Es ist spät geworden.
Wer im Ausland leben möchte, besonders in einem exotischen Land, der muss viel lernen, in Mexiko zum Beispiel. Die Mexikaner haben einen ganz eigenen Umgang mit der Zeit; die obendrein einem eigenen Gott untersteht. Nachstehend meine eigene unvergessliche Erfahrung auf dem Gebiet.
Montag, viertel vor sieben. Eigentlich wollte der Schreiner um fünf Uhr da sein, um die Maße für die neue Balkontür zu nehmen . Mein Freund Álvaro, ein Architekt, hat ihn mir empfohlen:
„Wirklich zuverlässig. Don José hat die Türen und Fenster für mein letztes Haus gemacht, und ich war sehr zufrieden. Sag ihm, dass ich ihn empfohlen habe, dann kommt er bestimmt.“
Am Freitag habe ich Don José angerufen und ihm die Tür beschrieben, und als ich Álvaro erwähnt habe, war er sofort bereit. Er hat die Uhrzeit vorgeschlagen, und ich habe extra einen Termin abgesagt, um zu Hause zu sein, wenn er kommt. Aber auch mehr als anderthalb Stunden später ist von Don José weit und breit nichts zu sehen. Ich rufe ihn auf dem Handy an.
»Ich hab Sie nicht vergessen!« ruft Don José fröhlich ins Telefon. »Aber Sie
werdens mir nicht glauben, se me hizo tarde.«
Ich liebe die spanische Sprache. »Se me hizo tarde«, das müsste man wörtlich übersetzen mit »es hat sich mir spät gemacht«. Das Spanische versteckt gern die handelnde Person Spanischlehrer sprechen vom »impliziten Subjekt«. Wenn ich zum Beispiel »hice« sage, dann heißt das, »ich habe gemacht«, aber das Ich, das etwas macht, wird nicht direkt genannt, sondern es versteckt sich im -e am Ende. Aber wenn mein Schreiner sagt, »se me hizo tarde«, dann versteckt sich da gar niemand. In seinem Satz kommt überhaupt keine handelnde Person vor,
weder offen noch verborgen: Niemand tut etwas, niemand ist verantwortlich. Der Schreiner taucht nur als Objekt auf: Er wird zum Gegenstand des Spätmachens, er ist das Opfer der tickenden Uhr. Don José wird einfach von der Zeit überrollt und erleidet ihr Verstreichen. Unaufhaltsam marschieren die Zeiger weiter, und irgendwann ist es eben zu spät, ohne dass irgendjemand etwas dafür kann. Das ist so wie der Satz »es regnet« so was passiert eben, die Schleusen öffnen sich, ohne dass jemand einen Hebel bedient, und dann werden wir eben nass. So ist es auch mit dem zu spät kommen: Es passiert, ohne dass irgendjemand etwas dazu tut. Es ist
eine Naturgewalt, vielleicht auch reine Magie.
Don José schlägt vor, seinen Besuch morgen Nachmittag um fünf nachzuholen.
»Ganz bestimmt?«
»Natürlich, Señora, mil disculpas, de veras, mil disculpas.«
Dienstag, viertel vor sieben. Ich rufe Don José an. Es klingelt eine ganze Weile, und kurz bevor der Anrufbeantworter anspringt, geht Don José ans Telefon. Er klingt verspannt.
»Sie werden es nicht glauben se me complicó.«
Es hat sich mir kompliziert. In diesem Satz gibt es nicht nur keinen Handelnden, sondern es bleibt auch völlig im Dunkeln, was sich da kompliziert hat. Don Josés leicht gehetzter Ton lässt alles Mögliche vermuten: Vielleicht steht der arme Mann mit einem Platten am Seitenstreifen der Autobahn und kniet mit dem Handy am Ohr vor dem aufgebockten Wagen, während zwei Zentimeter hinter ihm die Autos vorbeirasen. Vielleicht ist er von der Zickamücke gestochen worden, liegt mit 42,5 im Bett und kann keinen Finger rühren. Vielleicht steht er mit dem leeren Feuerlöscher in der Hand auf der
Straße, der Himmel erleuchtet von den Flammen, die aus seiner brennenden Werkstatt lodern. Dann höre ich im Hintergrund Musik und das Klappern von Gläsern. Es kann also nicht so schlimm sein. Wir einigen uns, dass er morgen kommt.
»Auf jeden Fall, klar. Disculpas, eh.«
Mittwoch, viertel vor sieben. Ich rufe Don José an. Niemand geht dran. Ich lege mein Handy weg und warte ein paar Minuten, dann rufe ich vom Festnetz an. Don José antwortet.
»Ah, Sie sinds.« Er klingt ungehalten.
»Sie werdens nicht glauben, se me perdió su dirección.«
Ihre Adresse hat sich mir verloren. Immerhin hat der Satz diesmal ein Subjekt, und es gibt einen eindeutigen Schuldigen: die Adresse. Sie hat sich ihm verloren. Wie niederträchtig von ihr! Wie konnte es ihr einfallen, sich dem armen Don José zu verlieren! Womöglich hat sie einen unbeobachteten Moment abgewartet, um ihm aus der Tasche zu springen. Ich gebe sie ihm noch einmal, und er wiederholt sie. Er klingt gereizt, aber ich kann ihn verstehen. Wie soll man diesem heimtückischen Ding je wieder vertrauen können?
»Morgen?, frage ich dann.
»Ja, sicher, morgen.«
Donnerstag, viertel vor sieben. Ich rufe Don José an. Keiner geht ran. Ich rufe vom Festnetz aus an. Wieder keiner. Ich überlege, ob ich mit Lulús Telefon anrufen soll, aber dann lasse ichs. Wahrscheinlich hat es sich Don José spät gemacht. Oder schlimmer noch, vielleicht hat sich ihm was kompliziert. Vielleicht hat sich ihm auch das Telefon verloren. Oder wer weiß, vielleicht bin ja auch ich schuld, dass ich ihn so mit meiner blöden Türe nerve. Aber ich kann
nichts dafür. Se me ocurrió es hat sich mir halt so eingefallen.
So kam es, dass die Tür bei unserem Auszug noch in solch schlechtem Zustand war.