Gernot und der fliegende Dachziegel
Die Abenteuer vom kleinen Geist haben alle einen wahren Hintergrund, die ich meinen Enkelkindern als Märchen erzählt habe
Bild und Text von Marle
Den ganzen Tag schon wollte es nicht
richtig hell werden. Dicke, graue Wolken
bedeckten den Himmel und hin und wieder regnete es. Der Wind brauste pfeifend durch die Straßen und der Wetterbericht im Radio gab für die Nacht sogar Sturmwarnung durch.
Es war kein Tag an dem die Menschen sich gerne draußen aufhielten.
Wer nicht unbedingt unterwegs sein musste, blieb in seiner warmen Stube und hatte es sich dort gemütlich gemacht.
Auch Tante Mastha war ganz froh, dass sie nicht zur Arbeit musste. Es war Sonntag und sie hatte frei.
Aber so richtig Ruhe finden konnte sie nicht. Sie kontrollierte in ihrem Haus immer wieder die Türen und Fenster, ob sie auch gut verschlossen waren. Der Sturm sollte keine Möglichkeit haben Schaden anzurichten.
Ganz anders Gernot. Er war richtig hibbelig und freute sich schon auf die Geisterstunde, in der er endlich nach
draußen durfte. Kam doch sein bester Freund zu Besuch.
Brausewind.
Er war lange nicht da gewesen. Er hatte ein paar Wochen Urlaub gemacht und schien nun erholt und ausgeruht zu sein. Er schaute sogar im Sturmschritt vorbei.
Immer wenn Brausewind so kräftig war, machte das Spielen besonders viel Spaß.
Dann vermochte er Gernots Geisterröckchen so dick aufzublähen, dass der kleine Geist ganz mühelos kilometerweit fliegen konnte. Meist war dann Wettfliegen angesagt. Wer von beiden der Schnellere war, wurde Sieger.
Nur diesmal war die Zeit zu kurz. Hatten sich die Beiden doch lange nicht gesehen
und anfangs viel zu erzählen gehabt. Brausewind über seinen Urlaub und Gernot von seinen Abenteuern. Ehe sie richtig zum Spielen kamen, nahte das Ende der Geisterstunde.
Da beschlossen die beiden kurzerhand auf dem Dachboden weiter zu machen.
Brausewind drückte eine Dachluke auf und hast du nicht gesehen; Schwupps, waren sie auch schon drin. Nun konnten sie spielen so lange sie wollten, ganz ohne auf die Zeit zu
achten. Erst flogen sie auf dem Dachboden kreuz und quer, bliesen und pusteten wild um die Wette, spukten in allen Ecken herum und sausten und brausten was das Zeug hielt.
Schließlich gab Gernot eine Tanzeinlage.
Er drehte künstlerische Pirouetten, schwenkte nach links, wieder nach rechts, wiegte die Hüften und sprang in
die Luft. Brausewind und die anderen Dachbodenbewohner staunten nur so. Ein Dachziegel war besonders angetan und konnte sich überhaupt nicht satt sehen.
Immer wieder rief er begeistert aus, wie wunderschön Gernot doch Kunstfliegen
konnte.
So fliegen können wollte er auch. Immer auf der gleichen Stelle liegen bei brennender Hitze, Schnee und Regen, war ihm über und langweilig geworden.
Dem Dachziegel wurde plötzlich klar, wie eintönig sein Dachziegelleben war. Nun wollte er auch durch die Lüfte schweben, die Welt bereisen und was Schönes erleben. Er flehte die beiden förmlich an, sie mögen ihm doch das Fliegen zeigen.
Brausewind war gleich dabei, nichts leichter als das. Er hatte schon ganz anderen das Fliegen beigebracht. Bäume und Sträucher, die viel schwerer waren, als so ein alberner, tönender Dachziegel.
Das war für ihn ein Kinderspiel. Noch ehe Gernot ihn hindern konnte, holte Brausewind tief Luft und blies dem Dachziegel eins unter die Pfanne.
Der steife Dachziegel flog hoch und segelte ein paar Sekunden lang durch die Luft. Hui, war das ein schöner Spaß, das war lustig. Der Dachziegel konnte viel mehr sehen und wenn er sich wie Gernot bewegte, dann konnte er auch richtig fliegen. Jawohl!
Er musste sich nur ein bisschen drehen, recken, strecken und zur Seite neigen…
Tante Mastha lag im Bett und hörte im Halbschlaf ein schleifendes Geräusch. Irgendetwas rutschte übers Dach und nur
ein paar Sekunden später klirrte es unten auf den Hof
Da war doch nicht etwa, dachte sie. Schlagartig war Tante Mastha hellwach. Sie ahnte schon, was geschehen war, kennt sie doch jedes Geräusch in ihrem Haus. Da war ein Dachziegel vom Dach gefallen. Wie hatte das passieren können? Das Dach war erst ganz neu gedeckt und der Sturm war anscheinend auch vorbei. Zumindest hatte sie kein Pfeifen mehr gehört. Sie sah aus dem Fenster, weil sie sehen wollte, wo der Dachziegel hingefallen war, konnte im Dunkeln aber nichts erkennen und ging nach unten auf den Hof. Da lag er, mitten auf dem Pflaster und war in tausend
Scherben zersprungen.
Tante Mastha schaute hoch, um zu sehen, wo der Dachziegel fehlte und brauchte auch nicht lange zu suchen. Denn da, wo ein schwarzes Loch sein musste, leuchtete hell ein weißes Kleid.
Gernot schaute aus dem Dach heraus und fuchtelte mit beiden Armen aufgeregt in der Luft herum. Und aus der Dachluke neben an, machte sich gerade Brausewind aus dem Staub. Ganz eilig flog er davon.
Tante Mastha traute ihren Augen nicht.
„Das hätte ich mir doch denken können, dass ihr beide dahinter steckt.“, rief sie nach oben. Gernot wehrte sich erst einmal. „Das waren wir nicht. Der dumme Dachziegel hat selber Schuld, dass er vom Dach gefallen ist. Er wollte ja unbedingt fliegen lernen und hat sich in die falsche Richtung
gedreht. Ich habe ihn ja noch fangen wollen, aber ich konnte ihn nicht mehr erreichen.“ „Ein Dachziegel der fliegen lernen will! Das habe ich ja noch nie gehört. Da wird Brausewind wohl nachgeholfen haben, von allein kann ein Dachziegel niemals fliegen.“, vermutete Tante Mastha richtig.
„Ja, schon.“, gab Gernot zu. „Aber nur,
weil der Dachziegel es wirklich so wollte. Ist er schlimm kaputt? Kannst du ihn wieder heile nähen?“
Seit Gernot wusste, dass Tante Mastha mit Nadel und Faden reparieren konnte, war das stets seine erste Frage. Doch Tante Mastha schüttelte den Kopf: „Nein, das geht nicht. Ein Dachziegel ist zum Nähen ungeeignet. Er muss ein Neuer werden. Aber komm du lieber vom Dach herunter, bevor ich dein Kleid noch nähen muss.“
Hm, dachte Gernot, ein Loch im Kleid wäre jetzt nicht mehr so schlimm. Tante Mastha konnte es ja wieder nähen und vielleicht bekäme er dann noch eine Schleife.
Er könnte massenweise Schleifen tragen, Schleifen hatte er besonders gern. Aber wie brachte er Tante Mastha bei, in welche Miesere er gerade steckte?
Brausewind war feige abgehauen und ließ ihn in diesem Schlamassel allein. Das würde er ihm beim nächsten Wiedersehen aber heimzahlen.
Tante Mastha war scheinbar ärgerlich. Nun ja, so Unrecht hatte sie ja nicht. Wären sie nicht auf den Dachboden gegangen, wäre der dumme Dachziegel nie auf die Idee gekommen, fliegen zu lernen und das Dach wäre auch noch heil.
Gernot druckste ein wenig herum und machte schließlich die Flucht nach vorn.
„Kannst du nicht rauf kommen? Ich kann
jetzt nicht.“ Tante Mastha horchte auf: „Was ist los?“
Weil sie keine Antwort bekam, machte sie sich gleich auf den Weg.
Auf den Dachboden angekommen, sah sie ein sonderbares Bild und konnte sich ein Prusten nicht verkneifen. Das sah auch zu komisch aus, wie Gernot in der Decke steckte.
Von ihm war nur das Hinterteil zu sehen und seine Beine zappelten in der Luft herum.
Gernots weißes Geisterröckchen war wie ein Fallschirm aufgebläht und drückte den kleinen Geist in die enge Dachlücke rein.
„Himmel, wie ist das denn passiert?“, musste Tante Mastha lachen. Brausewind hat zu doll gepustet. Er wollte mich ein bisschen schneller machen, damit ich den Dachziegel noch erreiche.“, klärte Gernot die Tante Mastha auf, die nun ihrerseits sehen musste, wie sie das Kerlchen wieder frei bekam. Da war eindeutig ein Atü zu viel unter dem weißen Geisterröckchen. Sie drückte den Rock vorsichtig zusammen und ließ die überschüssige Luft ab, bis sich Gernot aus dem Loch herauswinden konnte.
Danach strich sie säubernd über den Stoff und kontrollierte ob alles heil war.
„Das ist ja noch mal gut gegangen.“, meinte sie, als sie nichts fand.
Als Gernot merkte, dass Tante Mastha gar nicht mehr so böse war, wollte er sich entschuldigen. „Tut mir leid, dass der Dachziegel kaputt gegangen ist. Das wollten wir nicht.“
Da winkte Tante Mastha verständnisvoll ab und zwinkerte ihm belustigt zu.
„Na lass mal. Einen fliegenden Dachziegel kann ich nicht gebrauchen, den hätte ich eh bald ausgetauscht. Ich hoffe nur, es kommen nicht noch mehr auf die Idee fliegen zu wollen. So viele Ersatzziegel habe ich nicht, dass ich das
ganze Dach auswechseln kann. Du kannst ja schon mal in der Bodenkammer nach einem neuen Dachziegel suchen, den wir dann morgen eindecken können. Ich glaube, es hat aufgehört zu regnen und der Sturm ist auch wieder vorbei, da mache ich nur noch die Dachluke zu und gehe dann wieder zurück in mein Bett.“
Gernot blieb die ganze Nacht auf dem Dachboden und hielt Wache bei den Ziegeln.
Na ja, es wäre wohl nicht nötig gewesen; die Dachziegeln blieben auf dem Dach und haben bestimmt in dieser Nacht eine wichtige Lektion gelernt.
Übrigens:
Am nächsten Morgen hörte Tante Mastha
im Radio, dass sich der Sturm in der Nacht urplötzlich gedreht hatte und die dicken Regenwolken über ihr Gebiet in eine andere Richtung trieb. Na wenigstens, so dachte Tante Mastha, hatte Brausewind dafür gesorgt, dass es nicht in ihr kaputtes Dach reinregnen konnte.
Da hatte er wohl wieder was gut machen wollen.
Oh Schreck, ein Wolkenschaf ist weg!
Wo ist es nur geblieben?
Heute sind es nur noch Sechs,
gestern war'ns noch Sieben!
Doch keine Angst, es ist nicht weg.
Das Schäfchen liegt geborgen
neben Dir in Deinem Bett,
behütet Dich bis morgen.
Träum was schönes!
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