Spiegel
Die schwere Tür glitt beinahe lautlos in ihren Angeln in den Flur hinein, bis sie vollständig offen stand. Im ersten Moment konnten Ben und Oliver nicht zuordnen, was sie da gerade sahen. Die offene Tür zeigte nicht etwa, wie zu erwarten, auf eine Mauer im Türrahmen. Sie öffnete auch nicht den Blick in die beiden dahinter liegenden Zimmer, durch welche Ben und Oliver vorher von der Empfangsdame geführt wurden. Ihnen schien ein leichtes, warmes Licht entgegen. An den Wänden hingen Fackeln, welche einen mittelalterlichen
aber geselligen Eindruck erzeugten. Im Reflex drehten sich Ben und Oliver zu allen Seiten und hinter sich um. Sie suchten systematisch den Flur ab, fanden aber nicht das, was sie dort zu sehen erwarteten. Die Fackeln. Die beiden Männer starrten sich kurz unentschlossen und unsicher an, denn hinter der Tür sahen sie direkt in den Flur hinein, in welchem sie selber gerade standen. Mit kleinen Ausnahmen. An den Wänden hingen keine elektrischen Lampen, sondern Fackeln. Es war auch sonst niemand auszumachen. Es war also kein Spiegel oder ein ähnlicher Trick, sonst hätten
sich Ben und Oliver selber sehen müssen. Wie aber konnte hinter der Tür ein Raum mit diesen Dimensionen liegen? Noch vor einigen Stunden sind die beiden durch eine Tür in der Wand genau hinter dieser Tür gegangen und haben physikalisch bewiesen, dass hinter der mit Schnitzereien verzierten Tür kein Raum mehr existieren konnte.
‚Hallo?‘ rief Ben intuitiv der Tür entgegen. Schließlich hatte ja noch wenigen Augenblicken jemand mit ihnen gesprochen. Mehr noch, die Stimme hatte ihnen gedroht.
‚Hallo? Wer ist denn da? Was willst du
von uns?‘ Ben hatte sich schon früh angewöhnt, Personen, die ihn provozierten direkt mit Du anzusprechen. Das demonstriert neben Gleichgültigkeit eine gewisse Dominanz. In vielen Fällen hilft das bereits, einen handgreiflichen Konflikt im Vorfeld zu ersticken, da der Provokateur nicht selten durch dieses Verhalten ein wenig eingeschüchtert wird.
Der Blick in den Flur hinter der Tür führte in gerader Linie auf die in das Erdgeschoss führende Treppe, sowie auf Bens und Olivers Seite der Tür die
Treppe aus dem Erdgeschoss auf die Tür zuführt. Beide Männer rührten sich keinen Millimeter und lauschten in die geöffnete Tür hinein. Auf der Treppe hinter der Tür sahen die Männer einen Lichtschein die Treppe hochleuchten. Er wurde immer heller, bis schlussendlich ein Fackelfeuer über die letzte Stufe ragte. An der Bewegung der Fackel konnte man sehen, dass sie in einer Hand gehalten wurde und die Treppe hochgetragen wurde. Der Träger selbst jedoch blieb durch den Fackelschein verdeckt. Durch das rot-orange Feuer zischte die markante Stimme hindurch:
‚Kommt, tretet über. Euch soll kein
Leid geschehen, ihr seid willkommen. Tretet über.‘
Ben blickte Oliver unentschlossen an.
‚Gleich ist es nicht mehr sicher! Bitte, beeilt Euch! Ich kann den Durchgang nicht mehr lange sichern.‘ Die vorher feste und drängende, schon beinahe drohende Stimme wurde nun von einem ängstlichen Unterton begleitet. Das Drohende wechselte spürbar ins Flehende.
Am Ende siegte die Neugierde beider Männer. Sie mussten einfach einmal die Hand durch den Türrahmen stecken, um sich zu vergewissern, dass dies
tatsächlich kein Trick ist.
‚Gut, gut so. Immer weiter. Es wird Euch nichts passieren. Bitte tretet über.‘ Das Flehen übernahm nun ganz deutlich die Zügel.
‚Wohin sollen wir kommen? Wir folgen bestimmt keinem Fremden in einen Raum, den es eigentlich nicht gibt. Zeige dich und wir können über alles reden.‘ Die Gestalt hinter der Fackel schwieg einen langen Moment. Dann ganz plötzlich stoben Funken aus der Fackel, wie bei einer Wunderkerze und die Flamme vergrößerte sich um das Dreifache. Der orangefarbene Kern veränderte seine Form und bildete, zum
Unglauben der beiden Männer, das Relief eines Gesichtes. Nicht irgendeines Gesichtes.
‚Siehst du das auch?‘ fragte Oliver Ben beine flüsternd.
‚Ja. Aber ich kann es nicht glauben.‘
‚Was hat das zu bedeuten?‘
‚Ich weiß es nicht. Aber ich bin jetzt neugierig. Kommst du mit?‘
‚Sollten wir nicht vorher jemandem Bescheid sagen?‘
‚Wem denn? Los jetzt. Ich will den Trick wissen, wie jemand in einer Fackel das Gesicht von Opa erzeugen
kann.‘
Oliver legte seine Hand auf Bens Schulter und drückte diese als Bestätigung feste zu. Dann traten die Brüder gemeinsam mit einem prüfenden, großen Schritt durch den Türrahmen. Die Fackel war bereits die Treppe herunter geglitten und schwebte förmlich im stockfinsteren Foyer des Hotels. Der Flur, in dem sie nun standen glich dem Flur, den sie gerade verlassen hatten aufs Haar, eben bis auf die Fackeln. Nach einem Rundblick den Flur und das Treppenhaus entlang drehten sich die Männer um, und prüften den Durchgang. Der Türrahmen war zu ihrer
Erleichterung noch immer da. Auch die Tür mit den wundervollen Schnitzereien und dem massiven Griff war noch da. Während die Tür sich langsam schloss begannen die Angeln schwer zu keuchen und zu reiben. Die schmiedeeisernen Beschläge krümelten ein wenig, Rost rieselte aus den Scharnieren heraus, während die Tür sich immer weiter Schloss. Um jeden Zentimeter, welchen die Tür den Spalt verringerte, nahm der Rostbefall an den metallischen Elementen der Tür zu.
‚Sie stirbt.‘ Tönte es aus dem Foyer. Die Fackel stand noch immer als einzige Lichtquelle im Eingangsbereich des
Hotels. Die Fackeln im Flur neben der Tür erloschen langsam und so zog die Fackel mit der Stimme Ben und Oliver immer mehr an.
‚Was soll das bedeuten? Sie stirbt?‘ fragte Oliver die Fackel, während sie die Treppe hinunterschritten.
‚Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen erst hier fort. Ich erkläre Euch alles. Auch das mit der Tür. Wir sind hier nicht mehr sicher. Folgt mir bitte. Ihr habt von mir nichts zu befürchten.‘
‚…sagte die Hexe zu Hänsel und Gretel…‘ betonte Ben und fügte hinzu, dass sie keinen Meter gehen würden, ohne zumindest zu sehen, mit wem sie es
hier zu tun hatten.
‚Ich kann mich nicht zeigen, noch nicht. Ihr müsst erst ein paar Dinge wissen.‘
‚Dann los, wir hören gut und gerne zu.‘
‚Nicht hier, nicht jetzt. Wir müssen erst hier raus.‘ Die Stimme wurde immer stärker von Angst und Panik beherrscht.
‚Ist keine Option. Entweder jetzt die Informationen, oder wir gehen wieder.‘
Stille. Die Fackel bewegte sich nicht, sprach aber auch nicht. Dann begann sie langsam aber stetig heftiger zu zittern. Die Stimme hinter dem Feuerschein war nur noch sehr dünn und wechselte in eine
Lage, welche von purer und blanker Angst zeugte.
‚Er ist hier…wir müssen sofort los.‘ Die Männer sahen sich um und versuchten herauszufinden, wovor die Fackel so fürchterliche Angst hatte. Aber sie konnten nichts sehen. Fast nichts. Im Flur mit der Tür begannen die Stoßkanten der Holzleisten an der Wand zu leuchten. Wie ein starker Schweinwerfer hinter einem sehr dicht gesetzten Lattenzaun drängte ein dunkelroter Lichtschein durch die Ritzen hindurch. Es wirkte beinahe so, als ob das Holz sich verbiegen würde. Als ein tiefes Grollen hinter der Wand
ertönte erlosch die Fackel beinahe vollständig und die Brüder realisierten, dass sie eventuell tatsächlich in Gefahr sein könnten.
‚Bitte…lasst uns sofort verschwinden…bitte…‘. Mit diesen Worten bewegte die Fackel sich bereits langsam zur Eingangstür des Hotels. Ben und Oliver diskutierten nicht mehr, sie folgten dem Lichtschein so gut es ging, während hinter ihnen das Grollen anstieg und das rote Licht die Wände beinahe aufzulösen schien. Sie stürmten in ihren Schlafsachen durch die schwere Holztür raus in den Wald. Sie sprinteten der Fackel über den Parkplatz in den
umliegenden Wald hinterher und hatten große Mühen, das Licht im dichten Labyrinth der Baumstämme nicht zu verlieren. Doch dann auf einmal war es verschwunden. Kein Licht mehr. Keine Orientierung. Nur zwei schwer atmende, junge Männer in ihrer Unterwäsche in einem Wald. In einem Wald hinter einer Tür, die es eigentlich nicht geben darf, auf der Flucht vor etwas, was den beiden vollkommen unbekannt ist. Um sie herum knackte es im Unterholz. Die Geräusche schienen aus allen Richtungen zu kommen. Sie waren völlig schutzlos und ohne Ortskenntnisse. Ben verfluchte sich
leise, dass er seiner Neugier wieder mal nicht wiederstehen konnte und sie nun seinetwegen in Gefahr waren. Er rückte näher an seinen Bruder heran und versuchte zu beurteilen, wie gefasst oder panisch dieser wohl war. Oliver machte einen ruhigen Eindruck. Er suchte im Dunkeln mit zusammengekniffenen Augen nach Anhaltspunkten, wo die Geräusche herkommen könnten. Das Knacken und Brechen von Zweigen wurde immer lauter und schien immer näher zu kommen.
‚Siehst du auch die Umrisse, Ben?‘
‚Ich bin mir nicht sicher, was ich
sehe.‘
Dann war es auf einen Schlag totenstill. Kein Rascheln, kein Knacken. Zwischen den Bäumen, deren Formen sich in der Dunkelheit schnell verloren, zeichnete sich eine massige Gestalt ab. Sie schritt selbstbewusst und verhältnismäßig langsam voran. Auf der einen Seite signalisierte das Dominanz und schüchterte ein, auf der anderen Seite nahm es das Bedrohliche, da es keine schnellen, aggressiven Bewegungen gab. Ben war absolut unsicher und wog gerade ab, ob Angriff die beste Taktik zur Verteidigung sein könnte, oder ob er lieber warten sollte. In dem Moment, in
welchem er seine Muskeln anspannte und sich für einen Kurzsprint vorbereitete, sank die Gestalt auf die Knie.
‚Ihr seid wirklich gekommen. Ich kann es nicht glauben. Willkommen in unserer Mitte, Erben.‘