Was bisher geschah:
Hans-Joachim Gote ist auf dem Weg zurück in seinen Heimatort, den er vor zwanzig Jahren verlassen und seit dem nicht mehr betreten hat. Er will es nicht, aber er muss es tun.
"A widowed writer torn apart by chains of hell"
Nightwish - The poet and the pendulum
Nicht über die Hauptstraße, sondern eine kleine Nebenstraße fuhr Gote in seinen Heimatort ein. Sie führte knapp unter der Kuppe des Hügels entlang, auf dessen Spitze die alte Kirche stand. Über die Straße hinweg kam hangabwärts der Friedhof, umfasst von einem Mäuerchen, das so niedrig war, dass man die größeren Grabsteine erkennen konnte. Auf dem Ältesten
von ihnen stand der Name Diederich Stallwang geschrieben, der 1693 - Tag und Monat hatten Wind und Regen getilgt - gestorben war. Heute gab es hier keine Stallwangs mehr.
Hinter dem Friedhof lag der Dorfplatz, auf dem das Kriegerdenkmal stand, mit markigen Worten auf der Vorder- und den Namen der Gefallenen auf der Rückseite. Dann kam die Hauptstraße, danach die Geschäftszeile. Es gab einen Supermarkt, eine Apotheke, ein Schuh- und Sportartikelgeschäft, einen Friseur und - wohl seit Neustem, woher sollte Gote das wissen, schließlich war er 20 Jahre lang nicht mehr hier gewesen - eine Pizzeria und ein Internetcafe, das, wie es schien, von Elektro Kuth betrieben wurde. Den Mittelpunkt bildete aber immer noch Brauns Bücher.
Gote verlangsamte das Tempo, getraute sich aber nicht anzuhalten. Die Wirkung, die dieser Ort auf ihn hatte, war doch größer, als er gedacht hatte. Es war wie früher. Und dann kam
ihm auf dem Bürgersteig an der Friedhofsmauer entlanggehend ein Mann entgegen. Er war älter geworden, natürlich, sein Haar war ergraut, doch er trug noch immer denselben braunen Regenmantel, die Hose mit den vielen Flicken und die grünen Gummistiefel. Auf dem Kopf hatte er einen ausgefransten Anglerhut und er brabbelte die ganze Zeit leise unverständliche Worte vor sich hin. In der linken Hand hielt er ein zerfleddertes Buch. Gote wusste, dass es die Bibel war. Hans Hasenscharte wie er leibt und lebt.
All das war zu viel für Gote. Er tippte das Gaspedal nur an und der leichtgewichtige Seven machte einen Sprung vorwärts. Einmal rechts, den flachen Hügel hinab, vorbei an den Arbeiterhäusern, nach links auf die Hauptstraße einbiegen und schon hatte Gote den Ort hinter sich gelassen. Der Fahrtwind wehte ihm um die Ohren und er atmete erleichtert auf. Nach wenigen Minuten kam die
Abzweigung. Ein festgefahrener Feldweg führte einen Hügel hinauf bis zum Waldrand. Dort stand das Haus, das er für zwei Wochen gemietet hatte, obwohl er glaubte und hoffte, dass seine Geschäfte ihn nicht so lange hier festhalten würden. Die Besitzer wohnten in Frankfurt am Main, kamen nur selten hierher und hatten kaum Anschluss an die Dorfgemeinde. Eine Makler besorgte die Vermietung. 'Ein weiterer Vorteil', dachte Gote, als er den Wagen vor dem Haus abstellte. Er griff nach der Reisetasche und der Tüte mit der Tiefkühlkost, die auf dem Beifahrersitz gelegen hatten und ging über den Kiesweg zur Haustür, öffnete diese mit dem Schlüssel, den ihm im Maklerbüro eine schlanke Blondine in einem Hosenanzug ausgehändigt hatte. Ein Geruch von Staub, wenig benutzten Möbeln und abgestandener Luft, die zu lange in den Räumen gehangen hatte, schlug ihm entgegen.
Langsam schritt er durch den Flur und betrat
das Wohnzimmer, stellte Tüte und Reisetasche ab. Die folgende Stille war greifbar. Vorsichtig bewegte Gote sich durch die Dunkelheit auf die gläserne Tür zu, hinter der die Terrasse und der Wald lag. Er zog den Rollladen nach oben und sogleich malten die Sonnenstrahlen die Staubteilchen an, die im Raum schwebten. Aufmerksam schaute er nach draußen. Niemand war in Sicht. Dann schaute Gote sich um und entdeckte an einer der Wände das abscheuliche Bild mit dem röhrenden Hirsch vor schneebedeckten Bergen. Dahinter lag der Safe. Sicherlich war der für Diebe kein ernst zu nehmendes Hindernis, doch es war besser als nichts. Er zögerte einen Augenblick, dann nahm Gote das kleine Holzkästchen aus seiner Reisetasche. Wie immer verspürte er jenes große Verlangen hineinzuschauen. Ein ganze Zeit lang stand er so da und kämpfte mit sich selbst. Doch es endete wie immer. Erstaunlicherweise hatte das Ding letztlich
keine Macht über ihn. Dennoch seufzte er zufrieden, nachdem er das Holzkästchen in dem Safe deponiert hatte.
- Fortsetzung folgt -