„Ich muss mit Priester Bakhor sprechen“, sagte der alte Mann fest und sah der Wache in die Augen. „Möglichst schnell, bitte.“ Der Tempelwächter sah seinen Kollegen zweifelnd an, doch der zuckte mit den Schultern. Der Alte war zwar ziemlich sicher kein Memphiser, aber gefährlich sah er auch nicht aus. Und Priester Bakhor konnte gut mit seinem Akhet umgehen. Also bedeutete der Wächter dem Boten, ihm zu folgen. Marcus Gracius Servit sah sich in dem fremden Tempel um. Er hatte sich noch über die memphitische Religion informieren wollen, war aber bei der überstürzten Abreise nicht
mehr dazu gekommen. So war er auch nicht darauf vorbereitet, was ihn im Haus des Ahnen Ubis erwartete. Die Wände waren aus behauenem und bemaltem Basalt, doch die Reliefs waren trotz der Farben nicht sonderlich fröhlich. Es handelte sich um Darstellungen eines Gerichts, Unterweltszenen und Todesriten. Er sah sich gerade das völlig unbearbeitete Deckengewölbe an, als er den Arm des Wächters wie einen Riegel vor der Brust spürte. „Vorsicht, Mann! Ihr wollt doch nicht freiwillig ein Gottesurteil erproben, oder?“ fragte der Wachmann und deutete auf den Boden. Gracius sah nach unten und machte einen Satz rückwärts, wobei er sich unsanft auf
seinen Hosenboden setzte. In einer fast zehn Fuß tiefen Grube zu den Füßen einer gigantischen Statue wälzten sich Kobras über Kobras. Der Wachmann half ihm auf und geleitete ihn um das Becken herum. „Herr, meine Herrin sendet Euch diesen Brief.“ Gracius übergab dem stattlichen Mann die Rolle, die ihm seine Herrin übergeben hatte. Der Priester nahm sie, brach das Siegel aber nicht gleich auf. Stattdessen sah er den alten Diener scharf an. „Ihr weint. Warum?“ fragte er mit einer dunklen, völlig neutralen Stimme. Gracius sah ihn unter dem Tränenschleier an und nickte zu dem Brief hin. „Lest, Herr. Darin hat sie alles geschrieben.“
Bakhor rollte das Pergament auf. Es war sehr feines Pergament, feiner noch als Papier. Sehr kostbar. Das Siegelwachs war völlig glatt und enthielt keine Einschlüsse – auch das ein Zeichen, dass es gutes Wachs war. Noch bevor er las, hielt er die Rolle an sein Gesicht und atmete den Duft ein. Ja. Er wusste, wer die Frau war, auch wenn es schon über zehn Jahre her war, dass er ihren Duft erkannt hatte. Er senkte seinen Blick auf das Pergament. „Priester Bakhor – Bakhor, ich sende Dir meinen treuen Diener Gracius mit dieser Botschaft, denn ich kann sie Dir nicht mehr persönlich überbringen.
Wenn Du dies liest, bin ich vermutlich bereits tot. Warum, tut nur wenig zur Sache, doch wenn du es wissen willst, frag Gracius und Silla, meine Zofe. Ich tat es, um Tullius ein gutes Leben zu verschaffen, und nun wurde doch alles zerstört. Bakhor, als ich damals aus Deinem Arm nach Eleusis zurückkehrte, war ich nicht allein. Tullius hat mich begleitet, und ich trug ihn gern unter meinem Herzen, weil er mich an Dich erinnert. Ja, Bakhor, wir haben einen Sohn. Ich habe Dir nicht schon früher Nachricht gegeben, weil ich nicht wusste, ob ihr Priester Kinder haben dürft, und ich wollte Dich nicht in Schwierigkeiten bringen. Doch nun bleibt mir keine Wahl mehr; lieber hoffe ich, dass er bei Dir in Frieden leben kann, als
dass ich weiß, dass er hier mit mir stirbt.
Du wirst Deine Freude an ihm haben, Bakhor – er ist ein aufgeweckter Bursche mit großem Gespür und unersättlichem Wissensdurst. Ich hoffe, ich bereite Dir keine Ungelegenheiten, aber in Eleusis ist ihm der Tod gewiss.
Ich habe Dich nie vergessen und verbleibe
Deine Elaria Der Priester senkte das Pergament. Gracius sah zu ihm auf. Bakhor war ein beeindruckender Mann – großgewachsen, breitschultrig, die schwarzen Augen tief in den Höhlen, der Schädel kahlrasiert und glänzend im Schein der Fackeln. Das schwarze Gewand wallte um seinen Körper, und seine Bewegungen waren gleitend und
anmutig. Doch auf seinen Zügen zeigte sich nicht die geringste Regung. Keine Bestürzung, keine Trauer, keine Neugier, nicht einmal Zorn. „Bring ihn her. Und die Frau auch“, waren seine einzigen Worte. Der schmächtige, blasse Junge sah mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier zu Bakhor auf. Er sah nicht wie ein Memphiser aus – die Haut war blasser, die Gesichtszüge von schmaler Nase und schmalen Lippen geprägt, die Augen lagen weiter vorn. Doch die Form, die Form der Augen war ganz sicher seine. Bakhor erkannte seinen Sohn. „Was ist passiert?“ fragte er den Diener. Der schluckte und begann seine Erzählung.
„Als meine Herrin damals zu uns zurückkehrte, sah man bereits, dass sie schwanger war. Ihre Familie drängte sie, einen Ehemann zu nehmen, doch sie weigerte sich. Als man sie dazu zwingen wollte, lief sie fort und ging an den Kaiserhof. Dort geht es etwas... anders zu als im restlichen Land. Sagen wir, dort sind Mütter ohne Väter nicht so selten. Sie gebar Tullius, als sie noch das kleinste Licht im adeligen Kreis war, und ein paar Jahre war es ein wenig schwierig, weil sie sich noch einen Namen machen musste. Schaut, am Kaiserhof ist man nur so angesehen, wie man angesehen ist beim Kaiser.
Sie war fünf Jahre dort, als der Kaiser sie das
erste Mal zu seiner Tischdame machte. Das sind die Frauen, die ihm das Essen darreichen – eine wichtige Position. Was wunderte, war, dass sie nicht auch sein Bett teilte. Es hieß, sie weigere sich, was niemand verstehen konnte. Die Frauen, die das Bett des Kaisers teilen, sind die mächtigsten Frauen im ganzen Reich, denn sie können Einfluss auf ihn nehmen. Doch sie verweigerte sich ihm. Dennoch blieb sie an seinem Tisch. Nach einer Weile war sie nicht nur an seinem Tisch, sondern auch in seinem Arbeitszimmer, was bis dahin noch keine war. Wie Ihr ja vermutlich wisst, war sie eine sehr gebildete Frau, und ich nehme an, dass sie sich ihm unabkömmlich machen wollte, ohne sein Bett aufzusuchen.
Das funktionierte eine Zeit lang, fast ein Jahr. Danach jedoch ging sie auch mit ihm ins Bett. Ich glaube nicht, dass es sonderlich freiwillig war, allerdings ist der Kaiser... sehr überzeugend. An ihr schien er einen besonderen Narren gefressen zu haben, sie war seine Favoritin, und das besonders lang. Drei Jahre. Das hat so lange noch keine geschafft. Sie nahm Einfluss, wo immer sie konnte. Der Kaiser ist... wenig... zimperlich. Sie versuchte, das abzumildern. Wie gesagt, eine Weile funktionierte es. Dann kam Farila. Farila ist – oder war, hoffentlich – eine Hexe. Ich glaube noch heute, dass sie den Kaiser behext hat, um in sein Bett zu kommen. Das Bett wäre aber noch nicht das Problem gewesen. Es waren
zwischendurch andere dort, und Herrin Elaria hat ihre Position dennoch halten können. Farila jedoch duldete niemanden neben sich. Sie erkannte nicht an, dass Elaria Favoritin war, und hat den Kaiser dazu gebracht, Elaria auf die Probe zu stellen. Keine Ahnung, was genau passiert ist. Aber auf einmal verschlechterte sich Elarias Verhältnis zum Kaiser rapide. Sie musste die Räumlichkeiten verlassen, die er ihr und Tullius zur Verfügung gestellt hatte, durfte nicht mehr an seinem Tisch speisen und hatte keinen Zugang mehr zum Palast. Zu dieser Zeit traf sie die Vorbereitungen, um Tullius zu Euch zu schicken, Herr. Sie wusste, was kam. Sie sagte zu mir ‚Gracius, wenn die nächste Einladung in den Palast für mich
kommt, nimmst du dir Tullius und Silla, steigst auf die Schwan und fährst nach Memphis. Dort fragst du in der Hauptstadt im Tempel des Ahnen Ubis nach Priester Bakhor und gibst ihm diesen Brief.’ Und das habe ich getan.“ Die junge Frau neben dem alten Mann hatte während der Erzählung angefangen zu weinen. Der Junge schien gefasst, doch mehr, als verstünde er nicht, worum es ginge. Bakhor sah die Frau an. „Warum weinst du?“ Sie sah ihn an.
„Das Schiff konnte nicht gleich auslaufen, weil keine Flut war. Ich ... ich bin zum Palast geschlichen, um zu sehen, ob ich ihr helfen kann. Sie wurde gerade herausgetragen...“
„Sie ist also tot?“ Schluchzend nickte die
Frau. Bakhor fasste unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Weine nicht, Silla. Das Schicksal eines Jeden erfüllt sich, egal, was Menschen tun oder lassen. Wäre sie geflohen, hätte vielleicht eine Welle sie von Bord gespült, oder ein Kran im Hafen sie getötet. Niemand erhält mehr Zeit. Und sie war eine gerechte Frau. Ahn Ubis kennt das Schicksal jeden Wesens, seine Taten und sein Herz. Sie wird in der Unterwelt ruhen und dort gibt es kein Böses. Sie ist dort sicherer als hier.“ Priester Bakhors Worte beeindruckten Tullius. So hatte er den Tod noch nie gesehen. Er wusste, dass seine Mutter tot war, sonst hätten Gracius und Silla nicht so
traurig reagiert bei der Abreise, doch es hatte ihm niemand gesagt, was das hieß. Wenn sie nun nicht mehr auf dieser Welt war, konnte er verstehen, was Tod war. Und laut seinem Vater war es nichts Schlechtes. Er war traurig, weil seine Mutter nicht mehr neben ihm war, weil er sich nicht mehr mit ihr unterhalten, sich nicht mehr an sie kuscheln konnte, aber für sie war er jetzt nicht mehr traurig.
„Vater?“ fragte er scheu. Der Mann sah ernst zu ihm herab und nahm dann seine Hand.
„Ja.“
Der Tempeldienst war oft schon eine langweilige Sache gewesen, aber heute übertraf es sich selbst. Hethor, vormals Tullius Iulius Iustus, fünfzehn Jahre und Novize dritten Ranges, staubte die Reliefs ab. Er gähnte. Ahn Ubis war der Gott des Todes, der Gerechtigkeit, des Schicksals und des Wissens. Und des Schlafs, wie er schon oft gedacht hatte. So langweilige Sachen konnten eigentlich nur einem Novizen des Todesgottes passieren. Doch dann tröstete er sich. Bald würden die neuen Novizen kommen, und dann würde er diese Aufgabe ganz schnell delegieren! Müde klappte er die Leiter zusammen und ging zur Statue weiter.
Als er sie wieder aufklappen wollte, trat sein Fuß gegen etwas Weiches. Ohne hinabzusehen oder sich auch nur eine Haaresbreite zu bewegen, sandte er ein Stoßgebet zum Ahnen. Das konnte eigentlich nur eines sein.
Vorsichtig senkte er seinen Blick. Eine der Kobras war tatsächlich aus dem Becken entkommen. Sie hatte sich um das Bein des Ahnen geringelt, doch ihr Schwanz ragte noch auf den Boden hinaus. Es war die größte Schlange, die er je gesehen hatte – die Statue des Ahnen war dreißig Fuß hoch, und sie hatte sich in drei Windungen um das ganze rechte Bein geringelt. Nun ringelte sie sich ab und baute sich vor ihm auf. Er war
nicht klein mit seinen sechs Fuß, doch ihr Kopf pendelte auf seiner Kopfhöhe sanft hin und her. Ihr Nackenschild war gespreizt, aber sie griff ihn nicht an. Auffällig war ihre Farbe: nachtschwarz sogar der Bauch, war nur auf dem Schild eine fast durchgelaufene Sanduhr zu sehen. Hethor bewegte sich nicht. Er kannte die Darstellungen dieser Schlange. Er hatte sie oft genug abgestaubt. Es war Heth, die Schwarze Kobra, Bote und Vollstrecker des Todes. Schnell warf er einen Blick zu dem Relief. Die Schlange war da, doch sie wirkte flacher als sonst. Er schluckte. Langsam neigte er den Kopf und hob die Hand in Richtung des Schlangenkopfes. Die Kobra züngelte; ihre raue Zunge fuhr über seine Finger. Sie
zischelte sacht und ringelte sich dann schneller, als er auch zur zusammenzucken konnte, um seinen Arm und Oberkörper. Sie war schwer! Unter Mühen ging er zu dem Relief. Er konnte kaum den Arm weit genug heben, um sie wieder zurückkriechen zu lassen. Wieder war sie schneller, als er schauen konnte. Ihr Schwanz verschmolz mit der Wand, doch sie wandte ihm noch einmal ihren Kopf und Schild zu. Die Sanduhr hatte sich gedreht.
„Hethor!“ Die Stimme seines Vaters klang angespannt. Hethor schluckte und machte sich auf den Weg in das Büro. Er wusste bereits, worum es ging. Als er die Tür hinter sich schloss, sah sein Vater ihn ungnädig an.
„Hethor, du weißt, warum ich dich rufe.“
„Ja, Herr.“ Hethor biss sich auf die Lippen, während sein Vater auf den Tisch trommelte.
„Wir mischen uns nie ein. Kein Lebewesen ist es wert, länger oder kürzer zu leben als Ahn Ubis es vorgesehen hat. Jeder hat sein Los zu tragen. Warum vergehst du dich dagegen?“ herrschte Bakhor seinen Sohn an. Hethor kam es immer wieder so vor, als wäre sein eigener Vater härter zu ihm als zu
anderen. Er schluckte wieder.
„Herr, mit Verlaub... es mag sein, dass der Ahn jedem seine Zeit zugedacht hat. Aber keiner von uns kann wissen, wie lang sie wirklich ist. Ich wollte die Zeit des Mannes nicht verlängern; ich war davon ausgegangen, dass er noch welche hat. Ich wollte ihm nur ermöglichen, sie so gut wie möglich zu verbringen“, verteidigte er sich. Sein Vater runzelte die Stirn.
„Schicksal ist und bleibt Schicksal. Der Mensch sollte nicht eingreifen, um es zu ändern“, entgegnete Bakhor finster. Hethor leckte sich über die Lippen.
„Aber Herr... wenn Schicksal bleibt, macht es doch nichts, ob ich helfe oder nicht. Wenn sein Schicksal war, gerettet zu werden, hätte
es auch ein anderer sein können. Wenn man das Schicksal nicht ändern kann, musste ich doch so handeln.“ Er wusste, dass das an Häresie grenzte, doch es war etwas, das er schon lange hatte sagen wollen. Bakhors Züge wurden noch finsterer, wenn das denn bei einem Mann wie ihm ging.
„Hethor, das Geschenk der Götter an die Menschen ist der freie Wille. Wir können versuchen, uns gegen das Schicksal aufzulehnen, und sogar hin und wieder etwas ändern. Es bleibt nur die Frage, warum und in welchem Ausmaß wir das tun. Es hat seinen Grund, dass die Götter den Menschen ihr Schicksal zuteilen, und sich dagegen zu wehren, heißt, sich gegen die Götter zu vergehen. Es ist jedoch möglich. Ein
Menschenleben zu retten, ist vielleicht für denjenigen gerade gut. Doch wir wissen nicht, was sein Tod sollte. Möglicherweise musste er Platz machen für jemanden, der besser ist als er, und du hast dem Besseren die Möglichkeit genommen, seinen Platz einzunehmen – vielleicht für immer. Dann bleibt das Schlechtere bestehen. Genauso wenig darf man töten, weil man nie weiß, welches Schicksal die Leute erwartet hätte. Also sieh zu, dass das nicht noch einmal passiert.“
Mit einem Wink entließ Bakhor seinen Sohn. Hethors hängende Schultern sagten viel. Der Tempelvorsteher schüttelte den Kopf. Hethor glaubte an das Gute, und das machte ihm Sorgen. Das Gute und Böse waren Domänen
der Götter, und kein Mensch hatte das Recht, sich dort einzumischen. Man konnte nur tun, was sie von einem verlangten. Wenn das so weiter ging, würde er Hethor bald fortschicken müssen, zu seinem eigenen Wohl. Hier würde ihn wohl früher oder später ein Tempelgericht erwarten, und das ging eigentlich nie gut aus.
*****
Die Jahre vergingen. Inzwischen war Hethor zwanzig, Novize ersten Ranges; bald würde er seine Weihe erhalten – hoffte er. Zumindest, wenn das jetzt gut ging. Vorsichtig betupfte Hethor den Kopf der Schlange. Wieder einmal hatte eine Kobra den Weg aus
dem Becken gefunden, doch dieses Mal war nichts Übernatürliches daran gewesen. Die Schlangen hatten in einer Ecke einen Haufen gebildet, und diese war obenauf gewesen, hatte sich aufgerichtet und begonnen, den Tempel zu erkunden. Dabei hatte sie Pech gehabt: ein Kerzenleuchter war umgefallen und hatte sie am Kopf getroffen. Nun war sie bewusstlos und verletzt. Hethor war sich nicht sicher, wie klug es war, eine tödliche Giftschlange zu behandeln, aber es waren die Heiligen Tiere, und er wollte sie nicht sterben lassen. Er musste seinen Vater einmal fragen, ob auch Tiere in die Unterwelt eingingen. Die Schlange öffnete die Augen. Sie waren gelb, wie die aller Kobras, doch ihr Blick war noch trüb. Zügig legte Hethor sie in
die Kiste, die er vorbereitet hatte. Er wusste, dass seine Heilkunst nicht vergebens gewesen war.
Nachdem die Wunde verheilt war, ging Hethor mit der Kiste zurück in den Tempel. Er hatte sich einen späten Zeitpunkt ausgesucht, in der Hoffnung, dass niemand mehr da sei. Gerade, als er vor dem Becken niederkniete und die Kobra hinablassen wollte, trat jemand aus dem Schatten. Bakhor! Hethor schrak zusammen.
„Va-Vater! Ihr habt mich erschreckt.“ Bakhor zog die Augenbrauen zusammen.
„Hethor, was machst du hier?“ fragte er barsch. Hethor netzte die Lippen und entschloss sich, mit der halben Wahrheit zu
antworten. Bakhor hatte ein gruseliges Gespür dafür, wenn jemand log.
„Eine der Kobras ist wohl entkommen. Ich habe sie in eine Kiste getan und wollte sie zurückbringen“, antwortete er also. Bakhor zog eine Augenbraue hoch. Vorsichtig hob er den Deckel der Kiste an. Hethor schluckte. „Aha. Und dass die Kobra eine Narbe auf dem Kopf hat, ist also Zufall?“ fragte er dann freundlich. Hethor zuckte schuldbewusst mit den Achseln.
„Sie ist ein heiliges Tier...“, versuchte er, sich irgendwie zu rechtfertigen.
„Hethor!“ zischte Bakhor drohend. „Du möchtest wohl mit aller Macht vor ein Tempelgericht, oder was?!“ Hethor sah seinen Vater entsetzt an. „Wenn das noch mal
vorkommt, muss ich das tun, das ist dir klar, oder?“ Hethor biss sich auf die Lippen und sah Bakhor in die Augen.
„Ja.“
„Das Urteil lautet: schuldig. Der Missetäter wird sich morgen bei Sonnenaufgang im Tempelhof einfinden, um seiner Ämter, seines Status und seiner Männlichkeit entkleidet zu werden.“ Die Stimme des Richters war schneidend wie Glas. Hethor sprang auf.
„Einspruch, Herr!“ Alles wandte sich ihm zu. Einspruch hatte es fast nie gegeben, und er war hinreichend überführt.
„Einspruch?“ fragte der Richter kalt.
„Ja, Herr. Ich verlange ein anderes Urteil.“ Hethor zitterte, doch seine Stimme war fest. Der Richter zog nur eine Augenbraue hoch, bevor er jedoch etwas sagen konnte, fuhr Hethor fort. „Ich verlange ein Gottesurteil,
Herr.“
Im Gerichtssaal hielt jeder den Atem an. Bakhor schloss die Augen. Hethor konnte selbst im Angesicht des Gerichts nicht davon lassen, das Schicksal herauszufordern. Dann atmete er langsam aus. Nun, wenn es sein Schicksal war, würde er sterben. Aber dann wäre er auch bei der Operation gestorben. Der Tempelvorsteher öffnete seine Augen wieder. Gerade führte man Hethor zur Grube. Er sah gefasst aus. Irgendwie war Bakhor schon stolz auf seinen Sohn. Er war ein unabhängiger Geist ohne Hintergedanken, und durchaus fest in seinem Glauben. Seine Pflichten erfüllte er gewissenhaft und akkurat, und wenn er predigte, hörten ihm die
Leute zu. Nur dieser Hang dazu, Lebewesen vor dem Tod zu retten und ihnen das Leben zu erleichtern stand zwischen ihm und einem unbeschwerten Tempelleben.
Gerade wollten ihn die Wächter in die Grube stoßen, da wischte Hethor ihre Hände voller Verachtung beiseite. Langsam näherte er sich dem Becken und sah auf die Schlangen herab. Das Gottesurteil war einfach: durchquere die Grube der Länge nach und gelange heil auf der andern Seite hinaus, und du bist im Recht. Ebenso langsam, wie er darauf zugegangen war, ließ sich sein Sohn in das Becken hinab. Bakhor biss sich auf die Lippen und hielt den Atem an.
Die Schlangen zischten wütend, als er den
ersten Fuß in die Grube setzte. Einige kamen schon auf ihn zu. Hethor sah ihnen gefasst entgegen, doch innerlich zitterte er. Eine Schlange war noch schneller als die andern. Als sie jedoch bei ihm angekommen war, biss sie ihn nicht. Sie richtete sich vor ihm auf und klickte die anderen Schlangen an. Hethor bemerkte eine kleine Narbe an ihrem Kopf. Die andern Schlangen ließen sich davon nicht sonderlich beeindrucken. Ihre Schwester schien nicht viel Einfluss zu haben. Hethor lächelte zu ihr herab.
„Danke“, flüsterte er. Die Schlange sah zu ihm auf. Plötzlich wurden ihre Augen rot und ihre Haut schwarz. Sie wuchs rapide, und man hörte mehr als einen Entsetzensschrei aus der Menge. Wenige Augenblicke später
ringelte sich eine sechzehn Fuß lange Kobra zu seinen Füßen. Hethor erkannte sie. Nun hielten die anderen Schlangen Abstand. Langsam begann er, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Heth begleitete ihn. Als er am anderen Ende des Beckens angekommen war, ringelte sich Heth wieder sein Bein hoch bis zu seinem Oberkörper und seinen Armen. Sie war so schwer wie beim ersten Mal, doch nun musste er noch zehn Fuß klettern. Hethor sammelte sich und begann mit dem Aufstieg.
Mehr als einmal rutschte er beinahe zurück. Der Grubenrand war recht glatt; man machte es weder den Schlangen noch den Verurteilten sonderlich leicht,
herauszukommen. Schlussendlich jedoch erreichten seine Hände den Beckenrand. Als er sich hochzog, wichen die Priester angstvoll zurück. Wie beim ersten Mal trug er die schwere Schlange zu ihrem Relief zurück.
„Danke“, flüsterte er noch einmal. „Wir sind quitt.“
„Dennoch, hier ist kein Platz für ihn!“ Einige der Priester konnten das Wunder immer noch nicht verwinden. Im Tempelrat brodelte es. Bakhor kräuselte angewidert die Oberlippe. Die Gesetze besagten, dass man niemanden, der ein Gottesurteil überstanden hatte, für seine Taten verurteilen durfte. Das schienen hier einige vergessen zu haben. ER hatte sich für seinen Sohn gefreut. Er
lauschte der Diskussion nur mit einem halben Ohr. Er hatte längst mit Hethor besprochen, was sie tun wollten. Es war nur noch nicht die Zeit, diesen Vorschlag zu machen. Sollten sie ihre Pfeile erst verschießen.
Als es laut wurde, entschloss er sich zum Eingreifen. Leute, die schrieen, hatten keine Argumente mehr.
„Er hat ein Gottesurteil bestanden und darf nicht weiter für seine Taten verurteilt werden“, sagte er resolut. Als sich Widerstand regen wollte, hob er nur die Hand. „Aber seine Geisteshaltung ist hier wirklich nicht angebracht. Mein Vorschlag ist: wir weihen ihn, wie es sich gehört. Er hat das Gottesurteil nicht nur überstanden, er hat es durch ein Wunder überstanden. Ahn Ubis ist
mit seinen Diensten also einverstanden. Das heißt, es spricht nichts gegen eine Weihe. Aber danach schicken wir ihn los, in die Welt. Er spricht sowohl die Handelssprache als auch Eleusisch als natürlich auch Memphitisch. Er kommt durch. Also kann er für uns Informationen über andere Völker sammeln. Wir haben sowieso viel zu wenig Informationen über die Aderen.“ Die Priester brummten, aber schließlich wurde sein Vorschlag angenommen.