Der Mantel
Ein Gedankenexperiment.
Stellen Sie sich vor Sie wären ein Mantel. Sie hätten nicht das spannendste Leben. Nach ihrer Entstehung würden sie viele Kilometer reisen, eingepfercht mit vielen tausend anderen Kleidungsstücken, ohne Licht, ohne Luft, ohne privaten Freiräume. Entwürdigend! Das ist ja schlimmer als Massentierhaltung! Warum macht da niemand was dagegen? Wahrscheinlich weil sich die wenigsten Leute in einen Mantel hinein versetzten können. Auf jeden Fall würden Sie dann in einem
Geschäft landen, wo Sie auf ihren Kauf warten. Sie lernen ihre Nachbarn kennen, schließen Freundschaften, doch das Ganze ist sehr fragil, denn Sie wissen alle ganz genau, dass Sie früher oder später gekauft werden und somit ihr nun lieb gewonnenes Heim verlassen müssen. Eines Tages werden Sie dann von irgendeinem reichen Schnösel mitgenommen und müssen sich den Kleiderschrank mit einigen eingebildeten Trenchcoats und Daunenjacken teilen. Aber Sie können stolz auf sich sein. Sie sind ein schöner Mantel. Gepflegt, pflichtbewusst und regenabweisend. Die meiste Zeit des Jahres verstauben Sie in einer dunklen
Ecke, aber wenn es draußen kalt wird ist Ihre große Zeit gekommen: Sie sind jetzt der Star und dürfen ihren Besitzer vor dem unangenehmen Wetter schützen.
Und jetzt stellen Sie sich vor Sie waren ihrem Herren bereits zwei Jahre zu Diensten und eines Tages gibt er Sie an einer Garderobe ab. Das kennen Sie schon. Gut erzogen wie sie sind lassen Sie sich ohne zu murren in den Schrank hängen. Sie bekommen eine Nummer aufgeklebt, die 319 und dann müssen Sie nur darauf warten, dass Sie wieder mitgenommen werden. Langsam wird eine Jacke nach der anderen abgeholt.
Sie rufen denen wahrscheinlich etwas wie „Bis Bald“ hinterher während diese ihnen „Viel Glück“ wünschen oder aufmunternd „Halte durch“ zurufen. Und dann sind Sie ganz alleine.
Jacken kommen, Jacken gehen und nach einiger Zeit, die ihnen wie eine Unendlichkeit vorkommt, werden Sie von zwei verwirrten Asiaten aus ihrem Gefängnis geholt. Die Asiaten tätigen einige Telefonate, aber anscheinend bringen diese kein Ergebnis denn Sie müssen wieder zurück in den Schrank. Kurz bevor Sie verzweifeln, werden Sie wieder hervor geholt und dürfen sogar an die frische Luft. Sie werden ein paar Blocks durch die Gegend getragen und
letztendlich einem älteren Herrn übergeben der Sie in eine Kiste mit der Aufschrift „Emergency Supply“ mit anderen, schon ziemlich heruntergekommenen und teilweise auch streng riechenden Kleidungsstücken gepackt. Das ist jetzt wirklich erniedrigend. Sie liegen neben Massenwahre, größtenteils Diskounterqualität. Schlecht gepflegt und von schlechtem Charakter. Wie sollen Sie das aushalten? Die Tage vergehen, für so ein Leben wurden sie nicht geschaffen! „Ich soll getragen werden verdammt!“ Doch anscheinend wurden Ihre Gebete erhört denn ihr Retter, ein Ritter in strahlender
Rüstung, in diesem Fall dreckige, abgetragene Turnschuhe, eine löchrige Jeans und ein T-Shirt mit dem Schriftzug „Go Giants“, erscheint. Mit strahlenden Augen hinter seinen zerzausten Haaren zieht er Sie aus der Kiste heraus, ein Junge noch keine fünfzehn Jahre alt. Das ist definitiv ein Statusdowngrade, aber das ist jetzt egal, Sie sind erlöst. Mit heller Stimme fragt er: „Kann ich den hier nehmen?“