Malina
Es ist laut. Der Regen durchnässt sie von allen Seiten. Unerbittlich rauschen Autos an ihr vorbei und wirbeln eine Menge Dreck auf. Blitz und Donner krachen fast gleichzeitig auf die Erde. Die weiten Hosenbeine sind vom Wasser schwer und nicht mehr die Spur von flatterig!
Malina denkt an ihre Jacke, daheim am Haken der Garderobe. Der Schirm ruht in dem alten übergroßen Krug direkt daneben. Sie eilt durch die Straßen.
Ihren KRISTALLZAUBER fest unter den Arm geklemmt. Irgendwo hier muss es sein.
Die Sommersandalen völlig überfordert, quapscht das Wasser bei jedem Schritt.
Dennis hatte ihr den Weg genau erklärt. Gleich geht es rechts ab und dann durch einen engen Hof.
Prompt findet sie das blaue Tor.
Der Lack schon sehr rissig und stellenweise abgeblättert.
Hier drinnen ist ihr Ziel verborgen.
Jetzt freut sie sich. Die Freunde hatten zusammengelegt und ihr diesen Termin verschafft. Nun steigt die Aufregung wie kleine Luftbläschen in ihr empor.
Etwa so, als sei sie eine Wasserflasche beim ersten Öffnen.
Überall kribbelt es unter ihrer Haut.
Sie wird bereits erwartet. In der Tür steht ein großer Mann in Tank Top und Sommershorts. Über und über mit Tattoos versehen.
Selbst im Gesicht windet sich ein Salamander und lässt den filigranen Schwanz über seine Stirn gleiten.
Seine Hand streckt sich ihr entgegen,
„Malina! Alle Menschen, die mit einer Sturmflut hier einfallen, tragen große Geschichten in sich! Sei willkommen.“
Sie schütteln sich gegenseitig die Hände. Oder besser gesagt, er hält ihre Hand ein paar Augenblicke in seinen Händen.
Seine offene Art ist sehr einladend und lässt sämtliche Ängste von ihr abfallen.
„Komm rein, ich bin so neugierig auf dich!“ Und schon schiebt er sie ins Trockene.
Im letzten Moment kann sie noch kurz an den Türrahmen klopfen, ehe sie den fremden Raum betritt.
„Du erwartest doch nicht etwa böse Geister bei mir?“
Malina kriecht erneut die Hitze ins Gesicht. „Nein! Natürlich nicht! Es ist nur … so eine Angewohnheit … ich kann nicht ohne.“
Er reicht ihr ein trockenes Handtuch und lächelt sie breit an, „magst du?“
Dankbar rubbelt sie sich ab.
Fummelt sich fix durch ihr kurzes leuchtend rotes Haar und verstrubbelt das Pony in die Stirn.
„Nimm Platz“, muntert er sie auf und zeigt auf ein Meditationskissen. Er selbst setzt sich ihr gegenüber.
Zwischen ihnen steht ein kleiner Tisch mit duftendem Tee. Mit elegantem Schwung gießt der Mann die Tassen voll.
„Das wird dir guttun. Nach dieser kalten Dusche draußen. Ich heiße Ronny.“
Sie schaut ihn leicht verwirrt an, wie kann ein Wahrsager Ronny heißen? Verwischt diesen unreifen Gedanken aber sofort wieder. Genauso, wie die Tropfen auf ihrer Zeitschrift.
„Hallo Ronny, ich weiß grad gar nicht, was ich sagen soll“, verlegen schaut Malina sich im Raum um.
Hier gibt es tatsächlich eine große Kugel! Ansonsten ist der Raum behaglich.
Nicht zu hell und nicht zu dunkel.
Es duftet angenehm nach dem aromatischen Tee und nach vielen vorherigen Teearomen.
Sie nimmt einen Schluck.
Warm und genüsslich.
Er schmeckt lieblich und etwas herb zugleich.
„Deine Freunde haben mir erzählt, dass du auf der Suche bist.“
Ja, sie ist auf der Suche. Wonach, das hat sie just in diesem Augenblick vergessen.
„Erzähle mir von dir“, sagt er und lehnt sich zurück.
Malina atmet tief durch und weiß nicht so recht, wo sie ansetzen soll.
„Ach was, ich erzähle dir von dir“, sagt er und nippt an seiner Tasse.
„Du bist eine sehr reizvolle Frau und das weißt du auch. Du hältst dich für ein bisschen zu dick, was völliger Unsinn ist.
Du verbirgst ein Mal unter deinem Pony, fast zwischen deinen Augenbrauen.
Es hat die Form eines Halbmondes und sitzt leider nicht ganz genau in der Mitte.“
Malina kontrolliert gedankenverloren ihr Pony. Es müsste eigentlich versteckt sein.
Ronny lächelt sanft.
„Es ist verdeckt, ich sehe es trotzdem. Ich sehe auch die kleine Narbe an deinem Oberschenkel. Du warst noch klein und hast dich bei deinen ersten Laufversuchen an einem rostigen Nagel verletzt. Sie erinnert an ein Dreieck, das auf der Spitze steht.
Ich sehe auch das kleine dürre Kätzchen, für das du seit neuestem Futterdosen kaufst.
Ich sehe deinen kleinen Bruder. Jeden Tag holst du ihn von der Kita ab, damit deine Mutter den Rücken frei hat.
Und ich sehe dein Unbehagen darüber, was ich alles über dich weiß.
Und du liest esoterische Zeitschriften, was jetzt allerdings nicht sonderlich schwierig war.“
Ronny lacht und linst auf die Zeitschrift, die sie auf den Fußboden neben sich gelegt hat. Herzerfrischend und offen.
„Es, es überrascht mich einfach nur.“
Malina atmet tief durch.
„Das fühlt sich seltsam an, wenn ein Fremder alles zu wissen scheint.“
„Das glaube ich gern. Und manchmal weiß ich mehr, als ich wissen möchte. Es ist nicht immer ein Segen, das kannst du mir glauben. Aber wir wollen ja nicht über mich sprechen.
Du bist hier, wegen deinem Mal auf der Stirn. Zum einen kann ich dich beruhigen. Es ist nicht mit krankhafter Energie belastet.
Mach dir also keine Sorgen darüber.
Du weißt, dass es auch etwas anderes bedeuten kann.
Etwas, was deine Vergangenheit betrifft.“
„Ein früheres Leben?“
„Möglich. Dazu muss ich die Kugel befragen. Möchtest du es wissen?“
Sie nickt.
„Wenn wir den Pfad betreten haben, gibt es kein Zurück!“
„Trotzdem“, sagt sie so dahin und weiß nicht so recht, worauf er hinaus will.
„Es sind häufig Verletzungen.
Seelischer oder körperlicher
Natur.“
Davon hatte sie schon gehört.
„Es kann wehtun, im Herzen.
Du bist noch sehr jung. Manchmal treten ganz unerwartete Geschichten zutage.
Es wird auf jeden Fall dein Leben verändern!“
Sie nickt.
„Ich muss es jetzt wissen. Würde ich jetzt so wieder nach Hause gehen …
Du weißt, dass das nicht möglich ist.“
„Alles ist möglich. Hier kannst du noch zurück.“
Sie schüttelt überzeugt ihren Kopf.
Ronny steht auf und holt die Kugel.
Sachte streicht er darüber. Erst mit der linken Hand, dann mit der rechten und dann lässt er beide Hände auf dem Rund ruhen.
Mit halb geschlossenen Augen sitzt er aufrecht und wartet. Die Hände wie ein Schutz um die Kugel gelegt.
Neugierig schaut Malina zu. Betrachtet den Salamander. Und wüsste sie es nicht besser, würde sie denken, der Salamander hätte sich bewegt. Hätte seinen feinen Kopf zu ihr gerichtet und ihr in die Augen gesehen.
Mit einem mal beginnt die Luft zu vibrieren, ganz sachte, aber deutlich. Von einer leichten Elektrizität umhüllt, verändert sich ihr Körper. Ihr Atem wird flach und der Puls scheint stillzustehen.
Sie empfängt eine tiefe Mattigkeit.
Mit schweren Lidern sieht sie zur Kugel.
Es scheint, als würde sie hineingezogen, als schwirre sie durch einen endlosen Kanal. Dunkelheit ringsum.
Ein belebender Geruch.
Es duftet grün, wie nach einem Sommergewitter im Garten.
Frisch und angenehm.
Und ein bisschen wundervoll.
Ein bisschen wie Heimat.
Ein bisschen wie eine Kindheitserinnerung. Und dann merkt sie, dass es ihr Geruch ist. Ihr eigener Geruch und der ihrer Geschwister. Sie tollen um die Wette.
Zuerst denkt sie, sie würde laufen, doch das kann sie nicht. Es ist eher ein Kriechen. Schnell und wendig ist sie und kringelt sich über den Boden.
Sie sieht nach ihren Geschwistern.
So vertraut.
So vertraut, dass sie ihren Augen kaum glauben kann.
Hin und hergerissen wägt sie die Wahrheiten ab.
Schaut von sich selbst an, was sie erhaschen kann. Und was sie sieht, lässt sie zurückschrecken.
Zusammengekrümmt streckt sie vorsichtig wieder ihren Kopf vor. Sie schaudert.
Fremd und so vertraut.
Dieser herrlich frischgrüne Duft, der sie umgibt.
So wunderbar.
Doch was sie sieht, ist nichts als ein Wurm. Ein kleiner, etwas schleimiger Wurm.
Und ihre Geschwister sehen aus wie sie. Gemeinsam kriechen sie durch die einladende Pflanzenwelt und erfreuen sich am essbaren Grün.
Mit dem großen Glücksgefühl im Leib, dass sie was ganz besonderes sind.
Und plötzlich!
So schnell ist sie nicht!
So schnell kann sie nicht sein!
So klein, wie sie ist! Jetzt weiß sie es wieder.
Sie musste doch aufpassen! Immer!
Wenn diese Andersartigen kommen. Hochmütig stapfen sie auf ihren Stöckelschuhen durch die Gegend.
Sie denken, nur weil sie Beine haben, an denen sie diese Terrortreter befestigen können, seien sie in der Evolutionskette ein
gutes Stück weiter vorn.
Ein großes Stück wichtiger und besser und mächtiger. Und sie hat nicht aufgepasst.
Zu spät.
Alles zu spät.
Der Stöckel vom Schuh trifft sie genau zwischen den Augen und zerquetscht ihre weiche feine Hirnmasse.
Sie sieht sich noch daliegen.
Das Leben ausgehaucht.
Ihre Geschwister hatten mehr Glück.
Sie konnten sich noch eilig zur Seite winden. Und sie liegt verlassen da und zuckt noch zweimal mit dem Hinterteil, ehe sie Ruhe gibt und es um sie endgültig dunkel wird.
Mit einem Stöhnen reißt Malina ihre Augen
auf.
Aufgelöst wischt sie sich mit beiden Händen übers Gesicht, bläst ihre Backen auf und sieht Ronny, am Salamander vorbei, in die Augen.
„Hast du das auch gesehen?“
„Ja.“
„Was war das?
Was um Himmelswillen war das?“
Ronny atmet tief durch.
„Das war deine Geschichte.
Deine Geschichte, die dir das Mal eingebracht hat. Es ist kein Muttermal, dann hätte es deine Mutter ebenfalls.“
„Stimmt. Sie hat es nicht. Nur ich. Weil ich in meinem früheren Leben ein Wurm war“, sagt sie abfällig.
„Warte, warte! Das ist nicht alles!“
„Wie?“, ungläubig sieht sie ihr Gegenüber an.
„Sei nicht enttäuscht! Denk erstmal über das nach, was du gesehen hast.“
„Ich war ein Wurm! Ein kleiner glibberiger Wurm!“
Ronny beugt sich vor und nimmt ihre Hand. Sofort wird ihr wohler, erscheint sich selbst erträglicher.
„Du warst ein kleiner Glibberwurm. Soweit richtig. Aber hast du auch gefühlt, wie glücklich du warst? Wie ausgelassen ihr gespielt habt?“
„Ja, das war sogar ein bisschen wundervoll“, das Lächeln, das sich in ihr Gesicht schleicht, lässt sich nicht wegkneifen.
„Und denk an die Pflanzen. Hast du jemals
solche Pflanzen gesehen?“
„Nein, habe ich nicht. Nicht in diesem Leben.“
„Und hast du jemals solche Wesen gesehen? Mit diesen übermächtigen Stöckelschuhen?“
Sie schüttelt den Kopf und weiß nicht so recht, worauf er hinaus will.
„Das war nicht die Erde!“, er macht mit seinen Armen eine weite Bewegung, „irgendwo da draußen - - - gibt es Leben!
Und du bist der Beweis!
Das war ein fremder Planet!
Mit fremden Pflanzen und fremden Wesen.“
„Und ziemlich normalen Würmern.“
„Die ausgesprochen gut duften!“
Malina lächelt nun doch,
„die ausgesprochen gut duften!“
Sie schnuppert an ihrem Arm. Vielleicht ein
bisschen …
„Und mit dieser Wahrheit gehe ich jetzt nach Hause und lebe weiter wie immer?“
„Wohl kaum. Du wirst es immer in deinem Bewusstsein haben.
Wirst die Welt jetzt anders sehen.“
„Aus den Augen eines Glibberwurms?“
„Wahrscheinlich.“
Sie reichen sich die Hände. „Danke - - - für alles.“
„Nichts zu danken. Ich habe zu danken, für dein Abenteuer.
Danke, dass ich mitkommen durfte. Und wenn du soweit bist, schneid dein Pony ab.
Dein Gesicht solltest du nicht verdecken.“
Er lächelt mich breit an.
„Wenn was ist, melde dich. Ich bin da.“
Das Gewitter hat sich verzogen. Nun knallt die Sonne wieder.
Malina blickt auf die Uhr.
Zeit den kleinen Bruder von der Kita abzuholen.
Als Finn sie sieht, läuft er ihr sofort in die Arme. Gemeinsam machen sie beim Spielplatz halt.
Finn freut sich, denn hier sind die Schaukeln besonders hoch.
Malina setzt sich auf die Bank ganz in der Nähe.
Bei dem Gewitterguss haben sich viele Regenwürmer zu weit vorgetraut.
Nun liegen sie auf den Wegen und kommen
nicht schnell genug aus der Sonne.
Sie steht auf, sammelt die Würmer ein und bettet sie vorsichtig auf das schattige Erdreich.
„Was machst du ´n da?“, wundert sich Finn.
„Ich rette die Regenwürmer. Hilfst du mir?“
Der kleine Bruder strahlt, „klar!“
„Schön vorsichtig. Tu ihnen nicht weh!“
„Bin ja vorsichtig. Guck mal“, und er hält den windenden Wurm in seinem kleinen Händchen, ganz ohne den kleinen Glibberfreund zu quetschen.
Ach übrigens:
Malina ist ein grönländischer Name und bedeutet: die wunderbare Sonne