Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist nach 20 Jahren in seinen Heimatort zurückgekehrt. Dabei hat er eine Kleinigkeit mitgebracht, die so wertvoll scheint, dass sie in einen Safe gehört. In einem Buchladen hat er zwei Bücher bestellt und Anna Bäcker kennengelernt. Die beiden kommen sich näher. Einen Tag später wird ein angesehener Bürger im Ort, der Geschäftsmann Jürgen Reeder, tot aufgefunden. Die Polizei ermittelt.
"He was found naked and dead,
with a smile in his face, a pen and 1000 pages of erased text."
Nightwish - The poet an the pendulum
Polizeioberkommissar Alexander Böwes schüttelte den Kopf, nicht zum ersten Mal an diesem Tag. "Das kann nicht sein!", sagte er.
Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen zwei flache Pappordner. Der eine enthielt den Obduktionsbericht, der andere den der Spurensicherung. „Das kann nicht sein!“, wiederholte er.
"Wieso nicht?", fragte Polizeihauptmeister Lisa-Maria Krahn. Sie saß ihm gegenüber und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. "Warum nicht?"
"Hast Du dabei schon zwei und zwei zusammengezählt? Ist Dir klar, was dabei herauskommt?"
"Ich gebe zu, das hört sich komisch an. Aber das da" - sie zeigte auf die Ordner - "sind die Fakten. Wir müssen die Sachen nur zusammenbringen. Wahrscheinlich übersehen wir etwas."
Böwes lachte auf. "Ha! Übersehen! Das ist es. Die müssen einen Fehler gemacht haben. Ich werde Hermann anrufen."
Er griff nach einem Hörer und telefonierte nach dem Chef der Spurensicherung. Lisa-Maria Krahn senkte den Kopf und seufzte. Natürlich entging das ihrem Chef nicht und er hatte auch schon eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, als ein Mann in das Büro gestürmt kam. Polizeikommissar Julius Töpfer war ein kleiner übergewichtiger Beamter mit einer verbogenen Brille auf der Nase, dessen Körper dem Takt seiner Nervosität folgte. Er war der dritte Mann in ihrem Team und auch wenn man es ihm nicht ansah, so war er doch ein hervorragender Polizist. Nur leider konnte er kein Blut sehen.
Darum nahmen sie ihn nur selten mit an einen Tatort und überließen ihm die Recherche. Er wedelte mit einigen Papieren und ließ sich auf seinen Bürostuhl plumpsen, schnaufend wie eine alte Dampfmaschine. Lisa-Maria schob ihm erste einmal einen Kaffee hinüber. Dankbar lächelte er sie an und nahm einen Schluck.
"Ich habe einiges über unseren Mann herausgefunden."
"Das Opfer", verbesserte ihn Böwes.
"Ach, ich dachte er hat...", meinte Töpfer, aber sein Chef unterbrach ihn.
"Vergiss es. Was hast Du? Die Kurzform bitte. Lese mir nachher alles in Ruhe durch."
"Nun, so ganz harmlos war er nicht", begann Justus Töpfer seinen Bericht. "Die Kollegen der Wirtschaft haben gegen ihn ermittelt. Insolvenzverschleppung, betrügerischer Bankrott, dazu Insiderhandel. Auch bei einigen Baubeteiligungen soll nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein."
"Wo er jetzt tot ist, werden die Ermittlungen ja eingestellt", sagte Lisa-Maria Krahn.
"Nicht unbedingt", erwiderte Töpfer und zwinkerte ihr zu. "Reeder stand im Mittelpunkt des Interesses der Kollegen, aber da tauchen immer wieder zwei andere Namen auf: Christian Meyer und Arndt Münzer. Der eine ist Architekt, der andere arbeitet bei der Sparkasse in Werrentheim. Stammen aus dem selben Nest wie Reeder. Auf den ersten Blick sind beide unbescholtenen Bürger. Aber wenn ihr mich fragt, stinkt die Sache zum Himmel. Die typischen selbstgerechten Egozentriker. Sind sie und waren sie schon immer."
"Wie kommst Du darauf?" wollte Böwes wissen.
"Instinkt", meinte Töpfer und tippte sich an die Nase. "Instinkt und eine alte Sache." Er kramte in seinem Ordner herum und zauberte nach einigem Suchen ein vergilbtes Blatt Papier hervor.
"Ist gut 20 Jahre her. Sie wurden angezeigt, alle drei. Reeder, Meyer und Münzer. Der Zeuge und Anzeigesteller, ein gewisser Andreas Stallwang, behauptete, die drei hätten in mächtig verprügelt. Hier sind die Bilder."
Töpfer reichte alte Fotos herum. Sie zeigten einen jungen Mann mit grünen Haaren und geschwollenem Gesicht.
"Keine Kleinigkeit", bemerkte Böwes.
"Tja, aber die Anzeige wurde zurückgezogen!"
"Hätte die Staatsanwaltschaft nicht von sich aus ermitteln müssen?", fragte Böwes.
"Sollte man meinen, sollte man meinen", erwiderte Töpfer. "Aber jemand schrieb einen Bericht und danach ließ man es auf sich beruhen." Ein weiteres altes Stück Papier machte die Runde. Aber keiner der beiden anderen konnte die Unterschrift entziffern.
"Wie hieß der Kollege?"
"Wilhelm Henkel. War der Polizist vor Ort."
Böwes lehnte sich in seinem Stuhl zurück,
dachte an den alten Mann mit dem schlohweißen Haar vom Tatort und atmete hörbar aus. "Das verstehe ich nicht."
"Du bist halt nicht von hier", sagte Lisa-Maria Krahn. "So regelt man die Dinge auf dem Land."
"Ganz prima!" Böwes verzog das Gesicht.
In diesem Augenblick klopfte es und Hermann Felder, der Chef der Spurensicherung, trat mit einem breiten Grinsen ein. Er ahnte wohl schon, was ihn erwartete. Sofort bestürmte Böwes ihn, doch er blieb bei dem, was in dem Bericht stand.
In der Werkstatt nur die Spuren von Reeder, seiner Frau und Genc, dem Gärtner. Ja, Du hast mir gesagt, dass die beiden ein Alibi haben. Sonst nichts. Nur vor der Garage haben wir den Abdruck eines Turnschuhs, genauer gesagt: eines Laufschuhs, gefunden, den wir niemandem zuordnen konnten. Viel Glück, Freunde!
Weg war er.
Enttäuscht saß Böwes auf seinem Platz und fügte sich in das Unvorstellbare.
"Ich fasse zusammen", begann er nach einer Weile. "Fremdverschulden kann aufgrund der Spurenlage ausgeschlossen werden. Und der Pathologe meint, es sei ein sauberer Schnitt, zumindest für so ein Gerät. Keine Abwehrbewegung. Das heißt: Es war kein Unfall! Was bleibt? Jürgen Reeder hat die Kettensäge selbst angestellt, auf den Boden gelegt und sich dann in aller Seelenruhe in das rotierende Sägeblatt gestürzt. Das nennt man wohl Selbstmord."
- Fortsetzung folgt -