Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist nach 20 Jahren in seinen Heimatort zurückgekehrt. Dabei hat er eine Kleinigkeit mitgebracht, die so wertvoll scheint, dass sie in einen Safe gehört. In einem Buchladen hat er zwei Bücher bestellt und Anna Bäcker kennengelernt. Die beiden kommen sich näher. Gleichzeitig werden angesehene Bürger im Ort, der Geschäftsmann Jürgen Reeder und der Architekt Christian Meyer, tot aufgefunden. Die Polizei geht in beiden Fällen von Selbstmord aus.
"Oh when did you become so cold?"
Nightwish - The poet and the pendulum
Zwei Tage lang hatte sie nichts von ihm gehört. Das verwunderte Anna. Nein, verwunderte es sie wirklich? Schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen hatte sie ihn erkannt und nach ihrer gemeinsamen Nacht wusste sie mehr über Hajo Gote als er über sich selbst. Wie ein verwundetes Tier hatte er sich zurückgezogen und gelitten, fast 20 Jahre lang. Dann, vor gut einem halben Jahr hatte er die Waffe in die Hand bekommen. Eingesetzt hätte er sie aber vielleicht nie, wenn Andreas Stallwangs Mutter nicht...
"Ja, es ist unfassbar. So ehrenhafte Männer. Hoffentlich ging es schnell und sie mussten nicht leiden. Nicht leiden, das ist das
Wichtigste. Schrecklich, schrecklich."
Leni Silberstein war in den Buchladen gekommen, unterhielt sich laut mit Hedwig Braun und holte Anna aus ihren Gedanken. Die Tragödien, die beiden unglaublichen Todesfälle Jürgen Reeder und Christian Meyer, waren das Tagesgespräch im Ort. Der ehemalige Dorfpolizist Wilhelm Henkel versorgte jeden, der etwas wissen wollte, mit Informationen, immerhin hatte er noch ganz gute Beziehungen zum Polizeipräsidium in Werrentheim. Das er die Quelle für all das Gerede war, hätte er natürlich geleugnet. Immerhin war er ein Ehrenmann, kein geschwätziges Waschweib.
"Du kannst den Laden gleich abschließen, Anna", sage Hedwig Braun und schnappte sich ihre schwarze Handtasche, die zu ihrem schwarzen Rock und Mantel passte. Auch Leni Silberstein war ganz in schwarz gekleidet.
"Sie kommen nicht mit zu Jürgen Reeders Beerdigung, Fräulein Bäcker?", fragte die
Institution des Ortes mit eiskalter Stimme.
"Nein, Frau Silberstein."
"Das ist auch besser so. Nicht dass sich noch jemand provoziert fühlt."
Kurz nachdem die beiden Frauen gegangen waren, sperrte Anna den Buchladen ab, nicht ohne zuvor das Wegen einem Trauerfall geschlossen-Schild ins Schaufenster zu stellen. Dann nahm sie ihr Fahrrad und fuhr los. Schließlich stand sie vor dem Feldweg, der den Hügel hinauf bis zum Waldrand führte. Kurz zögerte sie. Anna hatte Hajo erkannt und war fest davon überzeugt, nichts von ihm befürchten zu müssen. Er war wie er war, stellte für sie aber keine Gefahr da, konnte zwischen ihr und ihrem Vater unterscheiden. Sie schob ihr Fahrrad den Weg entlang und den Hügel hinauf. Irgendwo in den Hecken zur Linken saß ein Goldammermännchen und schien sie mit seinem langgezogenen Piepen aufmuntern
zu wollen. Mit einem Lächeln quittierte Anna dies, drehte den Kopf und winkte dem unsichtbaren Piepmatz freundlich zu. Beim Haus angekommen, lehnte sie ihr Fahrrad an einen Wand, ging zur Tür und klingelte. Nach einem Augenblick rief jemand etwas, es rumpelte und gleichzeitig erklang ein Aufschrei und dann erschien Gote im Türrahmen, mit verzehrtem Gesicht, sich das Knie haltend.
"Du bist es!", rief er erstaunt.
"Freust Du dich nicht?"
"Glaub mir, Anna, Freude beschreibt im Moment nicht annähernd meine Gefühle." Hajo rieb sich immer noch das Knie.
"Na, dann bin ich ja im rechten Augenblick erschienen." Zärtlich umfasste sie seine Hüften und küsste ihn. Als ihre Münder sich trennten, seufzte Gote langsam, aber lange.
Humpelnd führte er Anna ins Haus. Es war sehr viel kostspieliger eingerichtet, als sie gedacht hatte, wenn auch ein wenig altbacken.
Im Wohnzimmer fiel ihr Blick als erstes auf ein großes, fürchterlich kitschiges Gemälde eines röhrenden Hirsches vor schneebedeckten Bergen. Auch die ockerfarbenen Sessel wirkten nicht sehr modern, sahen aber bequem aus. Auf dem Dreiersofa lag eine Decke, als habe Gote dort geschlafen.
"Hast Du Hunger?", fragte er sie.
"Ein bisschen früh, aber ich hatte nur einen Joghurt zum Mittagessen."
"Prima. Ich mache gebratenes Gemüse mit Nudeln. Scharf. Mit Sambal Olek. Mach es Dir so lange bequem."
Gote verschwand durch eine Tür in einen Raum, der wohl die Küche war. Langsam schaute Anna sich um, fand aber nichts, was sie interessierte. Krieg und Frieden eignete sich auf jeden Fall nicht als kurzfristige Lektüre. Also ging sie zu der Glastür und trat auf die Terrasse. Als Erstes begrüßte sie dort ein beißender Geruch. Sie benötigte einen Weile,
doch dann war Anna sich sicher, dass es nach verbranntem Plastik stank. Mit geschlossenen Augen folgte sie ihrer Nase und endete so vor einem Grill, der in der Ecke eines aus Glasbausteinen errichteten Windfangs stand. In ihm lagen zwei unförmige klebrige Haufen, die so gar nicht nach Grillkohle aussahen. Kopfschüttelnd deckte Anna den Grill mit dem danebenliegenden dazugehörenden Deckel ab und ging auf die andere Seite der Terrasse. Aus dem nahen Wald beobachtete sie ein Paar Augen. Sie zwinkerte ihnen zu und das Tier verschwand im Unterholz.
"Kann ich Dir helfen?"
Gemüsewaschend und -schneidend wandte er ihr den Rücken zu. "Dazu bist Du nicht hier", antwortete Gote. "Außerdem ist das eines meiner Standartgerichte. Geht mir leicht von der Hand."
Anna lachte. "Typisch Mann. Wenn sie mal was
in der Küche machen, soll ihnen ja niemand dazwischenfunken."
"Klar! Die Zeit der großen Reiche ist ja vorbei. Da wollen wir zumindest die Kopftöpfe beherrschen."
Mit ein paar schnellen Schritten war Anna heran, umfasste ihn von hinten und küsste ihn auf den Hals. Er roch gut, ein wenig nach Seife und ein wenig nach ihm selbst. Es war etwas Besonderes an diesem unauffälligen, ein wenig unansehnlichen, unbekanntem Historiker.
"Ich habe Durst", flüsterte Anna ihm ins Ohr.
"Oh, ich fürchte, es ist nichts oben. Aber wenn Du aus der Küche nach links gehst, führt die zweite Tür in den Keller."
"Danke, mein Schatz."
Die Tür schien nicht recht in das altmodische, aber sauber eingerichtete Haus zu passen. Sie war alt, verzogen und die Farbe blätterte an einigen Stellen ab. Darum konnte man auch die
Buchstaben LSR erkennen, die früher einmal oben links in die Ecke gepinselt worden waren. Die Schrift war fast verblasst. Anna brauchte einen Weile, bis sie sich daran erinnerte. LSR. Luftschutzraum. Das stammte aus der Zeit der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg. Was sie aber hier zu suchen hatten, war ihr schleierhaft. Sie öffnete die Tür und betätigte den Lichtschalter. Eine nackte Glühbirne leuchtete am Ende einer Treppe auf, doch bei näherer Betrachtung verbreitete die eher Dunkelheit als Helligkeit. Zumindest kam es Anna so vor. Vorsichtig stieg sie in den Keller hinab. Die hölzernen Stufen knarrten unter ihren Füßen und das Geländer, an dem sie mit der rechten Hand nach Halt suchte, machte einen äußerst unzuverlässigen Eindruck. Endlich am Ende der Treppe angekommen, war Anna sehr froh, auch wenn es hier muffig roch und eine unbesiegbare Feuchtigkeit im Raum lag. Die Wände des Kellers konnte man im trüben Licht der
Glühbirne nicht erkennen. Sich mochten kilometerweit entfernt sein. Direkt unter der armseligen Lichtquelle standen aufeinandergestapelt gut ein Dutzend Wasserkästen. Anna nahm eine Flasche heraus und schaute auf das Etikett. Werrentheimer Grafenquelle. Das war so ziemlich das teuerste Mineralwasser, das sie kannte.
Ein knarrendes Geräusch ließ sie auffahren!
Sie schaute sich um, sah aber nichts. Dann, weil sie großen Durst hatte, öffnete sie eine Flasche und setzte an. Es war nicht nur das teuerste, sondern auch das beste Mineralwasser, das sie kannte. Die kühle Flüssigkeit rann ihre Kehle herunter. Und dann legte sich eine fechte Hand auf ihre Schulter. Vor Schreck ließ Anna die Flasche fallen!
"Es tut mir leid, dass die Flasche kaputtgegangen ist", entschuldigte sich Anna ein weiteres Mal zwischen zwei Gabeln. Gote,
der ihr gegenüber am Wohnzimmertisch saß, schüttelte den Kopf.
"Meine Schuld. Keine Ahnung warum ich Dir nicht gesagt habe, dass es auch eine Treppe gibt, die direkt von der Küche in den Keller führt. Und dann hatte ich vom Gemüsewaschen auch noch nasse Hände." Er grinste. „Die feuchte Hand des Todes!“
Da musste Anna lachen. Anschließend ließen sie es sich schmecken. Dabei schwiegen sie, schauten sich nur heimlich gegenseitig an wie verliebte Teenager in der Achten Klasse. Nur einmal brach Anna die Stille.
"Was hast Du eigentlich draußen" - sie deutete mit der Gabel auf die Terrasse - "mit dem Grill gemacht?"
Gote schaute sie an. Nach mehreren Augenblicken antwortete er. "Hab versucht, mir etwas zu Essen zu machen. Aber ich bin kein Grillmeister. Vor lauter Ärger habe ich alles in die Flammen geworfen."
Anna runzelte leicht die Stirn. Solcher Jähzorn passte eigentlich nicht zu ihm, der so viel aus Überlegung tat. Genauso wie das, was sie im Grill gesehen hatte, zu dieser Geschichte.
Nach dem Essen gingen sie zum Sofa. Anna wollte sich auf die rechte Seite setzen, doch Gote zog sie zu sich nach links. Sie schalteten den Fernseher an und schauten irgendeine lächerliche Serie. Doch das war beiden gleich, denn sie hatten einander und hielten sich fest, gaben sich gegenseitig Halt.
- Fortsetzung folgt -