Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist nach 20 Jahren in seinen Heimatort zurückgekehrt. Kurz darauf werden angesehene Bürger im Ort, der Geschäftsmann Jürgen Reeder und der Architekt Christian Meyer, tot aufgefunden. Die Polizei geht in beiden Fällen von Selbstmord aus. Gote lernt in einem Buchladen Anna Bäcker kennen und die beiden kommen sich näher. Erstaunlicherweise scheint das Ding in dem Holzkästchen, das Gote mitgebracht hat und welches so wertvoll zu sein scheint, dass es in einen Safe gehört, keinen Einfluss auf sie zu haben. Die Gewalt nimmt kein Ende, als der stadtbekannte Landstreicher Hans Hasenscharte die Institution des Ortes, Leni Silberstein, angreift, die Mutter die ihn verstoßen hat.
"On the shore we sat and hoped
Under the same pale moon
Whose guiding light chose you
Chose you all"
Nightwish - The poet and the pendulum
Die Sonne lachte immer noch. Ihre Strahlen fluteten durch die zwei, nur von der Eingangstür getrennten, großen Schaufenster von Brauns Bücher in den Laden. Man konnte kleine Staubpartikel tanzen sehen. Die Tür war geöffnet und warme Luft strömte herein. Hedwig Braun stand immer noch auf dem Bürgersteig und unterhielt sich mit einigen Bekannten. Im Gegensatz zu ihr hatte Anna
Bäcker das Geschäft nicht verlassen. Von dem im Eingangsbereich stehenden Messingtisch mit den Neuerscheinungen aus hatte sie Hajo Gote durch die Schaufenster entdeckt. Sie gab ihm keine Schuld, weil sie wusste, dass er keine Schuld trug, doch dieser Ausbruch von Gewalt hatte sie erschrocken, furchtbar erschrocken. Wie die meisten kannte sie Hans Anders ihr Leben lang. Ihr war bewusst gewesen, dass sein verwirrter Geist eine verletzte Seele einschloss, doch er war immer freundlich gewesen. Oft trug er auf dem Parkplatz des Supermarktes Leuten ihre Einkäufe und lehnte jegliches materielle Dankeschön dafür ab.
Gott vergibt nicht!
Das gehörte eigentlich nicht zu seinem Wortschatz. Es war neu. Anna hatte es zum ersten Mal bei ihm gehört, nachdem Hajo zurückgekehrt war. Der Zusammenhang war evident. Und dennoch war es nicht seine Schuld. Vielleicht war dieser Ort einfach...
"Das ist nicht zu glauben." Auf wackligen Beinen kam Hedwig Braun zurück ins Geschäft. Ihre Stimme war brüchig und ihr Gesicht kalkweiß. Anna eilte herbei und fasste ihren Arm.
"Sie sehe nicht gut aus. Möchten Sie einen Kaffee? Ich meine einen frischen Kaffee."
Nur mit Mühe rang Hedwig Braun sich ein Lächeln ab. "Danke, Anna. Den könnte ich im Augenblick gebrauchen. Wirklich gebrauchen. Machst Du einen?
"Sonst hätte ich bestimmt nicht gefragt. Außerdem könnte ich selbst auch einen vertragen. So etwas habe ich noch nie gesehen."
"Furchtbar, nicht wahr."
Die Chefin ließ sich von ihrer Angestellten zur Theke führen. Zum Glück war im Augenblick kein Kunde im Laden. Der Vorfall hatte alle auf die Straße gelockt. Zurückgekommen war niemand. Vielleicht hatte einer von ihnen ein Buch geklaut, doch das war
im Moment gleich. Anna ging durch die beige Tür hinter der Theke in den kleinen Aufenthaltsraum, wo auch die Kaffeemaschine stand. Sie goss den Inhalt der Glaskanne, die auf der Warmhalteplatte gestanden hatte, in die Spüle. Aus einem altmodischen Hängeschrank nahm sie eine metallene Dose und öffnete sie. Der berauschende Duft von gemahlenem Kaffee stieg ihr entgegen. Anna schloss die Augen und genoss ihn. Dann bediente sie mit geübten Handgriffen die Maschine. Sie wartete, bis leises Brodeln das Kochen des Wassers verkündete. Zurück hinter der Theke entdeckte sie wieder ein wenig Farbe im Gesicht von Hedwig Braun. Die Besitzerin des Ladens wandte sich ihr zu und sagte:
"Was hältst Du davon, wenn wir wieder eine Diskutierecke einrichten?"
Ein vorsichtiges Lächeln erkämpfte sich den Weg auf Annas Gesicht.
Den Rest des Tages lang ereignete sich nichts mehr, zumindest nichts, das es wert war, in Erinnerung zu bleiben. Die Sonne schien fröhlich vom Himmel. Selbst Hedwig Braun vergaß ob des herrlichen Wetters und so mancher frischen Brise, die der nahe See in den Ort entließ, die Geschehnisse um Leni Silberstein, deren kleine Rede und den Angriff auf sie. Anna ging es anders. Sie erfasste nun alles und die Monstrosität der Ereignisse, der Früheren und der Jetzigen, ließ sie erschauern. Allerdings war es nicht ihre Aufgabe, in den Lauf der Dinge einzugreifen. Das konnte sie nicht allein entscheiden.
Nach Ladenschluss verabschiedete sie sich mit einer Umarmung von ihrer Chefin. Auch die Besitzerin von Brauns Bücher begriff, dass dieser Tag sie einander näher gebracht hatte. Sie verdrückte eine Träne. Anna schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr heim. Sie radelte langsam und machte so manchen Umweg, um einen klaren
Kopf zu bekommen, doch auch um nicht gleich nach Hause zu müssen, denn sie hatte ein wenig Angst. Aber es machte keinen Sinn sich zu drücken, dass wusste sie. Also fuhr sie irgendwann schnurstracks heim.
Anna lebte zumeist in der linken uralten Hälfte des großen Hauses, noch mehr in letzter Zeit, denn in dem neuen Anbau fiel immer wieder der Strom aus. Der örtliche Energieversorger beteuerte, dass er sich mit Hochdruck um das Problem kümmerte. Wie gewohnt stellte Anna ihr Fahrrad hinter dem Haus im Kellereingang ab und kette es an ein rostiges Fallrohr. Im Haus stellte sie ihre Tasche in der Küche auf den Tisch, ging aber sofort, ohne sich die Jacke auszuziehen, in den ersten Stock. Dort lag ihr Schlafzimmer. Zuletzt hatte sie immer lächeln müssen, wenn sie es betrat, weil sie stets an die Nacht dachte, die sie dort mit Hajo verbracht hatte. Dieses Mal geschah nichts dergleichen.
Sie ging zum Fenster und zog die Vorhänge vor. Es wurde sehr dunkel im Raum. Doch Anna wusste was sie tat. Zielstrebig ging sie zu dem Bücherregal, das ihr Vater Paul Lehmann eigenhändig für sie gezimmert hatte, obwohl er Anwalt und furchtbar ungeschickt mit seinen Händen gewesen war. Anna versteckte ihr kleines Holzkästchen nicht. Sie benutzte es als Buchstütze, denn es war etwas größer und sie wusste, dass es keinen Safe benötigte. Das Ding beschützte sich selbst. Mit langsamen, aber zielsicheren Schritten näherte sich Anna ihrem Bett zu und setzte sich auf die Decke. Trotz der Jacke, die sie immer noch trug, fröstelte ihr. Nur kurz starrte sie durch die Dunkelheit auf das Holzkästchen. Entschlossen öffnete sie es. In ihm befand sich eine faustgroße Kugel, die aussah, als wäre sie aus Glas. Jeder Test hätte das bestätigt. Anna konzentrierte sich auf das Innere der Kugel. Bald zeigte sich das Licht, das in ihr gefangen schien. Es glühte erst nur ein
wenig auf, wuchs jedoch bald Anna entgegen, die es nicht aus den Augen ließ. Es dauert nicht lange und der grüne Schein der Kugel erfüllte das Zimmer. Anna nahm sie in beide Hände und konzentrierte sich noch mehr. Doch es nutzte nicht. Die anderen schwiegen.
- Fortsetzung folgt -