Der Schatz der lieben Jungen
Spinnweben schlugen ihm ins Gesicht. Niko wischte sie weg, entschlossen, seinen Weg fortzusetzen. Irgendwo hier musste der fürchterliche Drache sein Unwesen treiben. Die Schätze des Monsters waren legendär. Da würden ihm ein paar hauchzarte, klebrige Netze nichts machen. Außerdem hatte er ja Bischof, seinen tapferen Gefährten, der ihm hinterdrein tapste. Gemeinsam müssten sie es schaffen, die Bestie zu erlegen. Erneut schlug er ein Netz beiseite.
"Niko, Mittagessen!" Omas Stimme riss den
Tapferen aus seiner Queste.
"Aber Oma, ich muss doch den Drachen erlegen!", begehrte Niko auf. "Die Hirten beschweren sich, dass er ihre Schafe reißt!"
Die gemütliche Gestalt seiner Großmutter erschien in der Speichertür.
"Wusstest du nicht, dass Drachen in der Mittagszeit Winterschlaf halten?", schüttelte sie den Kopf. Niko sah sie erstaunt an.
"Nein, das wusste ich nicht. Müsste es dann nicht eigentlich Mittagsschlaf heißen?", fragte er. Oma lachte.
"Könnte man auch sagen. Jedenfalls schlafen sie", antwortete sie und geleitete Niko mit fester Hand zum Bad, wo er sich die Spinnweben abwusch.
Opa saß schon am Mittagstisch.
"Na, du Racker, was hast du angestellt?", fragte er lächelnd.
"Drachen gejagt", antwortete Niko stolz. "Aber Oma sagt, sie machen Mittagsschlaf." Opa nickte.
"Da hat Oma recht. Aber sag, wo ist denn deine Rüstung und dein Schwert? Die braucht man doch zum Drachenjagen."
Niko zog eine Grimasse und zeigte auf seinen warmen Pulli aus grauer Wolle und den übergroßen, dicken Bleistift. Opa schüttelte den Kopf.
"Was anderes habe ich nicht", murmelte Niko betreten. "Aber dafür begleitet mich Bischof ja. Er ist ein großer Mäusejäger, sagt ihr, da sollte ihm ein Drache auch nichts machen."
Opa grinste.
"Bestimmt nicht. Aber wir schauen nach dem Mittagessen mal, was wir an Rüstung für dich finden. Mein altes Schwert habe ich sicher noch irgendwo", meinte er, während er Niko Kartoffeln auf den Teller schaufelte. "Nu iss aber mal tüchtig, damit du den Drachen auch besiegst!"
"Du hast ein Schwert?" Nikos Augen leuchteten.
Nach dem Mittagessen räumte Oma die Spülmaschine ein, während Opa seinen Rollstuhl auf den Treppenlift fuhr.
"Denn komm mal, Niko. Wo das Schwert ist, weiß ich, aber den Panzer müssen wir noch suchen", forderte er seinen Enkel auf. Begeistert rannte Niko neben dem Lift die
Treppe hinauf.
"Wo hast du das eigentlich her, Opa?", fragte er gespannt. Dass jemand eine echte Rüstung und ein Schwert haben sollte, erschien ihm ungewöhnlich.
"Tja, weißt du, als ich so alt war wie du, da hat man mich einen Sommer zu den Großeltern in Schweden geschickt. Das ist weit weg von hier, im Norden, und da ist es ziemlich kalt. Ganz weit im Norden von Schweden wiederum, wo es noch kälter ist, leben die Samen. So nennt man das Volk. Und es gab ein... nun, heute würde man vermutlich Sommercamp dazu sagen, da oben. Wir haben auch Samenkinder kennengelernt, und mit einem hab ich mich besonders angefreundet. Sein Vater war ein
echter Schmied!" Opas Augen glänzten bei der Erinnerung, und er musste eine kleine Pause machen.
"Jedenfalls, Sami war ein begeisterter Ritter und hatte von seinem Vater eine Rüstung geschenkt bekommen, die ihm aber inzwischen zu klein war. Also hat sein Papa ihm eine neue gemacht, und ich habe die alte Rüstung bekommen, weil ich kleiner war als Sami.
Aber das Schwert, das war was ganz besonderes! Weißt du, ein Schwert vergibt man nicht an jeden. Ein Schwert muss man sich verdienen. Ich habe Samis Hund davor beschützt, von andern Kindern mit Steinen beworfen zu werden, weil er nur drei Beine hatte. Dafür hat mir Ole dann ein Schwert
geschmiedet."
Opas Erzählung hatte Niko beeindruckt. Als Opa also das Schwert, fest eingewickelt in eine Decke, aus dem Kleiderschrank holte, war er entschlossen, es sich zu verdienen. Dummerweise brauchte er es, um den Drachen zu erschlagen. Sein Großvater wickelte das Schwert langsam aus und sah Niko nachdenklich an. Dann reichte er es seinem Enkel.
Niko nahm es ehrfurchtsvoll. Es war ein richtiges Schwert, ganz aus Metall, genau für einen Menschen seiner Größe passend. Es war auch erstaunlich schwer.
"Niko, du musst mir hoch und heilig versprechen, damit niemals jemanden zu schlagen, auch nicht im Spaß. Schwerter
brauchen nicht scharf zu sein, um Leute schwer verletzen zu können", ermahnte er den Jungen ernst. "Es ist nicht nur schwer, sondern auch spitz, und wenn du damit jemanden haust oder stichst, kann er daran sterben."
Niko sah seinen Opa ernst an und nickte.
"Sterben? So wie Fridolin, als ihn das Auto überfahren hat?" Traurig dachte Niko an den alten Hund, den seine Großeltern letztes Jahr verloren hatten. Opa nickte.
"Genau so. Also, versprichst du es mir?"
Wieder nickte Niko.
"Ganz fest, Opa, versprochen!", bestätigte er feierlich und zog das Schwert aus der Scheide. Es war wunderschön - schlicht in der Form, mit ein paar hübschen Mustern im
Metall. Ehrfürchtig ließ er es wieder zurückgleiten.
"Danke Opa!" Er fiel seinem Großvater um den Hals.
Danach suchten sie die Rüstung.
"Weit kann sie nicht sein", brummte der Opa. "Ich hab sie vor gerade einmal fünf Jahren oder so noch gesehen. Hab noch gedacht: 'In fünf Jahren ist die was für dein Enkelchen.'"
Fünf Jahre! Das war eine Ewigkeit. Niko suchte fleißig.
"Was ist damit?" Er zeigte auf Omas Nähschrank - ein winziges Zimmerchen, in dem viele Stoffe, Nadeln, Garne und ihre Nähmaschine lagerten.
"Kann eigentlich nicht sein, aber guck mal trotzdem, vielleicht hat Oma sie umgeräumt", meinte Opa und rollte näher. Niko machte die Tür vorsichtig auf. Opa warf einen Blick in den Raum und schüttelte sich.
"Ich mag keine Nadeln", brummte er wieder. "Aber schau mal, Niko - da hinten die Tüte hinter dem orangefarbenen Stoff, hol die mal her. Pass auf; wenn das die Rüstung ist, ist sie sehr schwer."
Niko wuselte zu dem angegebenen Fach und legte den orangefarbenen Stoff beiseite. Dahinter kam eine dicke Stofftasche zum Vorschein. Als er versuchte, sie herauszuziehen, keuchte er auf.
"Boah, Opa, ist das schwer!" Opa nickte nur.
"Stahl, Junge. Das ist nun mal schwer. Aber
Alu würde ja auch keine Drachenzähne aufhalten, stimmts?"
"Stimmt."
Oma half mit Opas Rat dem Ritter, die Rüstung anzulegen. Sie war schwer, aber am Körper längst nicht so sehr, wie Niko befürchtet hatte.
"Ich seh nix!", beschwerte der Drachentöter sich. Opa klopfte an den Helm.
"So war das eben, Junge. Aber ohne beißt dir der Drache den Kopf ab", antwortete er. Niko konnte das Glucksen in seiner Stimme hören. Opa lachte.
"Lachst du mich aus?", fragte er empört.
"Aber nein, Niko. Ich erinnere mich nur, wie ich damals damit das erste Mal durch den
Wald gelaufen bin. Ich bin Kopf voran in den nächsten Baum gelaufen", beruhigte Opa ihn. "Jetzt aber Abmarsch und den Drachen getötet, bevor der seinen Nachtschlaf hält!"
Wieder schlugen Niko die Spinnweben an den Kopf, doch dieses Mal ignorierte er sie völlig, denn sie klebten nur am Helm. Mit dem Schwert teilte er die grauen Vorhänge. Bischof maunzte leise.
Dort! Im Dunkeln leuchtete etwas. Schimmernder Schein fiel auf graugrüne Schuppen. Leise schlich Niko sich näher. Die Rüstung klapperte, und er blieb stocksteif stehen. Hoffentlich hatte ihn das jetzt nicht verraten! Doch der Drache rührte sich nicht.
Noch ein Schrittchen. Und noch eins. Nun
stand Niko am Rand der Höhle. Der Drache lag dort und schlief. Ja, schlief der denn immer?
Mit einem welterschütternden Kriegsschrei sprang Niko in den Kampf. Die Bestie erwachte und spie ihm purpurne Flammen entgegen. Niko war das nur recht, denn es fraß die Spinnweben von seinem Helm ab, tat ihm jedoch nicht mehr. Sein Schwert pfiff durch die Luft.
"Haha! Nimm das, du Monster!", rief er und sprang behende um den Drachen herum. Wieder sang das Schwert. Der Drache wehrte sich aus Leibeskräften, doch er war der magischen Rüstung und dem heiligen Schwert nicht gewachsen.
Mit einem gemeinen Fauchen sprang Bischof
dem Drachen in den Rücken. Der war abgelenkt, und so sah Niko seine Chance.
"Stirb, Bestie!" Mit einem letzten Schrei holte Niko zum entscheidenden Schlag aus. Er traf den Drachen am Bein, der knickte ein, und so konnte Niko endlich dem Monster den Garaus machen.
Danach ließ er seinen Blick durch die Höhle wandern. Viel war hier nicht - vielleicht hatte der Drache nur seine Lieblingssachen in seiner Haupthöhle. Niko kroch weiter in die Höhlen hinein und Bischof folgte.
Da vorn! Ächzend zog Niko die schwere Truhe unter dem Vorsprung hervor. Langsam öffnete er das kräftige Lid. Bischof sprang obenauf und lugte neugierig in den sich
öffnenden Spalt. Goldener Glanz belohnte seine Bemühungen. Die Truhe war über und über voll mit goldschimmernden Münzen.
"Bischof, schau! Wir sind reich!", freute er sich und hielt dem orangeroten Kater zwei Goldmünzen unter die Nase. Der maunzte anerkennend. Glücklich sprang Niko die Speichertreppe hinunter, um seinen Großelter von dem wundervollen Fund zu berichten.