Mein Name ist Matthias Schwarz, geboren in Köln, zweiundzwanzigster Juni 1919. Gestorben irgendwann 1940, im Schützengraben, und von diesem Tag an etwa eintausend Mal. Käme nun, in diesem Moment, jemand in diesen Raum hinein, sähe er einen an einem uralten, steinernen Tisch sitzenden Affen, der diese Zeilen niederschreibt- doch das ist nahezu unmöglich. Hätte mich in meinem ersten Leben jemand gefragt, ob ich sehr religiös bin, ob ich an Wunder glaube, an übernatürliche Dinge- ich hätte es verneint. Doch das Schicksal hat mich
eines Besseren belehrt. Dass jemand diese Worte eines Tages lesen wird, ist nicht völlig unmöglich, jedoch sehr unwahrscheinlich. Denn die Welt scheint kurz vor ihrem Untergang zu stehen, und die Menschheit, wie ich sie kannte, existiert lange nicht mehr. Mit diesem Wissen sitze ich hier als eines der letzten vernunftbegabten Wesen und schreibe diese Zeilen für den Fall, dass sich die Dinge eines Tages zum Besseren wenden. Doch ich weiß, dass du existierst, Caren. Und da du, ebenso wie ich, ewig leben wirst, ist es nahezu unmöglich, dass du diese Zeilen nicht zu Gesicht bekommen wirst, irgendwann. Deswegen schreibe
ich für dich, in der Hoffnung, dass es eines Tages ein Wiedersehen gibt.
Ein eisiger, wie tausende scharfer Klingen stechender Wind zauste mein schweißnasses Haar und kroch unter meine schlammverkrustete Kleidung wie kalte Hände, und der faule Gestank nach Blut, Schweiß und Tod drohte einen gewaltigen Anflug von Übelkeit in mir hervorzurufen. Schmerzerfüllte Todesschreie hallten durch das Tal, das überall widerzuhallen scheindene Geräusch von Kugeln, die in geschundene Körper eindrangen und sie innerlich zerfetzten, erzeugten eine schreckliche Melodie des Horrors. Ich lag in einem von feuchtem Schlamm
angefüllten Graben, meine Kleidung trug die Farbe der Erde und das einzige, was sich von dem schmutzigen Braun abhob, waren meine funkelnd blauen, durch die Schlammkruste hindurchstarrenden Augen. Einige Meter vor mir sprang ein Mann mit verbissenem Blick hinter einem schmalen Hügel hervor und rannte in meine Richtung, doch ehe ich zu reagieren imstande war, ertönte der Knall. Die Kugel drang in seinen Kopf, ein Geräusch wie das einer zerplatzenden Frucht ertönte und ein gewaltiger, roter Fleck zeichnete sich plötzlich vor dem grauen Horizont
ab. "Scheiße!" Der verzweifelte, angsterfüllte Schrei ertönte unmittelbar neben mir, und ich riss den Kopf zu der hageren, inmitten der aufgeweichten Erde nur schwer zu erkennenden Gestalt herum. Durch die dicke, dunkelbraune Kruste aus Schlamm und Blut in dem ängstlichen Gesicht funkelten mich zwei zu riesigen Kreisen geweitete Augen an, erfüllt mit einem Meer der Trauer, und ich spürte tiefstes Mitleid in mir aufsteigen. Der Junge neben mir war gerade sechzehn, seine Mutter war erst kürzlich verstorben und er kämpfte bereits seit einiger Zeit an meiner Seite. Anfangs
war er beinahe enthusiastisch gewesen, redete die ganze Zeit davon, für sein Land kämpfen zu wollen, für die Ehre seiner Familie. Bis er den ersten Mann erschossen hat. Von jenem Tag an schien er mit jedem Mal, wenn vor seinen Augen jemand starb, in diesen verzweifelten, traumatisierten Zustand hineinzugeraten, das unsichtbare Gefängnis um ihn herum schien immer enger zu werden. Wie gebannt starrte er auf die unzähligen leblosen Körper, die die gewaltige Lichtung bedeckten, und aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich abermals einige dunkle Gestalten mit erhobenen Köpfen und kampfbereiten, jedoch auch
bedauernden Ausdrücken in den blutverschmierten Gesichtern näherten. "Hey, nimm' den Kopf runter!", zischte ich an den Jungen gewandt, doch dieser blieb regungslos, meine Worte nicht gehört zu haben scheinend. "Schnell, bück dich!", wisperte ich abermals, "du verrätst uns noch!". Der Junge rührte sich nicht. Die Männer sahen uns. Mit einem wütenden, verzweifelten Knurren sprang ich aus dem Graben heraus, meine Kleidung von Schlamm verklebt, und rannte mit erhobenem Gewehr auf die Angreifer zu. Ich konnte in diesem Augenblick nicht sagen, wie viele Soldaten um mich herum kämpften und wie viele von ihnen zu den
Feinden gehörtenm dich ich schoss auf alles, was sich mit verbissenem Gesicht und jeden Augenblick abzufeuern drohender Waffe auf mich zubewegte- ich spürte jedes Mal einen schmerzhaften Stich, wenn meine Waffe jemanden zu Boden gehen lies, doch ich wusste, entweder sie würden sterben, oder ich. Schmerzerfüllte Schreie hallten über die Lichtung, doch ich nahm sie nur am Rande wahr, während ich durch die unzähligen Menschen rannte und unzählige durchlöcherte, die dann reglos zu Boden sackten. "Matthias! Vorsicht!", hörte ich plötzlich eine schrille Stimme unf fuhr blitzartig zu dem Jungen herum, der mir einen
warnenden, angsterfüllten Blick schenkte. Dann sahich den Mann. Ziellos schoss er um sich, ohne darauf zu achten, ob er einen Feind oder einen Kameraden traf, von Entsetzen, Angst und dem verzweifelten Willen, zu überleben, geleitet. Ich wollte ausweichen, mich schnellstmöglich von ihm entfernen, doch nur wenige Meter hinter mir stürzte im selben Augenblick ein weiterer Soldat zu Boden und versperrte meinen Weg. Mit geweiteten Augen sprang ich zur Seite und wollte gerade erneut zu dem Jungen eilen, doch dann ertönte neben mir ein lauter Knall. Der lauteste Knall,
den ich je gehört hatte. Ich sah das klaffende Loch in meinem Bauch, das zu Boden tropfende Blut und die herabbaumelnden Fleischfetzen, noch ehe mich der stechende, alles um mich herum in eine tiefe Schwärze zu verwandeln scheinende Schmerz durchfuhr. Mit einem Mal verschwamm das Bild um mich herum, die Stimmen wurden undeutlich und waren schließlich völlig verschwunden. Beinahe verstört taumelte ich rückwärts, presste beide meiner blutüberströmten Hände auf die Wunde und spürte, wie sich meine gesamte Kleidung rot verfärbte, ehe meine Beine schließlich unter meinem Gewicht
nachgaben. Ich sackte zu Boden, rollte in einen Graben hinein, mein Körper kam unsanft mit einem geräuschvollen Klatschen auf dem schlammigen Boden auf und mein Blick richtete sich in den Himmel, wo ich plötzlich glaubte, vereinzelte, zwitschernde Spatzen freudig umherflatttern zu sehen, als unscharfe Silhouetten vor dem grauen Himmel.
Als ich meine Augen blinzelnd öffnete, nahm ich nichts als Dunkelheit wahr, und die Schreie der Sterbenden hallten noch immer in meinem Kopf nach. Ich wollte aufstehen, mich nicht länger in dem Schlamm und meiner eigenen Blutlache wälzen, doch mein gesamter Körper war zu sehr geschwächt. Mich instinktiv darauf vorbereitend, abermals beschossen, dieses Mal völlig durchlöchert zu werden, stellte ich erstaunt fest, dass jedes Anzeichen von dem Schmerz, der soeben noch in der klaffenden Wunde in meinem Bauch gepocht hatte, verschwunden
war. Bin ich tot?, dachte ich, unwissend, dass dies in gewisser Weise der Wahrheit entsprach. Ich war tot- irgendwann 1940 hatte ein Mann namens Matthias Schwarz im Kampf sein Leben gelassen, war erschossen worden. Doch ich lebte. Irgendwie. Als ich mit den Fingern vorsichtig über die Stelle fahren wollte, wo die Kugel in meinen Körper gedrungen war, zuckte ich zusammen und spürte Entsetzen in mir aufsteigen- sie fehlten. Ich stieß ein erschrecktes Zischen aus, hielt die Augen fest geschlossen und versuchte abermals, meine Finger zu bewegen, doch sie waren nicht da. Ich hatte verloren, so vermutete
ich, und vermochte in dem jetzigen Zustand, auf extremste Weise verstümmelt, keinen Schmerz mehr zu spüren- als ich mich jedoch mühsam auf den Bauch wälzte und meinen Blick auf das richtete, was einst meine Hand gewesen war, packte mich die Panik. Ich wollte aufschreien, als ich die winzige, pelzige Pfote sah, doch meiner Kehle entrang sich bloß ein schrilles, heiseres Krächzen- ein Bellen. Das Bellen eines jungen Fuchses. Blitzartig sprang ich auf, wollte mich aufrichten, mich auf die Hinterläufe erheben, doch ich verlor sofort das Gleichgewicht und kippte nach vorne. Meine Arme- nein, meine Vorderbeine-
von mir gestreckt landete ich unsanft auf dem Bauch und die Luft wurde mit einem grotesken Stöhnen aus meinem Körper gepresst. Panik überkam mich abermals, und als ich auf meinem flauschigen Hinterteil kauernd herumfuhr, blickte ich in unzählige dunkle, mich neugierig anfunkelnde Augenpaare. Fünf tiefblaue junger Welpen sowie das bernsteinfarbene, mich beinahe besorgt anblickende der Mutter- meiner Mutter. Ich stieß ein Bellen aus, sprang von Entsetzen erfüllt auf und rannte durch den dunklen Gang, so schnell meine winzigen Füße mich zu tragen vermochten, blickte panisch von einer Seite zur anderen. Dunkelheit, überall
Dunkelheit, enge Wände, nur ein winziger Lichtschimmer, der irgendwo am Ende des Ganges hineindrang. Meine Füße donnerten über die Erde, die Wände schienen mich immer mehr einzuschließen, flankierten mich zu beiden Seiten- dann sah ich das Licht. Dort war das Ende des Baus, der Ausgang, mein Fluchtweg, und ich sah die Silhouetten der sich vor dem Sonnenlicht abzeichnenden Bäume immer deutlicher. Ich beschleunigte mein Tempo, rannte auf das Licht zu, setzte freudig zum Sprung an und... Mächtige Kiefer schlossen sich um meinen Nacken, hielten mich fest und zerrten mich aus dem Licht, zurück in die Dunkelheit.
Panik drohte mich abermals zu überkommen; ich begann, mit allen meinen Gliedern zu zappeln, doch der Druck um meinen Nacken verstärkte sich bloß. Er war nicht schmerzhaft, aber fest, so fest, dass es keine Möglichkeit sich zu entreißen gab. Von Angst, Unsicherheit und Trauer erfüllt zwang ich mich zur Ruhe und schloss meine Augen, während die Fähe mich tiefer in den Bau hineintrug, ehe sie schließlich unter den verwirrten Blicken der übrigen Welpen zum Stehen kam. Sanft legte sie mich auf der Erde ab und fuhr mir mit der Zunge über das Gesicht, was ich verstört über mich
ergehen ließ. Ich war gestorben und wiedergeboren worden, in dem Körper eines jungen Fuchses. War das möglich? Natürlich, sprach ich in Gedanken zu mir selbst, sonst wärst du jetzt nicht hier, oder? Ich schloss die Augen und spürte, wie die kleinen Füchse mich umringten und sich mit ihren flauschigen Pelzen an mich pressten, als wollten sie mich schützen oder sogar trösten. Es war ein seltsames Gefühl. Vor etwa drei Minuten, so schien es, hatte ich noch sterbend im Schlamm gelegen, eingehüllt in eine Wolke aus Todesschreien, und nun lag ich in der Gestalt eines
Fuchswelpen in einem dunklen Bau, umzingelt von fünf weiteren jungen Füchsen. Ich wusste, es war kein Traum, ich konnte es spüren, doch ich konnte es nicht glauben. Wie viel Zeit war wohl seit meinem Tod vergangen? Tatsächlich nur drei Minuten? Drei Jahre? Oder drei Jahrhunderte? Ich wusste es nicht, und es gab nichts, was mich darauf hätte hinweisen können. Während ich Stunde um Stunde in dem dunklen Bau lag, ständig von meinen neuen Geschwistern zum Spielen aufgefordert, ertappte ich mich unzählige Male dabei, wie ich mich am liebsten bei der Fähe erkundigt hätte: Ist der Krieg vorüber? Welches Jahr schreiben wir?
Was ist aus Hitler geworden? Idiot, zischte ich im Stillen, du bist ein Fuchs. Ist das jetzt wirklich deine größte Sorge? Nein. Meine größte Sorge, stellte ich fest, war meine Familie. Mein Vater war verstorben, meine Mutter nicht sonderlich reich, mein Bruder ebenfalls im Krieg. Sie würde niemals über meinen Tod hinwegkommen. Genau wie Susannah. Ich war gerade siebzehn, als ich sie kennengelernt hatte, und ich sehe die Bilder in meinem Kopf, als stünde sie unmittelbar vor mir. Mit elegantem, durch die ausladende Kleidung jedoch etwas verwahrlost wirkenden Gang war sie die Straße entlanggeschritten, der
wundervolle Glanz ihrer braunen Augen strahlte unter den feuerroten Locken hervor, die ihr sanft ins Gesicht fielen. Diese fein geschnittene Gesicht, dieses freundliche Lächeln war mir nie aus dem Kopf gegangen. Und nun war sie fort- nun ja, ich war fort. Neben der tiefen Trauer spürte ich einen leisen Funken von Belustigung in mir aufsteigen, und ich hätte vermutlich ein kaum wahrnehmbares Grinsen zustande gebracht, wäre ich ein Mensch gewesen- ein kleiner, verunsicherter Fuchswelpe, der an die leuchtenden Augen und die vollen Lippen eines siebzehnjährigen Mädchens
dachte. Vielleicht würde ich sie wiedersehen, irgendwann... Während ich mich an jenen Gedanken klammerte, mir diese Worte wieder und wieder in mein Gedächtnis rief, fielen meine Augenlieder irgendwann zu und ich sank in einen leichten Schlaf. Blitzartig fuhr ich aus dem Schlaf auf, mein Kopf schnellte nach oben, doch ich wagte zunächst nicht, meine Augen zu öffnen. Es war ein Traum, dachte ich, dachte es so fest, dass ich meine Zähne zusammenbiss, nur ein Traum! Ein leises Knurren. Ich seufzte. Vielleicht doch kein Traum. Unmittelbar
neben mir ertönte ein kaum wahrnehmbares Winseln, das meine an einer ungewohnten Stelle auf dem Kopf sitzenden Ohren unwillkürlich zucken ließ, und als ich langsam die Augen öffnete, sah ich zunächst abermals nichts als tiefe Dunkelheit, ehe die Silhouetten der Füchse an Schärfe zunahmen. Find' dich damit ab. Kein Mensch träumt so lange. Und ein Fuchs auch nicht. Vorsichtig stand ich auf, konnte ein von Müdigkeit sowie Erschöpfung erfülltes Gähnen nicht unterdrücken und streckte meine Glieder, ehe ich meinen Blick durch den Bau gleiten ließ- Beinahe undurchdringliche Dunkelheit erfüllte ihn, doch ich konnte die Umrisse der
hereinleuchtenden Sonne angestrahlten, sich langsam heben- und senkenden Körper der übrigen Füchse deutlich ausmachen. Unzählige neue, jedoch in grotesker Weise vertraut wirkende Gerüche, die ich am Vortag in meiner tiefen Panik verdrängt zu haben schien, drangen an meine Nase, und ich sog einmal tief die feuchte Luft ein. Es roch nach feuchter Erde, frischem Morgentau und satten Blättern, und mit diesen wohltuenden Gerüchen der Natur mischten sich die unverkennbaren der Füchse- ich war zwar noch immer ich selbst, mit meinen Gedanken, doch mein Körper war der eines Fuchses, und diesem Fuchs waren alle hier
wahrnehmbaren Gerüche vertraut. Und obgleich ich den Geruch wahrnahm, obgleich ich wusste, dass ich ihn in Gestalt eines Menschen vermutlich als abartig empfunden hätte, fand ich ihn nun beinahe beruhigend, vertraut. Wie viel Fuchsdung lag hier wohl verstreut, wie viele tote Kleintiere waren hier womöglich verwest? Kaum war mir jener Gedanke gekommen- ein seltsamer Zufall- hörte ich ein lautes Geräusch aus meinem Inneren dringen und spürte plötzlich, dass ich mich hungrig und völlig leer fühlte, ein schmerzendes Stechen, dass ich zuvor ebenfalls unterdrückt zu haben schien. Wie lange hatte dieser Fuchs nichts
gefressen? Unwillkürlich stieß ich ein langes, leidvolles Knurren aus und blickte zu Boden, wo meine tapsigen Pfoten in der feuchten Erde scharrten, dann tapste ich mit hängendem Kopf durch den dunklen Bau. Ich brauche etwas Essbares! Ich war ein Fuchs, ein Fleischfresser. War ich hungrig, musste ich jagen. Der Gedanke daran, ein lebendiges Tier, eine Maus etwa, mit meinen eigenen Zähnen zu erlegen, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken, und ich schluckte angewiedert. Fuchsmama, ich hätte gerne etwas zu essen!, dachte ich, hätte ich am liebsten gerufen, und musste wiederum grinsen-
soweit sich das hübsche, jedoch nicht annähernd menschliche Gesicht eines Fuchses zu einem Grinsen verziehen ließ. Mit tapsigen, unbeholfenen Schritten - wie ich mit derartiger Unbeholfenheit ein Tier zu jagen fähig sein sollte, war mir ein Rätsel- bewegte ich mich auf den durch den Eingang hineindringenden Lichtschimmer zu und blinzelte leicht, bis ich plötzlich leise Schritte hinter mir vernahm. Die Fähe war aufgestanden, presste sich an mir vorüber und versperrte meinen Weg mit ihrem schlanken Körper, ehe sie mich energisch in den Bau zurückdrängte. Ist ja schon gut! Ich kam mir vor wie ein kleiner Junge,
der von einer strengen, konsequenten, jedoch fürsorglichen Mutter davon abgehalten wird, etwas Dummes oder Gefährliches anzustellen. Unsicher taumelte ich rückwärts und ließ mich dann seufzend auf mein Hinterteil sinken, während mein leerer, hungriger Magen abermals ein lautes Knurren von sich gab. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, stieß die Fähe ein kaum wahrnehmbares, an ein mitfühlendes Seufzen erinnernden Geräusch aus und legte sich langsam auf dem Boden ab, woraufhin die Jungen sich mit neugierigen Blicken zu regen begannen. Skeptisch sowie unsicher, was ich tun sollte, legte ich den Kopf schief, als die
jungen Füchse plötzlich von Energie erfüllt aufsprangen und auf die Mutter zueilten, jeder den anderen zurückzudrängen versuchend. Sie drängten sich um sie, steckten die Köpfe eng zusammen, bis sich irgendwann unter dem Gewusel am Bauch der Füchsin ein lautes Schmatzen erhob, und ich verstand. Wie meine neuen Geschwister war ich wohl noch nicht fähig zu jagen und musste mich von der Muttermilch der Füchsin ernähren- jetzt konnte ich mir wenigstens ansatzweise ein Bild davon machen, wie alt ich war. Der Gedanke, die warme Milch einer Füchsin zu trinken, ließ ein seltsames,
beinahe angewidertes Gefühl in mir aufsteigen, doch ich wusste, ich hatte keine Wahl. Lange Zeit hielt ich inne und blickte unsicher von einer Seite zur anderen, mich plötzlich hilflos und verwirrt fühlen. Dann drang erneut ein lautes Knurren aus meinem Inneren, gefolgt von einem schmerzenden Stich, und schließlich gab ich meinen Bedürfnissen nach. Hechelnd zwängte ich mich zwischen meine Geschwister und begann meinerseits, an einer Zitze zu saugen; die warme, wohlriechende Milch trug den vertrauten Geschmack von unberührter Natur und Wildnis, und sie vermochte das stechende Gefühl von Leere in meinem Magen ein wenig zu
verringern. Ich saugte heftiger und heftiger, nahm hin und wieder mehr in den Mund, als ich zu schlucken vermochte, doch nach nur wenig Zeit war bereits ein großer Teil meines Hungers gestillt. Jedes Mal, wenn ich einen Schluck der köstlichen Milch meinen Hals hinabrinnen spürte, bemerkte ich, wie sich ein wohliges Gefühl in mir breitmachte, und von diesem Augenblick an begann ich mit dem Gedanken zu spielen, mein neues Leben irgendwann akzeptieren zu können. Gierig schluckte ich noch ein maulvoll Milch hinunter, dann ließ ich schließlich mit einem wohligen Seufzen von der Zitze ab und tapste mit unbeholfenen
Schritten sowie gefülltem Magen zur Seite, als ich beinahe beschämt bemerkte, dass sich meine Geschwister längst in eine andere Ecke des Baus begeben hatten- erst jetzt fielen mir einige weitere Gänge auf, die von jenem geräumigeren Hohlraum abzweigten und noch tiefer in die Erde hineinzuführen schienen. Wie viele Füchse leben hier wohl?, fragte ich mich und blickte mich kurz um, als wollte ich in dem Bau jegliche meine Frage beantwortende Spuren finden, konnte jedoch nichts dergleichen entdecken- nur meine sich übereinanderwerfenden Geschwister und die Mutter, die gerade auf den Ausgang
zuschlenderte. Drei weitere Gänge zweigten in unterschiedliche Richtungen ab, und ich tapste beinahe unwillkürlich auf den mittleren zu, obwohl die dort noch undurchdringlicher wirkende Dunkelheit ein unangenehmes Gefühl in mir aufsteigen ließ. Die warme Milch in meinem Magen gluckerte bei jedem Schritt, und ich fühlte mich plötzlich so schwerfällig, dass ich glaubte, meine pelzigen Pfoten könnten meinem Gewicht nicht standhalten. Einen Augenblick hielt ich inne und kniff die Augen zusammen, um in der aus den Gängen dringenden Dunkelheit etwas erkennen zu können, doch ich nahm nichts als Schwärze wahr.
Das Gefühl von Völle in meinem Bauch machte mich träge und das Verlangen, mich in der dunkelsten Ecke des Baus zu einer winzigen Kugel zusammenzurollen und den Rest des Tages mit Schlafen zu verbringen wuchs stetig, doch ebenso die Neugier. Ich wollte wissen, was sich in den Tunneln befand, wohin sie führen mochten. Verdammt! Ein heftiges Ziehen in meinem buschigen Schwanz. Ich fuhr herum, bleckte unwillkürlich die Zähne und blickte dann in die mich spielerisch anfunkelnden Augen eines der Fuchswelpen, der mit angriffslustiger Haltung und einem beinahe höhnischen Grinsen, so schien es, um mich
herumsprang. Lass mich in Ruhe, dachte ich belustigt, du musst doch genauso vollgefressen sein wie ich! Verwirrt blickte ich von einer Seite zur anderen, unsicher, was ich tun sollte, bis der Fuchs plötzlich zum Sprung ansetzte und sich mit seinem gesamten Gewicht auf mich warf. Ich bellte verstört, meine Füße rutschten unter meinem Körper weg und ich kam unsanft auf der feuchten Erde auf, der Fuchswelpe landete mit einem verspielten Knurren auf meinem gesamten Oberkörper. Runter von mir!, rief ich innerlich, als die Luft aus mir hinausgepresst wurde und sich mein Mund mit dem flaumigen Pelz meines Angreifers füllte. Ich wollte aufstehen,
doch das auf mir lastende Gewicht hinderte mich an jeder Bewegung, meine Gliedmaßen wurden zu Boden gepresst und vor meinen Augen befand sich nur ein dichter, roter Pelz. Sofort reckte ich den Kopf dorthin, wo ich das Hinterteil des Welpen vermutete, öffnete den Mund zu einem triumphierenden Knurren und biss zu. Ein lautes Quietschen drang aus seiner Kehle, er fuhr erschreckt herum und sprang mit geweiteten Augen von mir herab, sodass ich erleichtert ausatmete und mich langsam erhob. Ich sog tief die Luft ein und spürte plötzlich ein unangenehmes Gefühl auf meiner Zunge, als hätte sich dort ebenfalls ein flauschiger Pelz gebildet. Verstört
schüttelte ich heftig den Kopf, dann sah ich die an meinen Mundwinkeln wie ein Beutetier herabbaumelnden Fellfetzen und spuckte mit einem angewiderten Knurren aus, eine klebrige Masse aus Fell und Speichel troff auf den Boden. Habe ich gerade wirklich einem Fuchs in den Hintern gebissen? Beschämt hob ich den Kopf und blickte auf, wo ich den mich beinahe vorwurfsvoll anstarrenden, blauen Augen des Fuchses begegnete. Mein Biss schien ihm keine Schmerzen zu bereiten, er erinnerte vielmehr an einen kleinen Jungen, der sich darüber empört, dass sich sein Spielkamerad beim Versteckspielen herumdreht, ehe er bis
einhundert gezählt hat. Sieh mich nicht so an. Du hast mich beinahe zerquetscht, und das Fell an deinem Hintern wächst schon noch nach. Einen kurzen Augenblick zögerte der Welpe, dann sprang er erneut mit ausgestreckten Vorderbeinen auf mich zu, doch ich wich blitzschnell zur Seite aus und warf mich dann seinerseits auf ihn. Er knurrte spielerisch, während wir durch den gesamten Bau rollten, und es wurde unzählige Male in Schwänze, Pfoten und Ohren gekniffen. Lautes Quietschen ertönte, und plötzlich donnerte das Gewicht unzähliger anderer Füchse auf mich herab- zwanzig Pfoten wirbelten durch die Luft, pressten alles
sich Bewegende zu Boden und fuhren sich gegenseitig durch die Gesichter. Einige Male lag ich nach Luft ringend unter dem gewaltigen Haufen, wand mich unter dem Gewicht der Tiere und kämpfte mich durch die Menge, bis die jungen Füchse irgendwann nach und nach zur Ruhe kamen. Das Blut schoss durch meinen gesamten Körper, Adrenalin kribbelte in meinen Pfoten und an den Stellen, wo vereinzelte Füchse in der Hitze des Kampfes etwas fester zugetreten hatten, machte sich ein unangenehmes Pochen breit, doch ich spürte die unbändige Freude, die mit einem Mal in mir aufgestiegen war. Keuchend kam ich zum
Stehen, meine winzigen Pfoten bearbeiteten die weiche Erde und aus meiner spitzen Schnauze troff Speichel, während meine Geschwister sich hechelnd auf den Boden sinken ließen. Gebt ihr etwa schon auf?, dachte ich, und als ich sie nacheinander anblickte, bemerkte ich, dass ihnen sowohl die Erschöpfung als auch die Überraschung ins Gesicht geschrieben stand- vor allem der Welpe, der den Kampf begonnen hatte und den ich anhand seiner nur unter dem Kinn von weißem Fell gesäumten Schnauze zu erkennen vermochte, blickte mich mit beinahe verwirrtem Gesichtsausdruck an und leckte sich dann verstört über die Brust, als ich abermals
eine kampfbereite Haltung einnahm. Dieser spielerische Kampf war so kindlich, so unbeschwert gewesen, wie ich es seit langer Zeit nicht mehr verspürt hatte- jeden Tag, wenn ich als Soldat zum Kampf aufgebrochen war und nicht wusste, ob ich den nächsten Sonnenaufgang noch betrachten dürfte, war ich von einer mich zu fesseln scheinenden Angst und tiefer Trauer erfüllt gewesen, die mit einem Mal verschwunden war. Vielleicht hat das Leben eines Fuchses ja mehr positive Seiten als das eines Menschen, dachte ich, unwissend, wie lange ich mich wohl noch in dem Körper eines Fuchses befinden würde. Und
danach, dachte ich dann, was geschieht dann?