich auf die Bar Theke. „Der erste Drink geht aufs Haus“, sagte ich lächelnd. Dankend nahm er den Drink entgegen und bewegte sich Richtung Tanzfläche. Ich schaute ihm nachdenklich hinterher denn irgendetwas an ihm schien mir komisch. Bevor ich mir weitere Gedanken machen konnte, kam eine Gruppe Jugendlicher an die Bar welche ihre Getränke bestellen wollte, also widmete ich mich wieder meinem Job.
Nach meiner Schicht nahm ich mir eine Cola aus dem Kühler und suchte mir einen Weg durch die tanzende Menge, damit ich zum Ausgang gelang. Den Fremden konnte ich nirgends mehr sehen als ich unauffällig den
ganzen Club gescannt habe. Draussen war es angenehm kühl und überall blinkten und flackerten Lichter aus unzähligen Clubs. Ich lehnte mich an die Betonwand und zündete mir eine Kippe an. Nachdem ich fertig geraucht hatte ging ich nochmals hinter die Bar um meine Tasche zu holen. Elena, welche mich nach meiner Schicht abgelöst hatte, war damit beschäftigt, den Betrunkenen Gästen klar zu machen dass wir keine Gratis Getränke ausgaben. Ich schaute sie mit einem bemitleidenden Blick an und winkte ihr zum Abschied. Danach schnappte mir meine Tasche vom Garderoben Haken, verabschiedete mich von Alan und verliess den Nachtclub, welcher noch voll in Betrieb war.
Mein Fahrrad schloss ich auf und fuhr die kleine Gasse entlang welche mich zur Hauptstrasse führte. Es war nun 2 Uhr Morgens und die Strassen waren leer. Ab und zu hörte man Gelächter und Bässe der Clubs. Plötzlich vernahm ich ein seltsames Geräusch, es klang wie ein schmerzhaftes Stöhnen. Zuerst dachte ich mir ich hätte mich bloss getäuscht aber ich hörte es noch zwei, drei Mal. Nachdem ich mir sicher war dass es keine Einbildung war, stieg ich von meinem Fahrrad und stellte es an eine Mülltonne. Ich ging ein paar Meter in die Richtung des Geräusches und nach einigen kurzen Abzweigungen gelang ich in eine Nebenstrasse. Da es kein Licht mehr hatte, mussten sich meine Augen erstmal an die
Dunkelheit gewöhnen. Von weitem sah ich eine Gestalt die zusammengekrümmt am Boden lag, langsam ging ich ein paar Schritte auf sie zu. Als ich noch knapp ein Meter entfernt war, erkannte ich ein Gesicht. Was für ein Zufall, es war der seltsame Typ von der Bar.
Carolstreet 54?
Sein Gesicht war schmerzverzehrt und an seinen starken Oberarmen und am Hals waren Spuren von einer Schlägerei zu erkennen. „Was ist denn mit dir passiert?“, fragte ich ihn. Er warf mir einen bösen Blick zu und murmelte bloss dass ich mich verziehen sollte. Im ersten Moment wollte ich mich umdrehen und gehen, doch ich dachte nochmals drüber nach und reichte ihm meine Hand. Zuerst zögerte er, gab sich nachher aber doch einen Ruck und griff nach meiner Hand. Ich half ihm aufzustehen was gar nicht so einfach war, da er sehr kräftig war und daher nicht gerade zur leichten Sorte gehörte. Als er schlussendlich auf beiden Beinen stand,
zog er seine Hand schnell zurück und wischte sich übers Gesicht. „Danke“. Das war alles was er sagte? Schien nicht gerade ein gesprächiger Typ zu sein. „Kann ich dir noch irgendwie helfen?“. „Nein schon okay, ich muss jetzt gehen.“. „Willst du mir wennschon deinen Namen verraten? „ Es ist besser wenn du es nicht weisst“, nuschelte er mit einem gefährlichen Unterton, also beliess ich es dabei. Fünf Sekunden später war er schon um die nächste Ecke verschwunden. Auf dem Boden war Blut zu sehen und oh, da war eine braune Ledertasche. Der Fremde schien sie vergessen zu haben. Ich schnappte mir die Tasche und rannte schnell die Strasse zurück von der ich kam, doch er war nirgends mehr zu sehen. Da stand ich also mitten auf der
Strasse, mit einer Tasche eines fremden in der Hand. Wer würde da schon keinen Blick reinwerfen? Ich musste meine Neugier stillen, also beschloss ich die Tasche mit nach Hause zu nehmen und sie dann genauer anzuschauen. Nachdenkend lief ich zurück zur Mülltonne, wo mein Fahrrad glücklicherweise immer noch stand. Die Tasche klemmte ich auf den Gepäckträger und fuhr dann nach Hause.
Am nächsten Morgen weckten mich die Sonnenstrahlen, welche durch einen kleinen Spalt in der Jalousie mein Gesicht kitzelten. Ich streckte mich ausgiebig und liess mein Blick zu meiner Nachtkommode schwanken, wo ich letzte Nacht die Ledertasche hinlegte. Die Riemen waren schon etwas ausgefranst
und an ein paar Stellen war das Leder sehr dünn. Die Tasche schien schon vieles durchgemacht zu haben. Ich nahm sie also von der Kommode und leerte den ganzen Inhalt auf mein Bett. Auf den ersten Blick war nichts Verdächtiges zu sehen. Bloss ein Ausweis, ein Bündel mit Dollarscheinen, ein Schlüssel und ein Umschlag. Zuerst schaute ich mir den Ausweis an. Luan Navarro war also sein Name. Er stammte ursprünglich aus Mexiko was man ihm auch ein bisschen ansah. Vom Ausweis vernahm ich auch, dass er 25 Jahre alt war. Also war das Passfoto wahrscheinlich vor ein paar Jahren gemacht worden, da er deutlich älter aussah als ich ihn gestern kennengelernt hatte. An einem Schlüsselanhänger hingen diverse Schlüssel,
welche mich nicht weiter interessierten. Mein Blick fiel auf den schwarzen Umschlag. Er war nicht adressiert und hatte auch keine Briefmarke darauf. Sollte ich ihn öffnen? Da ich sowieso dabei war in seinem Privatleben zu schnüffeln, konnte ich auch den Umschlag öffnen. Also riss ich ihn auf und ein kleines Kärtchen fiel heraus. Darauf war nur eine Karte von Santa Barbara zu sehen und in einer geschwungenen Handschrift stand 24. August, 20.00 Uhr, Carol Street 54. Was wollte das wohl auf sich haben? Bevor ich weiter nachdenken konnte, klingelte es an der Haustür. Schnell packte ich alles zurück in die Ledertasche und lief auf die Veranda, um zu sehen wer mich an einem Sonntag besuchen wollte. Ich warf ein Blick über das Geländer
und sah Jaden. Ganz ruhig bleiben, redete ich mir selber ein. „Du hast etwas was mir gehört, ich will es zurück.“ „ Ähm, du meinst wohl deine Ledertasche“, sagte ich ganz unschuldig. Schnell warf ich mir seine Tasche über die Schulter und stieg das Treppenhaus hinunter. Unten angekommen öffnete ich die Eingangstür und sah in ein genervtes Gesicht von Jaden. Ich lächelte ihn unschuldig an und streckte meine Hand mit der Tasche aus. „Halt dich aus meinem Leben fern!“, schrie er mich schon fast an. „Ein Dankeschön wäre wirklich nicht zu viel verlangt“ konterte ich und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Was bildete er sich eigentlich ein? Dass ich ihm gestern geholfen hatte und dann auch noch seine Tasche rettete war ihm anscheinend egal.
Ich ging zurück in mein Apartment und schaltete meinen Laptop an. 24. August, 20.00 Uhr, Carol Street 54, diese Karte liess mich einfach nicht los. Ich wusste dass etwas nicht stimmte, den Jaden wäre niemals so wütend gewesen bloss wegen einer Tasche. Nein, da musste mehr dahinter stecken. Bei Google-Maps druckte ich mir die Strasse aus und legte sie auf meinen Schreibtisch. Der Treffpunkt lag etwa eine halbestunde von mir entfernt. Heute war bereits der 23. August, also beschloss ich Morgen dort hin zu fahren. Jaden sagte mir zwar ausdrücklich dass ich mich aus seinem Leben fernhalten sollte, doch so ein bisschen Detektiv spielen konnte ja nicht schaden. Ich klappte meinen Laptop zu,
legte ihn zusammen mit der Karte in meine Tasche und verliess mein Zimmer.