Was bisher geschah:
Ein Mann durchwandert die deutschen Lande. In einer Schenke östlich des Rheins findet er einen Reisegefährten. Zusammen ziehen sie los. Doch ob gutem Essen und Wein trödeln sie. Als sie sich der Grafschaft Werrentheim nähern, dunkelt es In einem Wald, nahe der Stadt, werden sie von Räubern überfallen und der Reisegefährte des Mannes verletzt. Das Ende scheint nahe zu sein. Ein aus dem Dunkeln auftauchender Reiter verhindert Schlimmeres.
Der Reiter trieb sein Pferd an. Sobald er den Schein der Fackel verlassen hatte, war es, als habe der Erdboden ihn verschluckt.
Ich musste mich um meinen Gefährten kümmern. Tatsächlich war die Herberge nicht weit, doch es kostete mich weit mehr Kraft, als ich gedacht hatte, ihn dorthin zu bringen. Vor der Tür rief ich laut und sofort wurde uns
geöffnet. Als man sah, in welchem Zustand wir waren, führten uns helfende Hände sofort in die Schankstube. Der Wirt schickte nach dem Wundarzt, der glücklicherweise nur weniger Häuser entfernt wohnte. Bald kam ein ältlicher, aber energischer Mann herbei und untersuchte meinen Gefährten. Tatsächlich war sein Zustand nicht besorgniserregend, doch er hatte Blut verloren. Die Wunde wurde gereinigt, dann brachten die Mägde unter den strengen Augen des Arztes den Kranken auf ein Zimmer. Auch mir riet man, mich hinzulegen, doch ich war viel zu aufgeregt um an Schlaf zu denken. Der Wirt und nach ihm noch viel andere spendierten mir ein Bier und ich erzählte unsere Geschichte. Ich endete mit den Worten: "Ich denke, der Graf von Werrentheim hat uns gerettet."
Da brach heiteres Gelächter aus. Das überraschte mich und ich war auch ein wenig verärgert, denn das war nicht die Ehre, die unserm Retter eigentlich zukam.
"Wieso wird hier gelacht?" wollte ich wissen.
"Nun", meinte ein dicker Mann, der nur der Pfarrer seinen konnte. "Wir lachen, weil der Graf siebenundachtzig Jahre alt ist und das Schloss seit mehrere Jahren nicht mehr verlassen hat. Die Gicht, heißt es, doch es könnte auch was anderes Sein. Der Herr mag ihn noch lange am Leben erhalten, denn unser Graf Heinrich ist nicht der schlechteste Fürst, den diese Grafschaft je gesehen hat."
"Sein Sohn, vielleicht ..." begann ich, wurde jedoch sofort von einem anderen Mann, einem Kaufmann der Kleidung nach zu urteilen, unterbrochen.
"Das ist ja das Unglück. Drei Frauen hat er gehabt. Alle sind im Kindbett gestorben. Und immer waren es Mädchen. Zwei von ihnen haben die ersten Jahre nicht überstanden. So haben wir nur eine Brunhild von Werrentheim."
"Ihr Mann?"
Wieder brach lautes Gelächter los. "Brunhild
von Werrentheim ist nicht gerade eine Frau, die ein Mann heiraten will. Schön ist sie, ohne Frage, doch auch ein böses, zänkisches Weib. Hat ihren Vater doch tatsächlich solange genötigt, bis er sie auf eine Universität geschickt hat. Und natürlich musste es Paris sein. Das ist ganz schön ins Geld gegangen. Für Männer hat sie aber scheinbar nichts übrig. Viele haben ihr den Hof gemacht. Unsere Grafschaft mag zwar klein sein, aber hier ist man nicht unvermögend." Der Kaufmann reckte das Kinn.
"Waren ihr alle aber nicht gut genug", nahm der Pfarrer die Erzählung wieder auf. "Fein angezogene Männer aus alten Familien waren dabei. Und alle hatten so gute Manieren. Aber für Frau Brunhild" - er sprach den Namen ohne eine Hauch von Anerkennung aus - "war keiner gut genug. Sie ging lieber ihrem Gewerbe nach."
"Ihr Gewerbe?" fragte ich.
Einige Männer kicherten
"Oh, sie hat in Paris Medizin studiert. Habe ich das nicht gesagt? Wenn unser Wundarzt nicht aufpasst, macht sie ihm noch den Platz streitig!"
Nun brach dröhnendes Gelächter in der Schankstube aus. Ich nahm einen langen Schluck und verbarg so mein Gesicht hinter dem Bierkrug. Sonderlich sympathisch waren mir diese Leute nicht. Ich wollte nur noch austrinken, nach meinem Gefährten sehen und mich dann zur Ruhe begeben. ’Diesen Dummbeutel’, dachte ich, da sagte ein kleines verhutzeltes Männlein, dass ganz in schwarz gekleidet bisher im Hintergrund gesessen hatte: "Nur gut, das Ihr Räubern über den Weg gelaufen seid."
"Wie bitte? Mit dem Schwert wurde nach meinem Gefährten gestochen."
"Pah, was ist schon ein Schwerthieb, wenn nur eine kleine Wunde dabei herauskommt."
Es wurde still in der Schankstube. Ich war zu erbost, um gleich etwas zu erwidern.
"Was ist schon ein Schwerthieb, wenn nur eine kleine Wunde dabei herauskommt", wiederholte das schwarze Männlein genussvoll, "gegen den Fluch des Reiters!"
Da überkam es mich. Ich vermag bis heute nicht zu sagen, was es war, das mir einen solchen Schock versetzte. Vielleicht war es das laute Schweigen der Männer um mich herum, die bis eben noch fröhlich geplappert hatten oder die boshaft erscheinende Zufriedenheit des schwarzen Männlein. Mir kamen die bedrohlichen Wolken in den Sinn - Unheilsboten, das erkannte ich nun - und ich dachte an den finsteren Wald am Fuße des Berges. Hatten die Bäume nicht schon aus der Ferne gerufen?
"Bleibt fort, wenn euch euer Leben lieb ist!"
Und mir war es, als erlebte ich die Unruhe meines Reisegefährten noch einmal. Denn sie
hatte nun mich ergriffen. Mein rechtes Bein begann, auf und nieder zu wippen. Eine bedrohliche Kälte kletterte über meinen Rücken. Die Furcht, bis zu diesem Zeitpunkt vom Behauptungswillen in die Schranken verwiesen, brach sich ihre Bahn. In meinem Kopf nahm das Gesicht des Chefs der Wegelagerer Gestalt an. Ich hatte Angst. Ich hatte Angst.
"Wir haben heute die Nacht vom 22. auf den 23. Juli, wie Ihr sicher wisst", begann das schwarze Männlein seine Erzählung, nur um dann genüsslich zu wiederholen: "Der Fluch des Reiters!
Damit erreicht es, was er wollte. Alle um mich herum wurden noch ein wenig stiller, sofern dies überhaupt möglich war. Einer rückte näher an den andern und ich merkte, wie ich selbst die Schultern ein Stück nach oben schob, wie in Erwartung eines heftigen Gewitterregens.
"Vor vielen, vielen Jahren war die Grafschaft Werrentheim nicht sehr viel größer, als sie es heute ist, doch ärmer. Arm wie Kirchenmäuse waren die Leutchen. Alle, bis auf einen. Der Graf von Werrentheim war ein wohlhabender Mann, ja, man sagte, er habe genug Gulden, um die ganze Grafschaft, seinen Besitz eingeschlossen, noch einmal zu erwerben. Doch warum sollte er kaufen, was ihm bereits gehörte? Ein jeder Mann, jedes Weib, Greise und Kinder, sie alle waren nicht nur Untertanen, sondern auch abhängig in ihrem Wohl und Weh vom Grafen. Nun kann Macht den Menschen verführen und Geld ihn irreleiten, doch beides auf einmal verdirbt den Charakter, soviel ist einmal sicher."
Das schwarze Männlein schaute auf den Pfarrer und es lag nicht wenig Häme auf seinen verhutzelten Zügen, denn der Geistliche hielt seinem Blick nicht stand und drehte schamhaft das Gesicht zur Seite.
"So kann es nicht verwundern, dass der Graf sich bald aufführte, als wäre er der Aufseher und die Menschen der Grafschaft das unterjochte Volk des Mose. Das meiste zu ertragen hatten aber seine Bediensteten in Haus und Hof. Wenn der Zorn den Grafen überwältigte, soll er sich des öfteren der Peitsche bedient haben."
"Das hätte Gott niemals zugelassen!", ereiferte sich der Pfarrer nun, redete dabei aber mit so brüchiger Stimme, dass er eine Gegenrede geradezu herausforderte.
"Gott hat damals sehr viel zugelassen!" Das schwarze Männlein hatte seine Stimme erhoben. Es sprach überraschend laut. "Vielleicht hat er damals ja Urlaub gemacht." Zu meiner Linken kippte ein Krug vom Tisch und weit hinten in der Schankstube verlosch eine Kerze. "Doch ich will die Geschichte weitererzählen, denn der Fremde kennt sie ja nicht." Nun schaute er mir in die Augen. Kälte durchfloss mich, ohne das
die Tür oder ein Fenster geöffnet worden war.
"Ihr versteht nun sicherlich, dass der Graf ein finsterer Gesell war. Angst und Schrecken verbreitete er alleine schon, wenn die Menschen an ihn dachten. An vielen Frauen soll er sich vergangen haben, doch keine hat sich je beschwert. So erzählte man damals zumindest. Dann kam der Sommer. Ein junger Wildhüter stand in den Diensten des Grafen und zu seinen Aufgaben gehörte es, sich um die Forellenteiche zu kümmern. Tüchtig war er und verrichtete seine Aufgaben stets mit Bedacht. Am Abend des 21. Juli kam der Graf zu den Teichen geritten, denn er hatte ein Auge auf den Wildhüter. Die beiden Männer gerieten in Streit und zuletzt lag der Wildhüter ersoffen in einem der Teiche. Der Graf beteuerte, dass dieser traurige Unfall sich ereignet haben musste, nachdem er fortgeritten war. Doch niemand mochte ihm glauben, auch weil ein Bauernjunge erzählte, er habe gesehen, wie der Graf den
Wildhüter mit seinem Schwert ins Wasser getrieben habe. Dass der Graf sich verteidigte, niemand habe gar nichts sehen können, weil ungewöhnlicherweise ein dichter Nebel über den Forellenteichen gelegen hatte, machte die Sache nicht besser. Groß war die Wut der Menschen, doch was sollten sie tun? Er war der Graf und damit auch der Gerichtsherr. Niemals wird ein Mann gegen sich selbst Klage führen."
- Fortsetzung folgt -