Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist in seinen Heimatort, den er vor zwanzig Jahren verlassen und seitdem nicht mehr betreten hat, zurückgekehrt. Er wollte es nicht, aber er muss es tun. Dabei hat er eine Kleinigkeit mitgebracht, die so wertvoll scheint, dass sie in einen Safe gehört. In einem Buchladen hat er zwei Bücher bestellt und Anna Bäcker kennengelernt.
"I have but two faces,
One for the world,
One for God, Save me"
Nightwish - The poet and the pendulum
"Ist der alte Meckeropa noch da?", fragte Böwes, während er in den weißen Schutzanzug schlüpfte. Das sollte nicht so steif wie sonst wirken und prompt war er beim ersten Versuch
auf dem Hosenboden gelandet. Er war eben nicht so elegant wie seine Kollegin und das war auch nicht sein erster misslungener Versuch, sie zu beeindrucken. Verbissen legte er den Mundschutz an und zog die Kapuze über den Kopf. Den Menschen auf der anderen Seite des Absperrbandes wandte er den Rücken zu. Er hielt schon unter normalen Umständen nicht viel von Gaffern, doch das kleine Missgeschick verschlechterte seine Laune noch. Nicht das er sonst ein Ausbund der Fröhlichkeit war.
"In der ersten Reihe und Du müsstest seine Messerblicke eigentlich im Rücken spüren", flötete Lisa-Maria fröhlich. Der Mundschutz verbarg die untere Hälfte ihres Gesichts, doch ihre Augen lachten.
"Ich konnte diese Stützen der Gesellschaft noch nie ausstehen. Mischen sich in alles ein. Stecken ihre Nasen in Angelegenheiten, die sie nichts angehen", schimpfte Böwes und ahmte dann die Stimme eines alten Mannes nach.
"Mein Name ist Penner, ich war der Lehrer hier und ich verlange, dass man mir sagt, was hier geschehen ist", mimikriete er.
"Renner, Alex, der Mann nannte sich Klaus Renner."
"Wie bin ich nur auf Penner gekommen? Scheißegal, lass uns anfangen."
Polizeioberkommissar Alexander Böwes und Polizeihauptmeister Lisa-Maria Krahn standen in der Einfahrt eines Einfamilienhauses, dessen Zugang mit Absperrband, vor allem aber durch zwei Streifenpolizisten, den Menschen verwehrt wurde. In der geöffneten Garage war der Platz eines brandneuen BMW X6. Das futuristische Haus ähnelte einem gelandeten UFO und hatte zwei Stockwerke. Mit einem schnellen Blick hatte Böwes es auf drei oder vier Millionen Euro geschätzt. Nun gingen er und seine Kollegin den gepflegten Plattenweg, der rechts neben der Garage vorbeiführte,
entlang, um hinter das Haus zu gelangen. Sie gehörten zum Speziellen Gewaltdezernat im Polizeipräsidium Werrentheim.
Der Ruf der Streife hatte sie um 8 Uhr 57 erreicht. Zuerst hatte sich die Spurensicherung und dann die beiden auf den Weg in das 60 Kilometer entfernte Nest, das hinter den Bergen an einem See lag, gemacht. Dessen leises Rauschen brachte eine leichte Brise mit sich. Eine warme Sonne, die schon hoch am Himmel stand, feierte diesen schönen Sommertag. Das war blanker Hohn und die erfahrenen Ermittler wussten es. Lisa-Maria Krahn holte einen Notizblock hervor, während sie sich der Werkstatt, die am Ende des prächtigen und fast fußballfeldgroßen Gartens lag, näherten.
"Der Assistant Garden Manager rief um 8 Uhr 7 den Notruf an. Die..."
"Moment!", unterbrach sie ihr Chef. „Der was?"
"Assistant Garden Manager."
"Der Gärtner."
"Klar!" Lisa-Maria Krahn lachte. "Also, der Gärtner rief um 8 Uhr 7 den Notruf an. Die Kollegen machten sich auf den Weg und trafen um 8 Uhr 43 ein. Brauchten eine Weile um hierhin zu kommen. Der Mann heißt Ahmed Genc und war ganz außer sich. Kein Wort war aus ihm herauszubringen. Total verstört. Führte die Kollegen von der Streife zur Werkstatt. Die riefen uns sofort an."
"Der Grund?"
Lisa-Maria Krahn blätterte ihren Notizblock um. "Jürgen Reeder. Geschäftsführer seines eigenen Investmentunternehmens. Unter dieser Adresse ist auch noch eine Melanie Reeder gemeldet, seine Frau. Keine Spur von der. Keine Kinder, keine Vorstrafen, nur eine Menge offene Strafzettel wegen Falschparkens."
Sie hatten die Werkstatt erreicht. Ein süßlicher Geruch schlug ihnen durch die geöffnete Tür entgegen. Von drinnen drang die
Stimme von Hermann Felder, dem Chef der Spurensicherung, zu ihnen. Seine Mitarbeiter hatten ihre Ausrüstung vor der Werkstatt ausgebreitet.
"Dann wollen wir mal", sagte Böwes und er und Lisa-Maria Krahn traten durch die Tür.
Es war eine Mischung aus Werkstatt und Hobbyraum. Auf der rechten Seite standen Lokomotiven und Waggons der Spur H0 in zwei großen Vitrinen. Dahinter kam ein Werktisch, an dem jemand dabei war, aus Styropor ein großes Gebirge zu bauen. Material, kleine und große Werkzeuge, verschiedenen Klebstoffe und unterschiedliche Farbtöpfchen waren da. Daneben standen noch unausgepackte kleine Bäumchen aus Plastik und ein gelber Karton, auf dem ein Berggasthof abgebildet war. Hinter dem Tisch führten drei Treppenstufen zu einer Tür hinunter. Über der hing ein Schild mit der Aufschrift Hauptbahnhof.
An der Rückwand standen ein Elektrovertikutierer, ein Benzinrasenmäher, mehrere Säcke mit Blumenerde, verschiedene Harken und Säcke für Grünschnitt. All diese Dinge wurden penibel sauber gehalten.
Die ganze linke Seite nahm eine monströse Werkbank ein. Über ihr hing ein ein Schrank aus Kunststoff mit vielen kleinen Schubfächern, in denen - kleine, grün beschriftete Aufkleber, die an ihnen hafteten, verrieten das - Schrauben, Nägel und Dübel in allen Größen ihrer Verwendung harrten. Außerdem hingen über der Werkbank, sauber aufgereiht wie angetretene Soldaten, Hämmer, Äxte, Spaten aus Edelstahl, Unkrautstecher, Blumenkrallen und alle möglichen weiteren Gerätschaften. Markengeräte, das verstand sich von selbst. Die Kreuzhacke, die in einer Ecke stand, war nicht angerührt worden, was Böwes seltsam fand, denn es wäre doch viel einfacher gewesen...
"Herr Kommissar?"
Einer der Streifenpolizisten stand in der Tür. Dabei vermied er es, auf den Boden zu blicken.
"Herr Kommissar, da steht ein Mann vor der Absperrung, der Sie sprechen möchte."
Böwes runzelte die Stirn unter dem weißen Schutzanzug, was darum niemand sehen konnte. "Wimmeln sie ihn ab!", antwortete er gereizt.
"Es ist aber Wilhelm Henkel."
Das sagte dem Kommissar zunächst nichts, doch als Lisa-Maria Krahn, dankbar dafür, nicht mehr in die Werkstatt blicken zu müssen, ihn anstupste, fielen Böwes Gesicht und Geschichte zu dem Namen wieder ein. Wilhelm Henkel war ein ehemaliger Polizist und vor fünf Jahren pensioniert worden. Seine letzten zehn Dienstjahre hatte er sinnlos im Polizeipräsidium von Werrentheim verbracht. Er gehörte zur alten Garde. Die meiste Zeit seines Lebens war er der Dorfpolizist in diesem Nest gewesen.
"Bringen Sie ihn her", sagte Böwes.
Der Streifenpolizist verschwand durch die Tür. Die beiden anderen taten es ihm nach. Gerne überließen sie die Spurensicherung ihrer Arbeit.
Wilhelm Henkel war ein freundlich wirkender Mann von gut 70 Jahren mit schlohweißem Haar. Er trug eine etwas altertümliche graue Strickjacke, machte aber keinen gebrechlichen Eindruck.
"Guten Tag, Herr Kommissar Böwes."
"Guten Tag, Herr Henkel. Das hier ist Polizeihauptmeister Krahn."
"Guten Tag, Fräulein Krahn."
'Fräulein? Ein wenig altmodisch', dachte Böwes und schaute aus den Augenwinkeln auf seine Kollegin. Sie ließ sich nichts anmerken, doch ihre Augen blitzten auf. Die alte Garde hielt nicht viel von Frauen im Polizeidienst.
"Darf ich einen Blick darauf werfen?", fragte Henkel.
"Vielleicht später", antwortete Böwes, "aber
zunächst möchte ich Sie etwas fragen."
"Ich helfe gern."
"Sie kennen Jürgen Reeder?"
"Aber natürlich. Er ist ein erfolgreicher und geachteter Geschäftsmann. Jeder in unserer Gemeinde kennt ihn. Kirchenvorstandsmitglied. Erster Vorsitzender und großzügiger Sponsor unseres Fußballklubs. Immer freundlich gegen alle." Henkel seufzte.
"Er hat eine Frau", warf Lisa-Maria Krahn ein.
"Äh... ja... die hat er." Die Frage war Henkel sichtlich peinlich. "Melanie. Es ist ein Jammer. Sie müssen wissen, sie ist nicht ganz bei Trost. Verrückt. Aber Jürgen steht fest an ihrer Seite, denn er hat ein edles Gemüt."
"Könnte sie... ?", wollte Böwes wissen.
"Sie? Nein, bestimmt nicht!" Henkel hob abwehrend die Hände. "Ja, sie ist verrückt, aber sie ist friedlich. Völlig harmlos."
"Wissen Sie, wo sie steckt? Wir suchen sie."
"Heute ist der erste Dienstag im Monat. Da ist
sie bei der Fußpflege", antwortete Henkel, der offensichtlich genau wusste, was er sagte.
Es entstand eine kleine Pause. Aus der Werkstatt klang der dröhnende Bass von Herrmann Felder und das leise Klappern der Gerätschaften, mit denen seine Mitarbeiter auf der Suche nach allen nur erdenklichen Spuren waren. Kurz schaute Böwes zu Lisa-Maria Krahn. Es war unüblich, unbeteiligten Zivilisten Zutritt zu einem Tatort zu gewähren. Aber schließlich gehörte Henkel früher zur Truppe und die beiden Polizisten, durch sein auffallendes Interesse aufmerksam geworden, waren auf seine Reaktion gespannt. Böwes trat zur Seite und zeigte auf die Werkstatt. Henkel nickte dankend, ging zur Tür... und prallte von ihr ab wie ein Artist von einem Trampolin!
Die Werkstatt/der Hobbyraum war eine aufgeräumte Sache. Zumindest war er das früher gewesen. Jetzt lag Jürgen Reeder auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten. Um ihn
herum war eine furchterregend große Blutlache. Wäre Reeder nicht schon tot gewesen, er wäre womöglich in seinem eigenen Blut ertrunken. Die Spritzer hatten sich über den ganzen Raum verteilt. Die früher makellos weißen Wände waren blutrot gezeichnet, als habe ein Rasensprenger die Flüssigkeit verteilt. Ein unerträglich süßlich-metallischer Geruch erfüllte den Raum. Und Jürgen Reeder lag regungslos auf dem Boden. Etwas neben ihm fand sich sein linker Arm. Die abgetrennten Gliedmaße und seine Schulter wurden von der benzingetriebenen Motorsäge getrennt. Sie war fast völlig rot. Besonders das Kettenblatt, mit dem der Arm vom Rumpf getrennt worden war, troff vor Blut.
- Fortsetzung folgt -