Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist nach 20 Jahren in seinen Heimatort zurückgekehrt. Dann werden angesehene Bürger im Ort, der Geschäftsmann Jürgen Reeder und der Architekt Christian Meyer, tot aufgefunden. Die Polizei geht in beiden Fällen von Selbstmord aus. Gleichzeitig lernt Gote in einem Buchladen Anna Bäcker kennen und die beiden kommen sich näher. Erstaunlicherweise scheint das Ding in dem Holzkästchen, das Gote mitgebracht hat und welches so wertvoll zu sein scheint, dass es in einen Safe gehört, keinen Einfluss auf sie zu haben.
"Poet without a rhyme"
Nightwish - The poet and the pendulum
Es war nicht so, dass Hedwig Braun das Gedankengut ihres Vaters teilte. Als sie den Laden übernommen hatte, waren die Werke von
Karl Marx sehr schnell aus den Regalen verschwunden. Sie war eine regelmäßige Kirchgängerin und sah hinter allem, in dem das Wort sozial vorkam, die bolschewistischeRevolution lauern. Nicht dass sie gewusst hätte, was Bolschewismus bedeutet. Er war für sie einfach der Feind aller Ordnung, so wie Dreck der Feind aller Schrubber ist. Ironischerweise hatte sie selbst das, was man andernorts eine soziale Ader genannt hätte, doch für Hedwig Braun war es Nächstenliebe, etwas völlig anderes. Sie hatte
Anna Bäcker vor Jahren aus voller Überzeugung die Lehrstelle gegeben und sie gerne nach dem Abschluss übernommen, auch weil sie gut war.
Doch die Rede von Leni Silberstein hatte selbst sie verblüfft. Sie sagte nichts, was jedoch auch da herrühren konnte, dass sie wusste, wie sinnlos es war, die Silberstein zu unterbrechen. Damit erreicht man nicht mehr, als sie zu erzürnen. Mit einzelnen Teilen dessen, was sie gesagt hatte, war Hedwig Braun durchaus einverstanden. In der Gesamtheit missbilligte sie jedoch den Vortrag, musste aber auch an ihr Geschäft denken.
Bei Anna war das anders. Sie hatte schon nach den ersten Sätzen ihren Posten hinter der Theke verlassen. Verstehend nahm Hedwig Braun das zu Kenntnis. Sie wusste, dass die beiden Frauen nicht nur wegen des Altersunterschieds nicht zusammenpassten. Geräuschvoll räumte Anna Bücher aus den Regalen und schob sei wieder hinein. Es nutzte nichts. Die hohe
meckernde Stimme der Silberstein reichte in jede Ecke des Ladens. Bei dem Regal mit den Klassikern angelangt, fragte sich Anna, ob es wohl Krieg oder Frieden bedeuten würde, wenn sie der altehrwürdigen Institution des Ortes Tolstois fast gleichnamigen Roman über die Rübe ziehen würde. Doch der danebenstehende Mark Twain gemahnte sie zur Gelassenheit. Auch die Zeiten der Silbersteins dieser Welt würden ein Ende haben, das wusste sie ganz genau.
"Ja, ja, so ist das."
Als Leni Silberstein diese Worte sprach, atmeten alle in ihrer Umgebung auf. Sie wussten, das bedeutete den Abschluss des Vortrags. "Ich glaube, ich werde dieses Buch nicht kaufen."
Hedwig Braun nickte. Zum einen war sie froh, die Silberstein endlich loszuwerden, zum anderen wusste die Buchhändlerin, dass sie morgen wiederkommen würde. Natürlich bestand
die Gefahr, dass sie dann wieder einiges zum Besten geben würde, aber vor allem würde sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dass Buch dann kaufen.
"Sicher, Frau Silberstein" - alle, die Leni Silberstein duzen durften, waren, einschließlich ihres Mannes, der vor Jahrzehnten einmal als Bürgermeister im Ort residiert hatte, längst tot - "ganz wie Sie wollen."
"Ach, Frau Braun, bei ihnen wird man noch zuvorkommend bedient." Leni Silbersteins Blick wanderte durch das Geschäft, doch sie konnte Anna nirgendwo entdecken. "Wenigstens meistens. Guten Tag, Frau Braun."
"Guten Tag, Frau Silberstein."
Natürlich war für Anna Bäcker die Rede und das Verhalten von Leni Silberstein das, was sie an diesem Tag am meisten beschäftigte. Ihre rechte Hand wollte zittern. Annas Blick wanderte zurück zu Krieg und Frieden. Wie es
schien, hatte die Silberstein es nun auch noch auf Hajo abgesehen, wobei schwer einzuschätzen war, ob dahinter mehr als nur die Scheu der Eingeborenen vor dem Fremden steckte. All das beschäftigte Anna und es hätte sie für den Rest des Tages beschäftigt, wenn nicht kurz darauf das geschehen wäre, was geschah, schnell und unerwartet.
Leni Silberstein verließ das Geschäft und trat auf den Bürgersteig. Ein freundliche Brise wehte vom nahen See her die Straße entlang. Es war ein freundlicher Tag. Die Menschen gingen mit einem Lächeln ihrer Wege. Die Silberstein nickte nach links, als habe sie einen Bekannten gesehen. Es spielte keine Rolle, wer dort stand. Oft nickte sie tatsächlich nur der Luft zu. Die Leute sollten denken, dass sie jeden kannte und manche eben nicht mehr als ein stummes Nicken verdienten. Auf jeden Fall sah sie nicht nach rechts. Dort stand in einer Häusernische Hans Anders, genannt Hans Hasenscharte. Als Leni
Silberstein sich nickend nach Links wandte, kam Leben in ihn. Überraschend schnell und gewandt bewegte sich der 60-jährige Landstreicher. Bei der 80-jährigen Frau angekommen, packte er sie hart an der Schulter. Die Silberstein erschrak, drehte den Kopf - und erschrak noch mehr! Zum Rufen blieb ihr keine Zeit, denn schon prügelte Hans Hasenscharte mit seiner zerfledderten Bibel auf sie ein. Bereits nach dem ersten Schlag brach Leni Silberstein auf dem Bürgersteig zusammen. Die Bänder in ihrem linken Knöchel rissen und sie brach sich den rechten Fuß. Dennoch hatte sie Glück, denn sie fiel auf ihre Handtasche, die sie gleich losgelassen hatte, landete auf dieser mit ihrer Hüfte, so dass die keinen Schaden nahm. Hans Hasenscharte Anders stand über ihr und schrie: "Gott vergibt nicht! Hörst Du? Gott vergibt nicht!"
Endlich sprangen zwei Männer herbei und zogen ihn fort. Er ließ es ohne Widerstand zu
leisten geschehen. Man rief zwei Krankenwagen. Der Erste brachte Leni Silberstein in das Krankenhaus von Werrentheim, der zweite Hans Hasenscharte Anders in eine psychiatrische Klinik. Dort verbrachte er den Rest seine Lebens und fühlte sich wohl. Er wurde niemals angeklagt.
Die beiden Männer, die den Angriff beendet hatten, schauten den Krankenwagen nach. Einer von ihnen war ein Zugereister, lebte erst seit 15 Jahren im Ort.
"Was war denn das?", fragte er verwirrt. "Hans ist doch eigentlich ein ganz lieber Kerl."
Der zweite Mann schaute ihn an. "Ach, dass kannst Du ja gar nicht wissen." Er zog den anderen in die Häusernische, wo eben noch Hans Hasenscharte gewartet hatte. "Anders", flüsterte er, "er heißt Anders. Hans Anders. Und das ist auch der Mädchenname der Silberstein. Leni Anders. Jeder weiß, dass er ihr unehelicher Sohn ist, geboren bevor sie den alten
Silberstein geheiratet hat. Weil er schwachsinnig ist, hat sie ihn damals fortgejagt." Er zuckte mit den Schultern. "Musste wohl irgendwann passieren."
Die Männer gingen ihrer Wege. Keiner von beiden hatte Hajo Gote bemerkt, der, halb vom Kriegerdenkmal verdeckt, alles genau beobachtet hatte. Ihm wiederum war nicht aufgefallen, dass Anna ihn gesehen hatte. Und sie wusste, dass er das kleine Holzkästchen unter seine Jacke verbarg.
- Fortsetzung folgt -