Selfies 2.0 oder der Gurken-Radweg
Für gewöhnlich lassen sich niedergelassene Nervenärzte als auch die Kollegen aus den örtlichen Krankenhäusern dazu verleiten, 5 mg Haloperidol, ein hochpoten wirkendes Antipsychotika entwickelt für den Einsatz bei akuten und chronischen schizophrenen Syndromen zu verordnen, wenn einer ihrer Patienten zu ihnen folgendes sagt: „Ich bin vollkommen fertig, weil ich den ganzen Tag einer lachenden Essiggurke mit Stirnlocke, welche auf einem Damenrad gehockt hat, gefolgt bin.“ Ein Sanitäter, dessen Einsatzgebiet zwischen Lübbenau und
Cottbus liegt, wird seinen Kopf schütteln und dem vermeidlichen Probanden vermutlich eine Braunische Lösung anhängen. Meine Lieblingsvampirette hingegen, meine herzallerliebste Schwester Rabiata, mein überfürsorgliches Muttertier, presste so fest ihre Kiefer aufeinander, dass man meinen konnte, sie wolle damit versuchen, Marmor zu Puderzucker zu verarbeiten. Ihre Augen funkelten in einer Art, welche mir bestens von ihren Wutanfällen bekannt war, wenn sie eine meiner mörderischen Lektüren auf dem Stillen Örtchen entdeckt hatte oder noch schlimmer, sie bemerkte, dass eine neues dazu gekommen
war.
Mit einem entschlossenen Griff und einem noch heftigerem Ruck zog sie den Druckverband am Oberschenkel ihres Opfers zurecht und siehe da, schon nach wenigen Atemzügen war der größte Blutfluss versiegt. Zwar jaulte der dumme Hund von Fahrradfahrer kurz auf, jedoch gab es bei Männer in solchen Situation zu 90 % immer Kollateralschaden. Seine Kumpels konnten nicht einmal hinsehen.
An unserem ersten Tag auf dem Gurken-Radweg an der Spree hatten Melanie und ich vorgehabt, das Schloss Lübbenau und die nähere Umgebung zu erkunden. Es war ein herrlicher Start gewesen. Die
Luft war klar, der Himmel kornblumenblau und keine Flauschewolken war am Himmel zu sehen. Nach der langen Zugfahrt vom Odenwald in den Spreewald waren meine Knochen überglücklich, endlich wieder humanen Beschäftigung nachgehen zu können und nicht Henne in einer Legebatterie spielen zu müssen.
Zu unserer beider Unglück hielt die friedliche Fahrt nur wenige Minuten an. Ich wusste es nicht, ob es an der psychedelischen Gurke auf dem Fahrrad lag, dessen Wegweiser wir folgen mussten oder an der Tatsache, dass ich es wahrscheinlich nicht in den nächsten Äonen vorziehen werde, meine Freiheit
gegen den Strick der Ehe einzutauschen, jedenfalls konnte ich mir etwas Schöneres vorstellen, als meinen Junggesellenabschied mit einer Radtour zu feiern. In welchem alkoholischem Frühstadium des Deliers musste sich eine Gruppe von fünf Männer befinden, um auf die Schnapsidee zu kommen, ein Besäufnis zu feiern und das in blass-blauen Nilot-Shirts mit pinker Aufschrift, das Ganze gekrönt von plüschigen Haarreifen mit herzigen Bommelchen. Dem Bräutigam in spee hatten die Deppen ein Tütü verpasst. Und in diesem Aufzug wagten sie sich nicht nur in die Öffentlichkeit, sondern auch noch auf ein Zweirad. Die nächsten
Fragen, die sich mir stellten, waren, woher man bitte rosa Satteltaschen bekam und was war bitte Tussibier? Waren das noch Männer oder schon solche, welche eine gewisse OP in Betracht zogen?
Wenn Sarah mir von den Feten in ihrer Bar erzählte, dann hörte sich das Ganze wesentlich cooler an. Wobei wenn ein Mann bei ihr vom Barhocker fiel und eine Platzwunde davontragen würde, sähe das Bild ähnlich scheußlich aus. Die einzigen Abmilderungen fanden sich bei Sarah in der Tatsache, dass sie keine Alkoholvergiftungen zuließ und die Dunkelheit im Schankraum das Bildnis der Jämmerlichkeit deutlich
abmilderte.
Ich stand an der Seite des Geschehens und beobachtete Melanie bei der Ersten Hilfe. Da sich auf Platz 9 meiner mörderischen Liste der Mord durch Selfies befand, besah ich mir die Truppe sehr genau. In den letzten Jahren waren die Selbstporträts mit dem Smartphone sehr populär geworden. Im November 2013 wurde es schließlich vom Oxford English Dictionary zum „Wort des Jahres 2013“ erklärt. Eine Umfrage, die von einem Smartphone- und Kamerahersteller in Auftrag gegeben worden war, besagte, dass circa 30 % der Selfie-Fotos von Personen im Alter von 18 bis 24 Jahren geschossen wurden.
2014 kam als technisches Hilfsmittel die Selfie-Stange in Mode. Schon ein Jahr später waren solche Stangen an vielen touristischen Hot-Spots aus Sicherheitsgründen verboten worden.
In der Stadt Mumbai, Indien, sollten nach einem Unfall im Januar 2016 Selfies in einigen bezeichneten Zonen verboten werden. Seit 2014 hatten sich weltweit Todesfälle durch Selfies ergeben. 2015 starben nach Recherchen der Washington Post mindestens 27 Menschen bei Unfällen im Zusammenhang mit Selfies, die Hälfe davon in Indien. Auch mal schön zu erfahren, dass es nicht immer nur Amis waren, welche sich selbsttätig aus dem
Genpool der Homo sapiens schossen, beziehungsweise knipsten.
Womit wir wieder bei dem Jungessellenabschied landeten. In der Nähe von Lübbenau gab es direkt an der Spree eine kleine Bogenbrücke mit Eisengeländer. Diese mit dem Fahrrad zu passieren war nicht schwer, es war gut möglich auch aneinander vorbeizufahren. Die kleine Brücke mit der Spree auf der einen Seite und einer kleinen Bank zum Ausruhen auf der anderen Seite bot in der Idylle der Natur die perfekten Rahmenbedienungen für ein schönes Andenkenfoto. Jedenfalls solange man sich nicht zu sechst auf das Brückengeländer quetschte, eine
Selfie-Stange benutze, mehr Promille als Hämoglobin im Blut hatte und die Gehirnzellen Ethanol technisch dehydriert waren.
Es kam wie es kommen musste, während Melanie darauf wartete, dass die Kerle wieder auf die Räder schwankten, stürzten drei der Männer vom Brückengeländer. Einer klatschte ins Wasser und sah aus wie ein begossener Pudel, frisch gefärbt in babyblau, der nächste hatte sich eine Fraktur von Radius und Speiche zugezogen, leider am Unterarm und nicht am Fahrrad, und der dritte war auf einen Ast geflogen und nun hatte er eine unfreiwillige Körperöffnung im
Oberschenkel.
Selfies konnten wirklich tödlich sein. Meinen Ex auf die Stadtmauer in Michelstadt gestellt, ein Rippenstoß, kurz zur Seite wegducken und im Burggraben hätte er seine ewige Ruhe gefunden. Ich hätte am liebsten das Himbechel-Viadukt genommen mit seinen 40 Metern Höhe, aber bei diesem für Selbstmord bekannten Bauwerk von 1880 hätte er wahrscheinlich ziemlich schnell Lunte gerochen. Es wäre auf alle Fälle ein malerischer Mord geworden. Aber ich begann herum zu spinnen und schüttelte meinen Kopf.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte mich urplötzlich eine Männerstimme.
Nüchtern und klar verständlich. Für einen Moment wusste ich nicht genau, was los war und blinzelte ein paar Mal, bis ich dem Sanitäter antworten konnte: „Reziprok gesehen zu den melodramatischen Kundtuung der von meiner Freundin versorgenden Personengruppe sowie den allgemeinen kausalen Zusammenhänge dieser Situation ist meine Befindlichkeit nicht einer genaueren Untersuchung zu unterziehen.“
„Ooookaaaay...“ Das Gesicht des Herren mittleren Alters verzog sich zu einer Miene, welche ich nicht klassifizieren konnte. Melanie kam ihm zu Hilfe: „Nee, das ist normal. Wenn sie kurze,
verständliche Sätze spricht, dann ist sie kurz vor dem Umkippen. Luisa steht so weit weg vom Geschehen, weil sie kein Blut riechen kann.“
Sie pfefferte gerade ein Paar blutige Einmalhandschuhe in einen Mülleimer am Wegesrand und nahm mich kurz in den Arm, allerdings mehr zu ihrer Beruhigung.
„Wenn Sie das sagen“, zweifelte der Sanitäter und Melanie lächelte ihr Mamalächeln, wie ich es so an ihr liebte: „Wenn Sie unsere Luisa kennen, dann kommen Sie sehr gut damit klar.“
Ein kurzes Schweigen entstand und Melanie hielt in ihrem Knuddeln inne. Der Mann wurde eindringlich von oben
bis unten gemustert. Ihre Fokussierung war so akkurat, wahrscheinlich katalogisierte Melanie gerade jede einzelne Wimper nach dem Alphabet in chronologischer Länge. Als ihre Augen größer wurden, schwante mir Böses: „Sagen Sie mal, sind Sie aufrichtig, treu und eventuell auch Single. In Scheidung lebend zählt nicht.“
Da hatten wir es mal wieder. Ich wurde doch immer wieder vom lieben Herr Gott für mein tödliches Wissen bestraft.