Vermisst
Das kühle Wasser des Sees erfrischt seine Füße und die letzten Sonnenstrahlen des Tages streicheln sein Gesicht. Der Wind flüstert in seine Ohren. Der Duft der Freiheit kitzelt in seiner Nase. Früher für ihn ein Moment des Glücks. FRÜHER.
Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu und die Nacht will schon anbrechen. Er atmet noch einmal tief die frische Luft ein und zieht dann seine Füße aus dem Wasser seinen Blick weiter in die Ferne gerichtet. Sein Handy liegt stumm neben ihm. Blind greift er danach. Kein Anruf, keine Nachricht. Er legt es wieder weg und starrt weiter in die Ferne.
„Da bist du ja!“ Ein guter Freund, vielleicht
sein bester, kommt angelaufen. „Ich hätte wissen müssen, dass ich dich hier finde“, meint dieser. Keine Reaktion.
„Hier rumsitzen bringt dich auch nicht auf andere Gedanken.“ Er setzt sich neben seinen Freund und wartet auf eine Wortmeldung. Doch es kommt keine. Nach einigen Minuten Stille probiert er es wieder. „Du musst langsam damit klarkommen, dass sie weg ist. Es ist jetzt ein Jahr her. Die kommt nicht mehr wieder und denkt auch sicher nicht mehr an dich.“ Der Mann steht auf und sein Gesicht ist voll von Aggression und Ungläubigkeit.
„Sie liebt mich…“, sagt er und versucht die Tränen zurückzuhalten. Sein Freund steht jetzt auch auf und versucht ihn zu trösten,
doch seine Worte lösen nur noch mehr Aggression bei dem Mann aus.
„Die Polizei hat gesagt, dass sie wahrscheinlich mit einem anderen ein neues Leben begonnen hat. Der Brief vor deiner Tür hat das ja bestätigt.“
„Der Brief war nicht von ihr! Ich kenne ihre Schrift! Das würde sie niemals machen!“
Da er lange nicht mehr so viel gesagt hat, ist sein Freund einen kurzen Moment sprachlos. Dann nimmt er ihn einfach wortlos in den Arm, weil er dann doch die Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Nachdem er sich beruhigt hat, deutet sein Freund zu seinem Auto und sagt: „Komm mit!“ Den fragenden Blick beantwortet er mit einem „Ich weiß, wer dir helfen kann.“
Die beiden steigen wortlos ins Auto und fahren zur ca. 500 m entfernten Polizeistelle. Dort angekommen werden sie von den anwesenden Polizisten beim Betreten des Gebäudes schon mit genervten Blicken begrüßt. Als sie das Büro des für ihren Fall zuständigen Beamten finden, betreten sie den Raum nach kurzem Klopfen. Der Polizist begrüßt die zwei mit einem genervten: „Ja?“
In Gedanken fügt er wahrscheinlich noch ein „Was wollt ihr schon wieder hier?“ dazu. „Sie können sich vielleicht an uns erinnern. Seine Frau ist vor einem Jahr verschwunden und sie wollen einfach nicht mehr nach ihr suchen. Dieser Brief, der vor seiner Tür gelegen hat, kann nicht von ihr sein, weil es nicht ihre Handschrift ist. Diese Aussage
müsste sich doch überprüfen lassen. Außerdem würde sie, wie schon öfter erwähnt, nicht einfach davonlaufen. Und…“ „Da muss ich sie mal stoppen!“, meint der Polizist leicht verärgert. „Wir machen unsere Arbeit immer gewissenhaft. Wir haben fast ein Jahr nach ihr gesucht und weder eine Leiche, noch irgendwelche Spuren gefunden. Wir haben in alle Richtungen ermittelt. Es tut uns leid, aber mehr können wir nicht machen. Ich bitte Sie zu gehen.“
Mit großer Enttäuschung verlassen die beiden Männer daraufhin das Büro und gehen mit gesenktem Kopf ins Auto zurück. Es wird bei der Autofahrt kein Wort gewechselt.
Wieder bei dem See angekommen setzen
sich die beiden Männer wieder zum Wasser und schauen in die Ferne.
„Warum tut denn keiner was? Die haben doch alle keine Ahnung. Und Johann tut auch nur vor mir so, als wäre er auf meiner Seite, dabei weiß ich doch, dass er auch der Meinung ist, dass sie einfach mit einem anderen abgehauen ist. Er soll einfach seinen Mund halten und mich in Ruhe lassen. Moment, was war das?“
Er hört eine Stimme, eine Frauenstimme, die nach der seiner verschwundenen Frau klingt. Er schaut sich um. Er hört die Stimme immer lauter. Er steht langsam auf. Er wartet. Er hört wieder die Stimme. Immer lauter. Plötzlich
erschreckt er. Sind das Fußspuren?
„Ich werde noch verrückt! Jetzt höre ich schon ihre Stimme. Und da sind merkwürdige Fußspuren und irgendwas bringt mich dazu ihnen zu folgen. Das ist doch krank! Bin ich verrückt? Oh mein Gott, was mache ich?“
Langsam blickt er sich nach allen Seiten um, ob irgendwo jemand ist. Doch es ist keine Menschenseele weit und breit bis auf die beiden. Doch die Neugierde packt ihn. Die Stimme wird lauter und jetzt kann er endlich die Worte verstehen.
„Hat sie gesagt, dass ich ihr folgen soll? Aber wem? Und wohin? Meint sie die Fußspuren?
Ich muss es herausfinden.“
Ohne ein Wort zu sagen lässt er seinen Freund alleine sitzen und folgt den Fußspuren und der Stimme, die immer deutlicher zu ihm spricht. „Wo gehst du hin?“, ruft Johann ihm plötzlich nach, doch er hört es nicht.
„Ich muss wissen, von wem diese Fußspuren sind. Die müssen doch irgendwo herkommen. Und diese Stimme. Das ist sie. Sie spricht zu mir. Ich freue mich so, ihre wunderschöne Stimme wieder zu hören. Die Fußspuren gehen immer weiter. Ich bin schon im Wald. Leicht gruselig hier im Dunkeln. Warte, wo sind die Fußspuren? Und
warum höre ich ihre Stimme nicht mehr? Was soll ich jetzt machen? Oh, da ist wieder ein Geräusch! Kommt das aus dem Boden?“
Johann folgt langsam seinem Freund in sicherem Abstand. Er beobachtet wie er zielgerichtet in den Wald läuft, plötzlich stehen bleibt und sich dann auf den Boden legt. Dann passiert einige Minuten gar nichts.
„Da ist sie! Dort unten hält sie jemand gefangen! Ich muss sie retten!“
Als er beginnt mit seinen Händen in der Erde zu graben, geht Johann zu ihm hin und hilft ohne weitere Nachfrage beim Graben. Nach einer halben Stunde sind die beiden
erschöpft, doch sie hören nicht auf. Bald wird die Erde härter und es ist mit bloßen Händen fast kein Weiterkommen mehr möglich. Dadurch lassen sie sich aber nicht entmutigen.
„Sie muss da unten sein. Ich weiß es. Ich höre sie doch! Sie braucht mich und ich werde sie retten. Oh mein Gott, was ist das? Fühlt sich an wie Plastik. Wahrscheinlich nur Müll. Schatz, ich rette dich! Das scheint aber ein riesiger Plastiksack zu sein. Moment, da ist etwas drin. Was das wohl sein mag?“
Johann reagiert schnell. Er sieht den Plastiksack in der Erde und rennt aus dem
Wald, um besseren Empfang mit seinem Handy zu haben. Dann ruft er die Polizei und erzählt ihnen von dem Fund. Ein paar Minuten später kommen die Polizisten angelaufen mit Spürhunden im Schlepptau. Doch die Hunde werden nicht mehr benötigt. In der Zwischenzeit ist dort ein gewaltiges Loch entstanden, der große Plastiksack ist komplett freigelegt und der Kopf einer jungen Frau ragt heraus.
„Das ist sie! Das ist meine Frau!“, schreit der Mann voller Tränen in den Augen, als er nach einem Jahr wieder das Gesicht seiner Frau sieht.
Die Polizisten befragen Johann, was genau passiert ist und wie sie die Leiche gefunden haben. „Mein Freund ist plötzlich losgelaufen
zu diesem Platz im Wald und hat dann begonnen wie ein Irrer zu graben. Keine Ahnung, was in ihn gefahren ist.“
„Sie war es! Sie hat mich gerufen und mir gesagt, dass sie hier ist! Ich bin ihren Fußspuren gefolgt und sie hat mir genau gesagt, wo sie ist. Ihre Stimme wurde immer lauter bis ich sie gefunden hatte!“
Die Polizisten starren ihn nur verwirrt an und wenden sich wieder an Johann. „Also ich habe keine Stimme gehört und Fußspuren sind hier auch keine. Ich weiß nicht, wovon er redet…“