Gernot in Not
Diese Geschichten sind meinen Enkelkindern gewidmet, die den kleinen Geist so sehr lieben, dass ich mich zu einer Veröffentlichung entschloss.
Bilder und Text von Marle
Es war schon lange dunkel draußen. Um diese Zeit schlafen die Menschen sonst tief und fest in ihren Betten. Doch in der lauwarmen Sommernacht, in der unsere
Geschichte begann, war alles ganz anders.
Tausende Besucher schoben sich durch die engen Straßen der Stadt. Die Häuser waren mit bunten Fähnchen, Blumen und Bändern hübsch geschmückt. Die Straßenlaternen leuchteten ganz hell und von den Plätzen schallte laute Musik. Es wurde getanzt, gesungen und gelacht.
Die Händler priesen ihre Waren an und die Karussells drehten sich so schnell, dass vielen beim Hingucken ganz schwindlig wurde.
In dieser Nacht dachte keiner daran ins Bett zu gehen. Die Gäste wollten feiern. Sie wollten fröhlich sein und sie wollten die Nacht zum Tage machen. Sie wollten nicht schlafen. Sie feierten ihr jährliches Altstadtfest.
Der große Zeiger der Kirchturmuhr rückte gerade auf die Zwölf, da begannen
die Kirchturmglocken an zu läuten. Bim, Bam, Bim, Bam, ganz laut. Sie wollten den Gästen in den Straßen sagen, dass es Mitternacht sei.
Geisterstunde.
Aber die Menschen hörten sie gar nicht. Der Trubel verschluckte jeden Ton. Niemand dachte daran, dass es noch andere Wesen gibt, die des Nachts durch die Gassen streifen. Vielleicht sah der eine oder andere hin und wieder eine Fledermaus, aber die meisten Fledermäuse waren schon zum Jagen auf die Felder geflogen. Bei dem Gedränge hätten sie in der Stadt doch nichts zu fressen finden können.
Weil so ein dichtes Gedränge war, sah
auch keiner den kleinen Geist, der hoch oben über den Köpfen der Menschenmenge schwebte.
Hui, machte ihm das einen Riesenspaß. Heute war er nicht allein. Er flog nicht durch eine leere Stadt. Es waren viele Menschen da. Musik, köstliche Gerüche, fremdartige Gesten, Dinge, die er noch nie gesehen hatte. Endlich war mal etwas los in der alten, stillen Stadt. Der kleine Geist konnte sich gar nicht satt sehen am fröhlichen Treiben.
Er flog zwischen den Bäumen hindurch, drehte sich im Kreis, schoss höher in die Luft, um sich im Sturzflug wieder fallen zu lassen. So hatte er einen Heidenspaß, er war glücklich.
Doch es kam, wie es kommen musste. Er hatte mal ganz kurz nicht aufgepasst, sondern zu den Tanzenden herunter geschaut, wie sie sich drehten, schunkelten und bewegten, weil er es ihnen nachmachen wollte. Da hatte er sich auch schon verheddert, an einem langen Seil an dem viele bunte Luftballons festgebunden waren.
Der kleine Geist war heftig erschrocken und versuchte sich wieder frei zu bekommen. Er wollte doch so gern weiter fliegen. Er zerrte und ruckte an dem Seil, aber er bekam sein Kleid nicht los. Er gestikulierte mit den Armen, rief laut um Hilfe, aber keiner hörte oder sah den kleinen Geist, der hoch oben bei den
Luftballons gefangen war.
Auch der Mann, der die Luftballons hielt, merkte nichts vom
Geisterschicksal. Er hatte selbst so viel zu tun, um die Ballons an die Leute zu verkaufen, dass er gar nicht nach oben schauen konnte.
Der kleine Geist war in großer Not. Sein Kleid war nur ganz dünn und durfte keinen Riss bekommen, sonst kann ein Geist nämlich nicht mehr fliegen.
Und wenn ein Geist nicht mehr fliegen kann, hat er sein Leben auch bald ausgehaucht.
Außerdem wurde es höchste Zeit, dass er wieder nach Hause flog. Zurück zur großen Kirchturmuhr, wo er bei den Glocken wohnte. Die Geisterstunde war um ein Uhr vorbei und wenn der kleine Geist nicht pünktlich war, ließ ihn der
große Zeiger nicht mehr herein. Der war nämlich ganz streng und wartete nicht. Der große Zeiger hatte niemals Zeit und musste sich schon wieder um die nächste Stunde kümmern.
Da schlug die Glocke auch schon ein Uhr.
Die Geisterstunde war vorbei und der
kleine Geist war nicht Zuhause. Außerhalb der Geisterstunde durfte ein Geist draußen nicht mehr fliegen. Der kleine Geist wurde hibbelig, zerrte immer wieder an dem dicken Seil und schaute sich ganz ängstlich um. Ja, der kleine Geist, der des Nachts gern die Menschen neckte und erschreckte, hatte nun selbst ein wenig Angst...
Wenn Geister spuken um Mitternacht,
ist meistens Vorsicht angebracht.
Sie geistern gern im Sternenlicht,
ob du ins Bett gegangen bist.
Sie schauen gern im Mondenschein
zu dir ins Stubenfenster rein.
Drum leg dich rechtzeitig zur Ruh
und mache schnell die Augen zu.
Fängt dann ein Geist zu spuken an,
bist du schon lang im Träumeland.
Gute Nacht!
Wie mag sein Abenteuer ausgehen?
Alleine, das war dem kleinen Geist klar,
würde er sich nicht befreien können.
Aber wer konnte ihm nur helfen?
Ob ihn überhaupt jemand sah, hoch oben bei den Luftballons?
Dies ist wieder eine neue Geschichte.