Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist nach 20 Jahren in seinen Heimatort zurückgekehrt. Dabei hat er eine Kleinigkeit mitgebracht, die so wertvoll scheint, dass sie in einen Safe gehört. In einem Buchladen hat er zwei Bücher bestellt und Anna Bäcker kennengelernt. Die beiden kommen sich näher. Gleichzeitig wird ein angesehener Bürger im Ort, der Geschäftsmann Jürgen Reeder, tot aufgefunden. Die Polizei geht von einem Selbstmord aus.
"Now he’s home in hell"
Nightwish - The poet and the pendulum
Böwes und Krahn fuhren abermals in das entlegenen Nest hinter den Bergen am See. Sie saß am Steuer. Bei einer Verfolgungsjagd vor zwei Jahren hatte es sich erwiesen, dass Lisa-Maria eindeutig die bessere Fahrerin war. Und auch wenn Alexander Böwes oft launisch und mürrisch war, so hatte er doch keine Schwierigkeiten die Fakten anzuerkennen, wenn sie einmal auf dem Tisch lagen. So hatte er sich zwar anfangs schwer damit getan, in dem Tod von Jürgen Reeder einen Selbstmord zu sehen, doch mittlerweile verteidigte er diese These, weil sie aus dem, was sie wussten, die einzige logische Schlussfolgerung war. Nicht wenige hielten ihm das fehlende Motiv vor, doch war
das für Außenstehende bei einer Selbsttötung nicht meistens nur schwer auszumachen?
Und waren sie wieder unterwegs. Justus Töpfer hatten sie in Werrentheim gelassen. Dieses Mal würde es zwar kein Blut zu sehen geben, aber allein die erste Beschreibung der Spurensicherer von vor Ort hatte ihm den Rest gegeben. Kalkweiß war er in seinen Stuhl gesunken und zu nichts zu bewegen gewesen. Also fuhren Böwes und Krahn alleine. Es war Nachmittag und sie hatten kein Interesse daran, dass Justus sein Mittagessen wieder hochkam. Weit war er davon nicht mehr entfernt gewesen.
Nur das Brummen des Motors war zu hören und das Rauschen der Klimaanlage, denn die beiden Ermittler schwiegen. Sie vermieden es, sich anzublicken. Starr schauten sie geradeaus durch die Windschutzscheibe. Doch der Zufall wollte es, dass auf einem langen einsehbaren Stück Landstraße niemand weder vor noch hinter ihnen war. Gleichzeitig drehten sie
einander die Köpfe zu. Gleichzeitig begannen sie zu grinsen. Gleichzeitig begannen sie zu lachen. Es waren zwei ehrliche unschuldige Lachen, die ihnen jeder außerhalb des Polizeidienstes übel genommen hätte. Aber sie hatten schon alles gesehen. Zumindest waren sie bis heute davon ausgegangen. Wenn jedoch stimmte, was sie gehört hatten...
"Wir sollten damit aufhören." Lisa-Maria war die erste der beiden, die sich fing, auch wenn sie zwischendurch immer noch kicherte wie ein vierzehnjähriges Mädchen.
"Wieso?", fragte Böwes nach einer ganzen Weile. Er hatte länger gebraucht und noch immer lag ein feistes Grinsen auf seinem Gesicht.
"Weil das unprofessionell ist."
"Ich bitte dich. Wir sind noch im Wagen, unter uns. Hier dürfen wir so unprofessionell sein, wie wir wollen. Außerdem: Ein Spaghettitopf? Wir sind doch nicht bei den Simpsons."
Das hätte Böwes nicht sagen dürfen. Es war das fehlende Glied. Lisa-Maria hatte die ganze Zeit gewusst, dass dieser Einsatz sie an etwas erinnerte. Sie schmunzelte. Ja, es war, als wären sie auf dem Weg nach Springfield zu einer gelben Familie.
Ohne Zweifel war es das Haus eines Architekten. Eines reichen Architekten. Auf einem kleinen Hügel gelegen war es von einer Mauer umgeben und hatte eine Auffahrt. Und weil da tatsächlich zwei dorische Säulen neben dem Eingang standen, erinnerte es an Burns Manor. Die Simpsons verfolgten sie immer noch. Die Streifenpolizisten, welche die Einfahrt abgesperrt hatten, winkten sie durch. Zum Glück sah keiner aus wie Chief Wiggum. Vor dem Haus standen die Wagen der Spurensicherung. Eine Frau aus Hermann Felders Team nahm sie in Empfang. Sie hatte nichts Neues zu berichten, was nichts heißen
musste. Selbstverständlich wollte ihr Chef das tun. Im Haus gingen sie durch einen langen Flur. Ein dicker Teppich dämpfte ihre Schritte. Aus einer Tür zu ihrer Linken drang, als sie an ihr vorbeikamen, leises Schluchzen.
"Die Ehefrau", sagte die Kollegin. "Hat ihn gefunden. Ist völlig verstört. Der örtliche Pfarrer und einer von uns ist bei ihr."
"Vernehmungsfähig?", fragte Böwes.
Die Frau von der Spurensicherung zuckte nur mit den Schultern. "Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ist die Frage, wie viel Du aus ihr herausbekommen willst. Hat sich mit einer Freundin zu Mittag gesessen. Ist bereits überprüft. Scheint zu stimmen. Aber das müsst Ihr entscheiden. So, da wären wir."
Das Anlegen der weißen Schutzanzüge samt der Gesichtsmasken war das übliche Ritual. Schließlich betraten sie die Küche. Bis auf den gefliesten Boden war der ganze Raum eine Symphonie in Edelstahl. Alles war daraus
gemacht oder mit ihm verkleidet. Eifrige Hände hielten alles in Schuss, putzten und polierten jedes einzelne Stück. Das Licht der nachmittäglichen Sonne, das durch ein sieben Meter breites einteiliges Fenster einfiel, ließ das Metall aufleuchten, so dass ein futuristischer Glanz im dem Raum lag. Die Anwesenheit der fleißigen Spurensicherer konnte diesen Eindruck kaum verwässern. Es gab mehrerer Kochstellen, eine direkt im Raum und eine neben drei in die Wand eingelassene Backöfen an der rechten Seite. Verschiedene Oberlichter sorgten für noch mehr Tageslicht. Böwes und Krahn interessierten sich für die direkt unter dem breiten Fenster. Der Spaghettitopf stand noch auf dem Induktionsherd. Davor lag ein abgedeckter Körper auf dem Boden. Hermann Felder, der Chef der Spurensicherung, nickte den beiden Ermittlern zu. Diesen Teil der Küche hatten seine Leute bereits untersucht. Im
Zickzackkurs, um den sorgfältig arbeitenden Kollegen nicht ins Gehege zu kommen, tasteten sie sich vor. Bei dem Körper angekommen, ging Böwes in die Knie und zog das Laken von dem Toten. Der Anblick war dann doch nicht so amüsant. Das Gesicht von Christan Meyer war gerötet, zeigte viele Verbühungen und die Haut war verschrumpelt und zugleich gespannt. Auch schien der ganze Kopf viel zu klein zu sein. Er war geschrumpft. Am unheimlichsten war jedoch der Gesichtsausdruck. Denn auch wenn jemand dem Toten die Augen geschlossen hatte, konnte man noch den Schrecken erkennen. Etwas Fürchterliches hatte Christian Meyer in den letzten Augenblicken seines Lebens gesehen, in der Wirklichkeit oder in seinen Gedanken.
"Der Arzt sagt, von den Verbrühungen hat er nichts gemerkt. Er ist ertrunken." Hermann Felder war zu ihnen getreten.
Zwei Tage später saßen sie zu dritt im Büro. Vor ihnen lag der Obduktionsbericht, der Bericht der Spurensicherung, Erkenntnisse der Kollegen vom Sonderdezernat Wirtschaftskriminalität und die wenig ergiebigen Zeugenaussagen. Justus Töpfer hatte die Fotos in der Hand.
"Das kann doch gar nicht sein", murmelte er immer wieder.
"Kannst Du ruhig glauben", versicherte ihm Lisa-Maria Krahn.
"Aber... hätte er nicht umfallen müssen?"
"Eigentlich schon", sagte Böwes, "aber der Pathologe meinte, dass es zumindest theoretisch möglich sei, dass seine Muskeln sich verkrampft haben."
"Theoretisch möglich und praktisch bewiesen", stellte Lisa-Maria fest.
Immer noch ungläubig legte Töpfer die Fotos zurück auf den Schreibtisch. Sie zeigten einen Mann, der in der Edelstahlküche unter dem
breiten Fenster stand und den Kopf in den großen Spaghettitopf gesteckt hatte.
Böwes fasste zusammen: "Marion Meyer verlässt kurz vor 12 Uhr das Haus, um sich mit einer Freundin," - er kramte in den Papieren - "einer gewissen Karin Münzer, zum Mittagessen zu treffen. Gegen 2 Uhr kehrt sie zurück. In der Zwischenzeit geht ihr Mann, der erfolgreiche, aber - nach der Meinung der Kollegen von der Wirtschaft - windige Architekt Christian Meyer, er ist allein im Haus, in die Küche, holt den größten Topf hervor, füllt ihn mit Wasser, stellt den Herd an und steckt den Kopf in eben jenen Topf. Er ertrinkt, bevor das Wasser kocht. Spurenlage: negativ! Nur Hinweise auf den Koch, das Hausmädchen und die Frau. Der Koch ist in Urlaub: Südkorea. Das Hausmädchen bei ihrer Mutter in Berlin. Die Frau wie gesagt beim Mittagessen mit einer Freundin. Alles überprüft. Sonst nichts."
"Bis auf die unbekannten Sportschuhabdrücke", verbesserte ihn Lisa-Maria Krahn.
"Oh ja, zwei prima Abdrücke, einer nicht einmal stark genug, um die Sohle erkennen zu können. Könnte auch einen Laune der Natur sein. Nichts wert. Der andere von einem Adidas Sowieso. Dutzendware. Aber sonst nix. Schlussfolgerungen?"
Die drei Ermittler schauten sich lange an. Dann sagte Justus Töpfer: "Selbstmord."
"Schon wieder", fügte Lisa-Maria Krahn hinzu.
Böwes ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen, warf die Papiere, die er in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch, stöhnte und raufte sich die Haare. "Also wirklich, langsam wird es lächerlich!"
- Fortsetzung folgt -