Kurzgeschichte
Der letzte Tag

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"Der letzte Tag "
Veröffentlicht am 15. Juni 2016, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Nele Namfoh ist eine mysteriöse Gestalt, die aus den Abgründen einer weit verwinkelten Bibliothek erstanden ist und nur durch Glück den Ausgang in das verworrene, aber zumindest reale, Leben fand. Durch ihr Interesse am Weltgeschehen und an der Kunst ganz im Allgemeinen wird sie regelmäßig zum Schreiben kürzerer Geschichten angeregt. Neben der Literatur hat auch die Musik einen großen Stellenwert im Leben der Autorin. So spielt sie Gitarre und ...
Der letzte Tag

Der letzte Tag

Der letzte Tag

Martha steht auf der Bühne. Sie ist 85 Jahre alt und hat entschieden heute zum letzten Mal in einem Theaterstück zu sehen zu sein. Alle Augen sind auf sie gerichtet, aber die Scheinwerfer sind noch nicht an. Martha sieht einem Zuschauer nach dem anderen tief in das Gesicht und findet Geschichten. Geschichten über die Menschen, glückliche, traurige Geschichten, Geschichten über Familienmitglieder oder über Sorgen und Ängste. Martha kennt viele Geschichten! Während den 60  Jahren in denen sie mit dem Theater unterwegs war, hat sie viele Leute

getroffen und viele Geschichten gehört. Zum Beispiel hatte ihr einmal ein Mann von seiner Tochter erzählt, die in Alaska mit einem Forscherteam lebte und arbeitete. Eine alte Frau hatte der damals noch jungen Martha von ihrem Enkel erzählt, der bald nach Asien reisen würde um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Martha hatte aber nicht nur schöne Geschichten gehört. Wie oft war sie von Eltern gebeten worden ihre totkranken Kinder im Krankenhaus zu besuchen? Und wie oft hatte Martha das dann auch getan?  Nun sah sie in all diesen Gesichtern Geschichten von Verlusten, Ängsten und Glück. Sie sah, wie all die Menschen mit ihren Familien

dort waren und trotz allem, was sie bedrückte, glücklich waren. Sie sah Kinder die auf dem Schoß ihrer Mutter saßen und lachten. Sie sah Geschwister die sich ärgerten und Verliebte, die sich fest im Arm hielten. Während Martha all diese Menschen sah, fühlte sie plötzlich eine Leere in sich drin. All diese Leute hatten Freunde, sie hatten Familien und Menschen, die sie regelmäßig sahen.

Das Stück begann. Das war es also: das letzte Theaterstück und der letzte Tag an dem sie von Menschen umgeben war. Damals als Martha begonnen hatte Theater zu spielen, hatte sie aufgehört sich bei ihren Freunden zu melden und begonnen nur noch für das Theater zu

leben. Einen Mann hatte sie nie gefunden, es hatte immer nur das Theater mit wechselnden Mitspielern gegeben. Damals hatte Martha sich gedacht: „Ich lerne hier im Theater soo viele Menschen kennen: ich werde nie wieder alleine sein!“ Doch jetzt, während sie das Stück, welches sie 30 Jahre lang in allen möglichen Theatern der Welt gespielt hatte, spielte, wurde ihr plötzlich klar, dass all diese Menschen denen sie begegnet war, nur kurze Weggefährten gewesen waren. Sie waren kurz da und dann auch wieder schnell weg gewesen. All diese Menschen hatten Martha bereits wieder vergessen und Martha hatte sie auch vergessen.

Martha fühlte sich plötzlich ganz allein, ein Gefühl welches sie über 60 Jahre lang nicht empfunden hatte.  Dann zog sich der Vorhang zu und die anderen Schauspieler strahlten Martha an. Alle wussten, dass dies ihr letzter Tag war und wollten das mit ihr feiern. Alle nahmen sich an die Hand und gingen vor den Vorhang sich zu verbeugen. 1,2,3 Mal. Dann wurde Martha aufgefordert etwas zu ihrem Abschied zu sagen. Martha machte es kurz, es fühlte sich so komisch an. Sie bedankte sich schnell bei allen Menschen, die je in einem ihrer Stücke gesessen hatten und bei allen Schauspielern, die an ihrer Seite gespielt hatten. Dann bedankte sie sich ganz

besonders bei dem Publikum und den Kollegen die heute anwesend gewesen waren. Dann verbeugte sie sich und ging zurück in den verdunkelten Teil der Bühne. Sie beobachtete, wie ein Zuschauer nach dem anderen aus dem Theatersaal  trat und wie auch die Schauspieler in den Backstagebereich gingen um sich umzuziehen und sich abzuschminken. Martha setzte sich auf den Boden. Der Theatersaal war schon fast leer. Sie fragte sich, was sie denn nun machen sollte, wer sich denn um sie kümmern würde, wenn sie plötzlich zu gebrechlich war. Sie legte sich auf den Boden und streckte ihre Glieder von sich. Das konnte doch nicht vorbei sein!

Sie wollte und konnte doch nicht einfach so gehen… Dann gingen alle Lichter im Theater aus und Martha hörte, wie die Türen verriegelt wurden…

Das war er also, der letzte Tag.

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Hörbuch

Über den Autor

NeleNamfoh
Nele Namfoh ist eine mysteriöse Gestalt, die aus den Abgründen einer weit verwinkelten Bibliothek erstanden ist und nur durch Glück den Ausgang in das verworrene, aber zumindest reale, Leben fand. Durch ihr Interesse am Weltgeschehen und an der Kunst ganz im Allgemeinen wird sie regelmäßig zum Schreiben kürzerer Geschichten angeregt.
Neben der Literatur hat auch die Musik einen großen Stellenwert im Leben der Autorin. So spielt sie Gitarre und beschäftigt sich gerne mit dem Nachsingen bekannter Songs aus Vergangenheit und Gegenwart.
Nele wünscht Ihnen viel Spaß beim Lesen.

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Thaunatas Eine schöne und bewegende Momentaufnahme aus dem Leben. Ich konnte mich gut in die Hauptdarstellerin hinein versetzen. Diese Kurzgeschichte regt dazu an, sein eigenes Leben mal aus einem etwas anderen Blickwinkel zu betrachten.
Vor langer Zeit - Antworten
NeleNamfoh es freut mich, dass die Geschichte dir gefällt und die Nachricht verständlich ist ?
LG Nele
Vor langer Zeit - Antworten
Schwanenfeder traurig und doch Realität....schrecklich. ich hab auch Angst davor...
Schwanenfeder
Vor langer Zeit - Antworten
NeleNamfoh Vielen Dank fürs Lesen und für deinen Kommentar ;)
Vor langer Zeit - Antworten
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