Das Dichterlein und der Denker
Ich kenn im Dorf ein Dichterlein.
Das kümmert sich tagaus tagein
um Vers und Reim und Form und Takt
und wie es wohl die Leser packt.
Einst las es bei ‚nem andren Denker,
der viel beachtet, hoch gelobt wird
und Werke von Weltwert gebiert,
ein schaurig schräges Versgeplänker.
So unbeholfen und verquer
stolzierte dessen Kunst daher,
dass dies das Dichterlein betrübte.
Es nahm Papier und Stift und übte.
Dann schrieb es diesem Herrn in Demut:
Er möge doch mit rechtem Maß
ein wenig dies, ein wenig das
verändern. Dann wär alles gut.
Die Antwort ward recht schroff gehalten.
„Willst du mein Können denn verwalten,
mein Tun, mein Trachten, meine Kunst?
Behalte deinen blauen Dunst,
du kleines Licht,
du Dichterwicht!
Willst meine Texte gar verbessern,
womöglich heillos dumm verwässern?
Ich stelle dich in deinen Senkel,
der du nicht meines Kruges Henkel
mir reichen kannst samt kühlem Wasser!“
Des Dichters Haut wurd‘ fahl und blasser.
Da wollt‘ er nichts mehr dreist riskieren
und hörte auf zu kritisieren.
Doch dachte er in seinem Winkel:
„Was bist du für ein armer Pinkel,
du Leichtgewicht,
du Schummerlicht.“
Erstaunt las er im nächsten Tageblatt,
man hätt‘ des Denkers Texte reichlich satt.
Sie seien seicht und reich an Honigseim.
Man wolle ferner ihm kein Forum sein.
„Das passt euch wohl so“, schimpft der Denker.
„Auf, küss mich eifrig! Komm, zum
Henker,
du Musenlicht,
du Kussgesicht!“
Man sieht ihn schreiben ohne Ende,
bis elend müde Kopf und Hände.
Verzweifelt sucht er Rhythmus, Bilder, Reim,
türmt karge Wortgebirge überein.
Beklebt die Türen mit Gedichten,
bekritzelt Wände mit Geschichten.
Zu guter Letzt verteilt er voller Hast
die Krimis, die er hat aus Frust verfasst
auf Straßen, Plätzen, gibt sie mir zur Nacht.-
Oh Schreck! Da bin ich um halb vier erwacht.