II. Unterwegs
WAS BISHER GESCHAH:
Ein Mann durchwandert die deutschen Lande. In einer Schenke östlich des Rheins findet er einen Reisegefährten
Der Weg führte uns zunächst direkt nach Osten. So früh am Morgen waren noch nicht viele Menschen unterwegs - die Bauern waren, schon bevor ich aufstand, auf ihre Felder gegangen - und wir hatten die Straße zunächst für uns allein. Mein Gefährte kam tatsächlich aus Lothringen und er sprach ein gutes Deutsch aus dem einfachen Grund, weil er es von klein auf gelernt hatte. Gebürtig aus Soest in Westfalen wollte er sich nicht auf den fruchtbaren Böden der Soester Börde abrackern und so hatte es ihn schon in jungen Jahren nach Brüssel
verschlagen. Das geschäftige Treiben in dieser reichen Tuchhändlerstadt gefiel ihm gut und nachdem er sich kurz und erfolglos als Leichtmatrose auf einem Schoner verdingt hatte, war er Gehilfe eines umtriebigen flämischen Kaufmannes geworden. Beredsam wie er war, hatte er schnell das Vertrauen seines Lohnherren gewonnen, der ihn gerne mit Aufträgen fortschickte. Wenn die Zeit es erlaubte, ging er zu Fuß und sparte so etwas von dem Geld, das er für die Reise bekommen hatte, denn übriggebliebene Reste durfte er in der Regel für sich verwenden. So kam es, dass seine Gewänder zwar einfach wirkten, doch wer genau hinschaute, erkannte die hervorragende Qualität von Hose und Jacke. Meine durchgelaufenen Stiefel - ein Erbstück meine Großonkels - wirkten schäbig neben den seinen, doch noch erfüllten sie ihren Zweck. Gerne erzählte mein Gefährte von seine Reisen, reihte dabei aber zunächst nur eine Erzählung eines
guten Geschäftes an die andere und das ermüdete mich recht bald. Ich selbst habe nicht wenig von der Welt gesehen, wenn ich auch noch nie in London oder Nowgorod gewesen bin, doch bildete ich mir ein, dabei weit mehr gesehen zu haben, als mein geschäftiger Reisegefährte.
Langsam füllte sich die Straße und immer öfters mussten wir Kutschen und Fuhrwerken aus dem Weg gehen, die uns, mal langsam, mal schnell, überholte. Doch das machte uns nichts aus. Tatsächlich lachten wir über die Eile der anderen und nun zeigte sich, dass mein Begleiter nicht nur an Taler und Gulden dachte. Manch seltsame Anekdote über fremde Länder und die Gebräuche der Menschen dort wusste er nun endlich zu erzählen und zum ersten Mal an diesem Tag redete auch ich viele Sätze hintereinander, denn seltsame Dinge waren auch mir schon an anderen Orten widerfahren. Jedoch war nichts mit dem vergleichbar, was
noch vor mir lag.
Gegen Mittag oder nach einer Woche bogen wir auf eine weniger belebte Straße ab, die nach Südosten führte. Mehrere Hügel galt es nun zu erklimmen, doch mein Gefährte schritt ebenso aus wie ich. Das hatte ich ihm kaum zugetraut, war er doch ein wenig füllig, aber seine Füße waren an lange Märsche gewöhnt. Auch mussten wir nun öfters dunkle Wälder durchqueren, doch das jagte uns keine Angst ein, denn schließlich war es helllichter Tag und wir waren zu zweit. Nach einer ganzen Weile juchzte mein Reisegefährte vergnügt, wusste er doch genau, wo wir waren und das nicht weit entfernt ein Wirtshaus am Wegesrand lag. Dort kehrten wir ein. Der Imbiss war einfach, aber herzhaft und auf Kosten meines Gefährten trank ich Rheinwein. Ich hätte mir höchstens ein Bier bestellt, wahrscheinlich aber mit Wasser Vorlieb genommen. Die Sonne schien durch das offene Fenster und der leichter Wind
trieb einen würzigen Geruch in die Gaststube. Darum saßen wir beide wohl eine ganze Zeit still beisammen und erfreuten uns unseres Lebens. Das hätten wir nicht tun sollen. Nachdem wir ein kurzes Stück gegangen waren und die Geschwindigkeit des anderen kannten, hatten wir uns darauf geeinigt, am Abend in Werrentheim einzukehren. Kein kurzes Stück Weg hatten wir uns da vorgenommen, aber dennoch war es schaffen. Eine kurze Pause war da mit eingerechnet, doch viel zu lange machten wir Rast. Als wir das bemerkten, war es bereits Nachmittag. Kurz besprachen wir uns, verwarfen jedoch den Gedanken, hier zu übernachten, auf mein Betreiben hin, soviel sei gesagt. Letztlich sollten wir bis Werrentheim kommen, doch unterwegs geschahen seltsame Dinge.
Wir kauften uns bei den Wirtsleuten noch ein Paket mit Würsten, Äpfeln und Birnen und machten uns dann auf den Weg. Es dauerte gar
nicht lange und der Himmel, der bis dahin noch strahlend blau gewesen war, zog sich zu und dunkle Wolken hingen über uns zwei hastigen Wanderern. Der Wind war eingeschlafen und so konnte sie niemand vertreiben. Wenn ich zurückdenke, waren es seltsame Wolken, mehr schwarz als dunkelblau und einmal glaubte ich sogar ein böses Gesicht in ihnen zu sehen. Ich würde das nicht erzählen, wenn nicht just in diesem Moment auch mein Gefährte verstört in die Luft geschaut hätte. Doch womöglich spielt mir da auch meine Erinnerung einen Streich. Wie vieles deucht uns im Nachhinein seltsam, je länger wir darüber nachsinnen.
Mit der Zeit wurde mein Gefährte ganz still. Auch die Würste, Äpfel und Birnen vermochten seine Stimmung nicht zu heben. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass ich sein fröhliches Geplapper vermisste. Ich kannte ihn erst einen Tag lang, doch schon waren er und seine ganze Art mir ans Herzen gewachsen.
Vielleicht war es aber auch nur die Anstrengung, denn wir hatten zwei recht steile Berge zu meistern. Auf der Spitze des letzten der beiden angelangt, erkannten wir mehrerlei. In der Ferne lag Werrentheim, das Ziel unser heutigen Etappe und zu unser rechten machte sich die Sonne im noch wolkenlosen Westen ans Untergehen. Erst nach Einbruch der Dunkelheit würden wir die Stadt erreichen, soviel war klar, und zwischen uns und einer Übernachtungsmöglichkeit lag ein ausgedehnter Wald.
"Da erwartet uns ja noch einiges", sagte mein Gefährte ein wenig beklommen.
"Es ist nur ein Wald", versuchte ich ihn aufzumuntern und sprach sehr viel fröhlicher, als ich mich fühlte. "Bäume, die nebeneinander stehen. Die haben noch niemandem etwas böses getan und das, seit es Menschen gibt. Dieser Wald ist nicht anders als jene, durch die wir heute bereits gelgangen sind."
"Er ist sehr viel größer. Seht ihr das nicht? Er reicht mit seine Ausläufern fast bis an die Stadt heran, umkreist sie und zieht sich dann bis zu dem Schlossberg hinauf."
"Er umkreist die Stadt nicht", verbesserte ich ihn. "Im Süden und Osten sehe ich freies Land, Äcker und Felder. Und die wenigen Bäume auf dem Schlossberg gehören bestimmt zu einem Park, glaubt mir, und ein Gärtner beschneidet sie sorgsam, damit sie nicht in den Himmel wachsen."
Ich hatte meinen Reisegefährten nicht überzeugt, ihm aber dennoch ein wenig Mut eingeflößt. So machten wir uns an den Abstieg. Recht bald kamen wir an einem von Flechten überwachsenem Grenzstein vorbei. Wir betraten die Grafschaft Werrentheim.
- Fortsetzung folgt -