Kennen Sie die Ackerwinde? Im Internet finden Sie unter dem Stichwort „Bekämpfung der Ackerwinde: „Die Ackerwinde gehört zu den wirklich hartnäckigen Unkräutern. Sie loszuwerden kann eine richtige Kunst werden. Die Ackerwinde komplett zu bekämpfen ist schwer.“
So wie mit der Ackerwinde geht es einem mit den Vorurteilen
Die Pfahlwurzeln der Ackerwinde stecken tief im Boden, und das mehrmalige Entfernen ihrer Blätter an der Oberfläche nützt wenig. Wenn man sie nicht mit ihrer Wurzel ganz tief aussticht, ist ihr nicht beizukommen. So ist es auch mit den Vorurteilen, die tief im Unterbewusstsein eines Menschen wurzeln und noch lange nicht beseitigt sind, wenn man sie mit dem Hirn als solche erkennt. Weil man sich seelisch nicht von ihnen gelöst hat, kehren sie wieder, so wie die Ackerwinde.
Ich will von einem Vorurteil erzählen, das ich rational beseitigt habe, das mich aber von Zeit zu Zeit, aus tiefem Unterbewusstsein aufsteigend, doch wieder einholt.
Verunsichert zurück aus Frankreich
1958 fuhr ich mit einem Klassenkameraden kurz nach dem Abitur mit einer BMW-Isetta nach Metz in Nordfrankreich. Unser Reiseetat war so klein wie unser Autochen, und wir wähnten uns sehr weit von der Heimat entfernt, als wir Metz erreicht hatten.
Begeistert von dem Besuch der Kathedrale wollten wir abends auf einer Tanzveranstaltung die schönen jungen Französinnen kennen lernen, von deren Charme wir so viel gehört hatten. Gleichwohl nisteten tief in unserem Unterbewusstsein die Vorurteile von dem Erbfeind Frankreich und den arroganten Franzosen, die in den fünfziger Jahren immer noch von einigen Kriegsteilnehmern verbreitet wurden. Wir aber scherten uns wenig um unser Unterbewusstsein. Für uns war Frankreich das Land der Aufklärung. Wir hatten in der Schule einige Dramen und Romane von den berühmten Existentialisten Sartre und Camus gelesen und erhofften uns amüsantes Flirten mit jungen Französinnen.
Aber bald schon mussten wir auf der Tanzveranstaltung einsehen, dass auch in Frankreich die Vorurteile gegen Deutsche noch kräftig weiter gepflegt wurden. Nach den ersten zwei Körben, die wir uns von den bewunderten Französinnen holten, wollten wir es wissen. Aber wir machten nicht einen einzigen Tanz. Unsere steifen deutschen „Diener“, mit denen wir die Damen aufforderten, brachten uns nahe an die Grenze der Lächerlichkeit. Tief betrübt saßen wir bald vor unseren Biergläsern und hätten unseren Kummer im Alkohol ertränkt, wenn unsere Reisekasse nicht gar so klein gewesen wäre.
Nachdem wir uns einigermaßen wieder gefasst hatten, trösteten wir uns mit dem Vorurteil von den arroganten Französinnen und beschlossen trotz aller Kunstschätze nie mehr auf französischem Boden unseren deutschen Charme zu versprühen.
Unabsichtlich wieder in Frankreich
Es dauerte bis 1962, als ich mich zufällig in Frankreich wiederfand.
Meine erste Reise mit meiner Frau führte uns an die Costa Brava nach Spanien. Die 14tägige Reise war für die damalige Zeit sehr preisgünstig, weil wir mit zwei Studenten als Veranstaltern fuhren, die sich einen kleinen bejahrten VW-Bus gemietet hatten.
Wir wollten eigentlich einen Zwischenstop in Bordeaux machen, landeten wegen einer Panne mit unserem alten Vehikel an einem Freitagabend in Bourges, einer schönen Bischofsstadt in der Mitte Frankreichs. Wir hatten zwar einige Peseten bei uns, aber kein französisches Geld, und damals war man mit dem Umtauschen der Währungen noch nicht so flexibel. Also machten wir uns am Samstagmorgen auf den Weg und suchten vergeblich nach einer Bank, die geöffnet hatte. Ein etwa fünfzigjähriger Franzose sah uns ratlos und unschlüssig und bot uns seine Hilfe an. Als auch das von ihm avisierte Bankhaus geschlosssen war, drückte er mir 50 Franc in die Hand. Viel Geld für junge Leute, die noch studierten. Ich mochte es nicht annehmen und versuchte, ihm das Geld zurückzugeben. Als er merkte, wie ernst es mir damit war, machte er auf dem Absatz kehrt und entfernte sich eiligen Schrittes. Da standen meine Frau und ich nun mit den 50 Franc und waren einfach glücklich über diese unverhoffte Aufbesserung unserer Reisekasse.
Nach dem Desaster in Metz vor vier Jahren war das eine ganz andere Erfahrung in Frankreich.
Der Aufenthalt an der damals touristisch noch wenig erschlossenen Costa Brava war wunderschön, und auf der Rückreise durch Frankreich machten wir diesmal eine geplante Zwischenübernachtung in Besancon, das auf derselben geografischen Breite wie Bourges liegt. Das heißt, die wenigen Mitreisenden übernachteten in einem Hotel und die armen Veranstalter, die beiden Studenten, schliefen schlecht und recht in ihrem Bus. Schon kurz nach der Weiterfahrt rammte der Fahrer völlig übermüdet eine weit auf den Bürgersteig reichende Häusertreppe. Das Glas der Frontscheibe des Wagens zersplitterte, und meine Frau, die neben dem Fahrer saß, hatte knapp oberhalb der Schläfe eine klaffende Wunde, die stark blutete. Zufällig befand sich gegenüber dem Unfallort eine Arztpraxis. Wir trugen meine Frau in diese Praxis und legten sie behutsam gegenüber dem Sprechzimmer auf dem Boden ab. Der französische Arzt behandelte eine Zeitlang seelenruhig seine Landsleute weiter, ohne meine Frau in ihrem offensichtlich gefährdeten Zustand auch nur zu untersuchen. Ein französischer Gendarm, der nach Aufnahme des Unfalls hineinkam, machte dem Arzt heftige Vorwürfe mit dem Erfolg, dass er meine Frau jetzt behandelte, jedoch nicht gerade zartfühlend. Er nähte ihre Wunde ohne Narkose, war jedoch beeindruckt von ihrer Disziplin. Als er in verschiedenen anderen Sprachen, schließlich aber auf Deutsch ihre Personalien und ihren Vornamen (Rosemarie) erfragte, war der Mann plötzlich wie umgewandelt: höflich und zuvorkommend. Er schloss die Behandlung in seinem privaten Raum neben dem Sprechzimmer ab.
Von der damaligen Verletzung meiner Frau ist nichts zurückgeblieben, aber an die zwei Erlebnisse in Frankreich erinnern wir uns noch oft, an den liebenswürdigen Passanten, der uns das Geld schenkte, und an den zunächst teilnahmslosen Arzt, der übrigens im gleichen Alter wie der Glück bringende Passant war.
Wir haben uns dann eine Theorie für die gegensätzlichen Erlebnisse zurechtgelegt. Wir vermuten heute noch, dass die beiden französischen Männer im zweiten Weltkrieg ganz unterschiedliche Erlebnisse mit Deutschen hatten und entsprechend unterschiedlich reagierten. Die Erfahrungen des einen mit Deutschen, so spekulieren wir, waren gut und er gab uns etwas zurück, die Erlebnisse des anderen schlecht
Aber vielleicht gab es unter den negativen Erfahrungen des Arztes eine Ausnahme, eine Deutsche mit Namen Rosemarie, die mit ihrem positiven Verhalten seine sonst negativen Eindrücke nicht bestätigte.
Nach unseren beiden gegensätzlichen Erlebnissen in einem Land beschlossen wir, frei von Vorurteilen ins Ausland zu fahren. Das ist uns weitgehend gelungen, und unsere Offenheit, die sich ja auch durch Körpersprache mitteilt, hat uns manche schöne Geste in anderen Ländern erfahren lassen. Aber, und damit komme ich auf meine Erlebnis in Metz zurück:
Wenn ich irgendwo im Ausland Franzosen erlebe, die sich, wenn sie in Gruppen reisen, vielleicht mehr als in anderen Nationen üblich, auf sich selbst konzentrieren und vielleicht selbstbewusst die Kommunikation mit anderen ethnischen Gruppen nicht so schnell suchen, dann muss ich an Metz denken. Die Jugenderfahrung sitzt noch tief in mir, und ich muss mich positiv konditionieren, um nicht vorschnell wieder in das alte Vorurteil zu verfallen, dass die Franzosen arrogant seien.