Was bisher geschah:
Ein Mann durchwandert die deutschen Lande. In einer Schenke östlich des Rheins findet er einen Reisegefährten. Zusammen ziehen sie los. Doch ob gutem Essen und Wein trödeln sie. Als sie sich der Grafschaft Werrentheim nähern, dunkelt es In einem Wal, nahe der Stadt, werden sie von Räubern überfallen und der Reisegefährte des Mannes verletzt. Das Ende scheint nahe zu sein. Ein aus dem Dunkeln auftauchender Reiter verhindert Schlimmeres. Die beiden retten sich in eine Schenke und erfahren dort Vergangenes und Dunkles.
Ich trat auf die Straße. Eine warme Sommernacht empfing mich. Ich will zugeben, dass ich zuerst nach dem Wald schielte, doch dafür schalt ich mich sogleich einen Narren. Werrentheim war damals bereits eine Stadt, jedoch keine besonders große. Schnell lief ich durch die Straßen und es dauerte nicht lang, da
öffnete sich der Markplatz vor mir. Die Pfarrkirche Sankt Augustinus war eher ein zweckmäßiger, denn ein schöner Bau. Keinem Menschen war ich begegnet und auch ein Nachtwächter war nicht in Sicht. Mit wenigen Schritten war ich bei einer Türe der Kirche. Ich hatte Glück, sie war nicht verschlossen. Vorsichtig schlüpfte ich hinein. Irgendwelche Kerzen brennen an solchen Orten immer, soviel wusste ich noch, denn um ehrlich zu sein, hatte ich schon seit sehr langer Zeit keine Kirche betreten. Bei all dem Elend in der Welt scheint es mir Zeitverschwendung zu sein, der herablassende Selbstgerechtigkeit so mancher Gottesdiener zu lauschen. Das ich den Rechtschaffenden unter ihnen Unrecht tue, ist mir bewusst, aber egal. Ich durchquerte das Kirchenschiff und nahm eine große Kerze von ihrem Ständer. Dann begann ich meine Suche. Das Licht der Fackeln der Räuber war um einiges heller gewesen und so brauchte ich eine
ganze Zeit. Vorsichtig tastete ich mich durch den Innenraum, aber nicht selten stieß ich gegen Bänke oder Dinge, von denen ich nicht die geringste Ahnung hatte, welche Aufgabe sie erfüllten. Nach einer Viertelstunde, so glaube ich, wurde ich fündig. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass diese Nische auch am helllichten Tage im Schatten lag und darum wohl kaum Beachtung fand. Auf dem nackten Steinboden stand eine einfache Säule in die eine kleine Platte aus Kupfer eingelassen war, auf der zu lesen stand:
"Hier ruht Hrimbold von Werrentheim,
Er war nicht einer der Frommen.
Und wäre es nur das gewesen,
Betet und lasst Messen lesen.
Doch wie soll er in den Himmel kommen?"
Das passte zu dem, was man mir in der Schänke erzählt hatte, aber stimmte es auch mit dem
überein, was ich erlebt hatte? Keiner von uns weiß mit Bestimmtheit, was später auf seinem Grab zu lesen steht. Die Tafel hing ungefähr auf Höhe meines Bauches. Nun erhob ich mich und das spärliche Licht der Kerze beschien die Büste. Mit stockendem Atem blickte ich in das Antlitz des Verstorbenen. Das Gesicht war fein geschnitten. Er hatte kleine Augen und schmale Lippen. Bei allen anderen Menschen hätte ich von einer Hackennase gesprochen, doch diese erinnerte eher an den Schnabel eines Adlers. Kantige Wangenknochen vervollständigten den Eindruck eines entschlossenen Mannes. Am Ende einer hohen Stirn waren die Haare nach hinten gekämmt und im Nacken von einem Knoten gezähmt. So stellte der Bildhauer ihn dar. Das war der Mann, der mich und meinen Reisegefährten vor dem Wüten der Wegelagerern bewahrt hatte! Ich wich zurück, stieß im Rücken gegen kalten Stein und vor lauter Schreck ließ ich die Kerze fallen. Da hielt mich
nichts mehr und ich eilte so schnell ich konnte aus der Kirche. Dabei fiel ich zwei Mal und stieß mich noch öfter an allerlei Ding. Doch der Schmerz macht mir nicht aus. Ich wollte nur raus aus dieser Kirche. Mit aller Kraft drückte ich die Tür hinter mir zu. Schwer atmend schlich ich über den Markplatz.
"Kann ich euch helfen?"
Ich hatte den andern gar nicht bemerkt. Bestimmt hatte er sich nicht an mich angeschlichen, doch das Blut rauschte mir in den Ohren und so hörte ich nichts als meinen eigenen Herzschlag. Er trug den Mantel eines Mannes, der die Nacht draußen verbringt und auch in einer warmen Sommernacht auskühlen würde, hätte er ihn nicht. Außerdem führte er eine Laterne mit sich. Er hielt sie zwischen uns, auf Höhe unserer Köpfe. Nicht den geringsten Argwohn konnte ich im Gesicht des Nachtwächters lesen.
"Nein. Habt Dank für eure Sorge", keuchte ich.
"Ich bin fremd in eurer Stadt. In einer Herberge bin ich für die Nacht. Wollte noch einen kleinen Spaziergang machen und da dacht ich, ich hätte mich verlaufen. Doch wenn ich mir diese Straße genau besehe, kenne ich den Weg wieder."
Der Nachtwächter nickte. "Gut. Aber seht zu, dass ihr eilig wieder zu eurer Herberge kommt, denn wir haben die Nacht vom 22. auf den 23. Juli." Erst jetzt sah ich das Schwert an seiner Seite. "Dies ist nicht die Zeit, um Spaziergänge zu machen."
Auch er dachte nicht anders. Ich verabschiedete mich von dem Mann und ging den Weg, den ich gekommen war, zurück. Langsam schritt ich einher, denn ich wollte nachdenken. Dabei kamen mir die Worte des Reiters in den Sinn. Was war, wenn es die Geschichte, die das schwarze Männlein erzählt hatte und die in Werrentheim scheinbar jeder kannte, nicht der Wahrheit entsprach? Was war, wenn man umgekehrt denken musste. Immerhin
waren ich und mein Reisegefährte noch am Leben. Ich beschleunigte meinen Schritt und hatte die Herberge bald erreicht. Ich ging jedoch nicht auf mein Zimmer, sondern betrat die Schankstube. Diese hatte sich inzwischen zwar ein wenig geleert, doch es waren noch genug Menschen da. Das schwarze Männlein war fort. Seine Zeit schien gekommen. Ich versammelte alle Anwesenden um mich - das ist einfach, wenn man jedem einen Humpen Bier spendiert, was ich tat, auch wenn es mich meinen letzten Heller kostete - und erzählte ihnen noch einmal die Geschichte unserer wundersamen Rettung vor den Wegelagerern, unserer Rettung durch den Grafen Hrimbold von Werrentheim.
- ENDE -
Anmerkungen:
Diese Erzählung sollte der Prolog eines Romans werden. Dazu hätte ich allerdings einige Änderungen vornehmen müssen. Den Roman gibt es nicht, den Prolog schon. Dies ist seine ursprüngliche Form.
Die Idee für diese Erzählung war: Üble Nachrede und was sie bewirkt.
Inspiriert und angeregt wurde diese Geschichte durch die Erzählung "Draculas Gast" von Bram Stoker.
Arn von Reinhard