Prolog
Sie hatte sich so lange auf diesen Abend vorbereitet. Den ganzen Tag war sie unglaublich aufgeregt gewesen, was heißt den ganzen Tag, die ganze Woche. Ihr Herzschlag hatte sich in letzter Zeit deutlich beschleunigt, sie war kaum zur Ruhe gekommen. Jetzt schlug es wie verrückt. Sie hatte vor ein paar Tagen ein Stechen bemerkt, irgendwo in ihrer Herzgegend. Vielleicht sollte sie in nächster Zeit einen Termin bei ihrem Kardiologen ausmachen. Sie sah schon die Schlagzeilen: Herzinfarkt mit 21, Guiness Weltrekord. Generationen an
exzessiv lebenden Teenies würden sich an diesem Rekord messen müssen.
Sie hatte einige Nächte schlaflos gelegen un in ihrer endlosen Unsicherheit und unbegründeten Sorge so manches graue Haar bekommen (oder ist das nur so eine Redewendung?). Aber sie hatte natürlich alles dafür getan, damit man ihr das nicht ansehen konnte.
In der Früh war sie zu dem Friseur, pardon Haarstylisten, ihrer Wahl gefahren und hatte ihre Haare, die schon normalerweise so manchen Männer- und neiderfüllten Frauenblick auf sich zogen, zu einer Frisur hochstylen lassen, formvollendet und
kunstvoll. Drei Nadeln hielten ihr dunkles Haar zusammen, in die Höhe ragend wie der Turm zu Babel. Oder zumindest wie eine kleine, chinesische Pagode und somit ungemein zum Ambiente passend. Nur eine Locke fiel ihr ins Gesicht und mit dieser spielte sie nervös, mit leicht zittrigen Fingern, ihre Fingernägel weiß wie ihr Kleid, im Kontrast zu ihrer dunkelbraunen Haut.
Zwei Stunden stand sie im Ba, sich schminkend, mit klopfenden Herzen und einem warmen Gefühl im Bauch, Schmetterlinge. Oder etwas anderes? Aber irgendetwas war in ihrem Kopf, ein Geräusch, monoton und gleichzeitig
penetrant, ein Schreien wie von ganz weit weg, gedämpft, kaum zu hören, aber auch kaum zu ignorieren. Ein Schreien, verzweifelt, verlassen und was sie am meisten beunruhigte, es war nicht ihre eigene Stimme, es war die eines Kindes. Warum hatte sie eine solche Angst? Ihr ganzes Leben war perfekt gewesen und das würde sich jetzt nicht ändern. Sie stellte die Stimmen in ihrem Kopf auf lautlos und machte Musik an, Frank Sinatra. Sie hatte sich so lange auf diesen Moment vorbereitet, sie würde ihn jetzt nicht verderben.
„Alex, ich wollte dir noch etwas sagen“ Sie sprach viel zu schnell, verhaspelte
sich fast. Sie brauchte nicht so nervös zu sein, er wird sich sicher freuen, was heißt freuen, er wird platzen vor Glück.
Seine Aufmerksamkeit sank bereits. Den größten Teil seiner Hirnkapazität hatte er dem Treiben um sich herum zugewandt, während er mit gestellt freudig-gespannten Blick auf ihren Mund starrte. Er hatte den Tisch vor vier Wochen reserviert und sie hatten Glück auch wirklich einen zu bekommen. Chinesisch war sehr angesagt bei Leuten die etwas auf sich hielten. Ein Heer Geschäftsleute besetzte die umliegenden Tische. Die Kellner flitzten zwischen den Tischen
hindurch und verteilten die letzten Portionen Peking Ente. Fast wie ein Ballett, kühl und gleichzeitig unglaublich fesselnd, begleitet von einer bizarren, atonalen Komposition, virtuos interpretiert auf dutzenden blank polierten Schuhsohlen. Vorhang! Applaus! Das Publikum tobt, manche sind sogar zu Tränen gerührt. „Alex? Hast du mir überhaupt zugehört?“, sagte sie mit Tränen in den Augen. Ihre Hände begannen zu zittern, alle Versuche es zu unterbinden misslangen. Wochenlang aufgestaute Anspannung, freigelegt in einem Augenblick. Eine Träne lief ihre linke Wange hinunter, eine helle Linie auf ihrem Gesicht
bildend.
Er war wohl einen kurzen, aber nicht ganz unwichtigen Moment unaufmerksam gewesen. Er ergriff ihre Hand. Wie ein verschrecktes Tier zitterte diese unter seinem festen, aber zärtlichen Griff. „Natürlich Darjeeling“, wer hatte sich eigentlich diesen Spitznamen ausgedacht? Er war es sicher nicht gewesen. „Ich hör dir immer zu! Könntest du es aber bitte trotzdem nochmal wiederholen? Du weißt ich bin nicht der hellste.“ Er setzte ein hoffentlich entschuldigendes aber auch schelmisches Lächeln auf. Sie schien es ihm abzukaufen. „Was?“
ihre tränenerstickten Augen funkelten zornig und fragend, ihr Makeup langsam zu einem Gemälde von Jackson Pollock zerlaufend. Sie hatte es ihm nicht abgekauft. „Was gibt es da nicht zu verstehen? Ich bin schwanger verdammt nochmal, ich dachte du würdest dich freuen.“
Sie hatte ihre Stimme erhoben und Wut und Enttäuschung schwangen deutlich mit. Nie war er in seinem ganzen Leben so gedemütigt worden. An den umliegenden Tischen wurde es sofort still, alle Augen waren auf sie gerichtet. Ein aufmerksamer Kellner hatte einen Scheinwerfer auf ihren Tisch ausgerichtet, ein Mann ging durch die
Reihen und verkaufte in einem Bauchladen Popcorn, weiter hinten durfte ein aufgeregtes Kind auf die Schultern seines Vaters. Das war der Moment auf den sie alle gewartet hatten.
Alex war immer auf der Sonnenseite des Lebens gestanden. Er hatte sein Leben fest im Griff, tat nur das was er wollte. Schon als Kind tourte er durch die Luxushotels der Kontinente, verbrachte mehr Zeit auf Golfplätzen als in der Schule (er musste ja seine zukünftigen Geschäftspartner kennenlernen). Er lebte mit dem Herzen einer schönen Frau in der einen und dem
Geldbeutel seines Vaters in der anderen Hand. Seine Unschuld verlor er mit vierzehn in Nizza an einem einheimischen Mädchen. Sein Vater zahlte ihr 300 Franc damit sie es nicht weitererzählte. Ein Dreyfuss paarte sich nicht mit dem einfachen Volk, zumindest nicht offiziell. Er wechselte Freundinnen so oft wie Autos, er fuhr sie ein paar Wochen und wenn es ihm zu langweilig wurde legte er sich eine neue zu. So manch eine fuhr er gegen die Wand, Kollateralschäden um seine Launen zu befriedigen. Er war unglaublich charmant und gutaussehend. Dann vor drei Monaten hatte er aber Selin kennengelernt. Sie
war halb französischer, halb türkischer Abstammung, aufgewachsen in Mannhatten und wohnte in dem Appartement über ihm. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden und nach einem Monat hatten sie sich entschieden zusammenzuziehen, da sie nachts eh schon bei ihm wohnte. Ein Schritt den er noch nie zuvor gemacht hatte, aber sie war wirklich etwas Besonderes. Sie war unglaublich attraktiv (also wirklich richtig), sehr romantisch und, was ihm am meisten gefiel, sehr bodenständig für diesen Kontostand. Aber sie war auch immer schon etwas zu verträumt und anhänglich. Er hatte zwar nicht die
Absicht sie in naher Zukunft zu verlassen, aber sich fester binden zulassen, als er es eh schon war, lag ihm noch weit ferner. All das Gesäusel von gemeinsamen Kindern hatte er ausgeblendet, ihre ganzen weitreichenden Pläne ignoriert. Doch jetzt hatte er die Kontrolle verloren, der Moment auf den alle seine Feinde gewartet hatten. Er würde sich keine Blöße geben. Das reichte. Es gab keine gemeinsame Zukunft, es gab nicht mal eine gemeinsame Gegenwart.
„Ist bei ihnen alles in Ordnung, Madam?“, ein besorgter Kellner war bei ihrem Tisch erschienen. Alles sonst war
ruhig, niemand beachtete sie. „Kann ich ihnen irgendwie helfen? Möchten sie ein Dessert?“ Sie hatte sich mit ihrer Serviette übers Gesicht gewischt, nur noch wenige Spuren waren von ihrem so mühsam aufgetragenen Makeup übriggeblieben. Sie wirkte sehr blass so ungeschminkt, immer noch schön, aber irgendwie krank. „Nein danke“, presste er heraus und machte eine wegwischende Handbewegung „Alles in Ordnung“. Der Kellner entfernte sich zügig. „Dir ist klar, dass das nicht geht, Sel?! Du wirst abtreiben! Wir sind nicht verheiratet. Ich habe dir gesagt ich will das nicht.“ „Aber wir können doch heiraten“, warf sie ein. Bittend,
flehentlich. „Das ist nicht dein Ernst? Ich werde dich nicht heiraten! Das wäre nie passiert. Verstehst du nicht? Du bist nur eine von vielen.“ Er stand auf. „Dieses Essen war deine Idee, du zahlst. Heute Nacht schläfst du bei deinen Eltern.“ Er eilte zielstrebig aus dem Restaurant. Als er in die kalte Nacht trat verspürte er Reue. Er hatte seinen Mantel an der Garderobe gelassen. Aber er war zu stolz jetzt noch einmal umzukehren. Er rief nach einem Taxi, den Mantel würde er morgen abholen. Nicht eine Sekunde dachte er an Selin und ihr gemeinsames Kind.
Sie blickte ihm hinterher wie er sich energisch zwischen Tischen und Kellnern hindurchschob. Sie war tief in ihren unbequemen Designerstuhl zurückgesunken. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Schmerz ab, die Tränen flossen erneut. Alles war falsch gelaufen. Sie war verlassen, der einsamste Mensch auf der Erde. Ihre Atmung beruhigte sich nicht, sie begann immer tiefer zu atmen, doch sie bekam keine Luft. Sie klappte den Mund auf und zu wie ein gestrandeter Fisch. In einem Herzschlag kann so viel passieren. Von einem Schlag auf den nächsten waren alle ihre Träume zusammengebrochen, alles Glück, alles
Leben in Verzweiflung umgewandelt. In ihr war nur Leere. Ein Herzschlag kann alles verändern. Ein Herzschlag kann auch unendlich lang sein, wenn nämlich das Herz mitten im Schlag aufhört zu schlagen. Bumm-bumm. Bumm…Stille. Ihr Atem stockte, langsam schlossen sich ihre zuvor weit aufgerissenen Augen.
Ihre Seele verließ den Körper, stieg auf, über die Wolkenkratzer bis in die Weiten des Weltalls. Stieg. Stieg immer weiter bis sie auf ein orange-blau schimmerndes Auge zustrebte. Es war kein echtes Auge, es war der Helixnebel, sie hatte mal in einer
Zeitschrift darüber gelesen. Sie schwebte durch den Mittelpunkt des Auges und erreichte eine neue Welt. Vögel zwitscherten, Glocken läuteten zur Mittagsstunde und sie blickte eine lange Straße zum Meer hinunter. Sie kannte diese Straße, sie hatte hier gelebt, vor sehr langer Zeit in einem anderen Leben. Sie war in der Stadt in der sie geboren wurde: Le Lavandou, an der Südküste Frankreichs. Sie spürte etwas in ihrer rechten Hand, etwas weiches, eine Kinderhand. Es war ein Mädchen, schwarze Haare und stechend blaue Augen, in denen sich die Unendlichkeiten des Universums spiegelten. Die Haare hatte sie von der
Mutter, die Augen vom Vater. Sie lächelte Selin an, „Alles wird gut werden!“ Aber da war noch etwas, ein dunkler Schemen auf der anderen Seite ihrer Tochter. „Keine Sorge, Mama. Er wird es bereuen, er wird brennen.“
Natürlich war das alles nicht echt, es spielte sich nur in Selins Kopf ab. Eine Simulation ihres Gehirnes, um ihr ihr bevorstehendes Ende zu erleichtern. Reine Fantasie. Wer würde so etwas auch glauben?
Ihre lächelnde Tochter war das letzte, das Selin sah, dann krachte ihr Kopf auf die Tischplatte. Gläser zerbrachen,
Blut vermischte sich mit Rotwein und bildete tiefrote Seen auf der Tischdecke. Aber Selin spürte nicht, wie sich die Glassplitter in ihren Kopf bohrten. Sie fühlte keinen Schmerz mehr, denn sie war nicht mehr da, niemand würde sie mehr verletzten können.