Der Schatz der lieben Jungen
„Ich, ja ich. Wo soll ich anfangen?
Anfangen zu erzählen, was sich zugetragen hat.
Vor zwei Tagen.
Ja, vor zwei Tagen, da war meine kleine Welt noch in Ordnung.
Ich kümmerte mich, wie an jedem Tag, um meine lieben Jungen.
Die lieben Jungen?
Ich stelle sie vor:
Kevin Alster, genannt Mekki.
Er hat schon so manche Messerstecherei angezettelt. War auf einem guten Weg und die WG hat sich sehr positiv auf sein Verhalten ausgewirkt.
Malte Stahl, sitzt im Rollstuhl.
Seine Beine wollen nicht, aber sein Kopf ist ein Hochleistungsreaktor!
Sie nennen ihn Einstein.
Er ist hier, weil sein Naturell böse ist. Es ist schwer, mit ihm umzugehen.
Nicht beziehungsfähig.
Ich für meinen Teil denke, er wird aufgrund seiner Behinderung einfach immer unterfordert und ist deswegen so unausgeglichen.
Seit ich ihm, während meiner Abwesenheit, das Ruder in die Hand gegeben habe, ist er ein ganz anderer Mensch.
Nils von Raan, schwach und linkisch, sucht sich immer die falschen Freunde. Er wurde dabei ertappt, eine Tankstelle auszurauben.
Dumm war dabei, mit dem
Baseball-Schläger die Theke und die umstehenden Regale zu demolieren.
Wie in jeder anderen Tankstelle auch, haben die Kameras beste Bilder geliefert.
Dem Jungen ist zugutegekommen, dass er den Tankwart verschont hat.
Sie nennen ihn nur Raan.
Der härteste Fall ist wohl Dominik Ehrenfeld, kurz Dom.
Er hat auf einem Schuttabladenblatz ein kleines rumänisches Mädchen schwer misshandelt.
Er prahlt damit, es sei nicht das erste Mal gewesen und niemand hätte ihn je davor erwischt. Zur abschließenden Vergewaltigung ist es wegen eines heranfahrenden Müllautos nicht gekommen.
Dennoch!
Das Mädchen war sehr verstört und ist bis heute in psychologischer Behandlung.
Bei Dominik weiß ich nie so genau, ob er denkt, was er sagt. Oder ob er uns alle an der Nase herumführt.
Sein Gesicht ist von einem Brand leicht entstellt. Er hatte Glück gehabt. Irgendwann, als Kind war er zu dicht am Feuer. Es sieht beinahe aus, als hätte er Gumminoppen auf seiner Haut.
Vielleicht ist er auch deswegen so geworden, wie er heute ist …
Der letzte im Bunde ist Benjamin. Er scheint in der WG oftmals als Nutztier für viele Gelegenheiten zu fungieren. Er ist ein kleiner Stricher mit dem Hang, sich an fremden Taschen zu vergreifen. Ein hübscher Kerl, was den
anderen Jungs auch nicht entgeht. Eigentlich gehört er nicht in diese Gesellschaft, doch für alle Insassen findet die Justiz nun mal nicht die optimale Gruppe.
Hier war noch ein Platz frei und so ist Benjo eingezogen.
Maßgetreu haben alle WG-Mitglieder 16 qm für sich als persönlichen Raum. Hier stehen Schrank, Bett und eine kleine Kommode.
Wände dürfen nicht behängt oder vernagelt werden.
Alle teilen sich die gemeinsame Küche, Wohnraum mit Fernseher und das Bad. Diese Räume sind mit Kameras
ausgestattet, um eine etwaige Eskalation frühzeitig zu erkennen.
Ein kleiner Garten hilft den Jungs bei der Verarbeitung ihrer Taten.
Hier werden Obst und Gemüse für den eigenen Verzehr angebaut.
Die Verantwortlichkeiten sind gerecht aufgeteilt. Die Zeit des Aufenthaltes hängt von der Schwere des Vergehens ab, und wie gut sie sich in die Gemeinschaft einbringen.
Ein Verlassen des Geländes ist nur einzeln und nur in meiner Begleitung erlaubt, sei es ein Arztbesuch oder der wöchentliche Einkauf.
Zu meiner Person:
Ich bin ausgebildete Sozial-Pädagogin. In einem Kindergarten hatte ich meine Ausbildung mit Bravour gemeistert. Doch dann gab es keine Stelle für mich in einer adäquaten Einrichtung.
So sattelte ich um. Im Vollzug gibt es jede Menge Stellen.
Das will eben keiner so gerne machen. Meine Schützlinge wurden älter. Doch so viele Unterschiede ergaben sich für mich nicht.
Nicht, wie ich erwartet hatte. Diese Jungs sind mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln und doch sind es Jungs. Einfach nur Jungs, die ein bisschen Pech im Leben hatten.
Täglich suche ich diese WG auf.
Stets zu unterschiedlichen Zeiten, um den Insassen keine Möglichkeit zu geben, sich auf meinen Besuch einzustellen.
Schon seit ein paar Tagen nahm ich eine angespannte Stimmung wahr, obwohl ich immer mit einer gewissen Heiterkeit empfangen wurde. Sie nennen mich den „Schatz der lieben Jungen“ und finden diesen Witz zum Brüllen lustig.
An besagtem Tag war das so:
Morgens, gegen halb vier in der Früh, läutete das Telefon. Meine Jungs! Einstein lag fiebernd im Bett!
Ich sagte ihnen, sie sollten ihm
Wadenwickel anlegen. Eine knappe Stunde später ging erneut das Telefon. Es half nichts.
Ich putzte mir nur schnell die Zähne und schon war ich auf dem Weg, um mir selbst ein Bild zu machen.
Bereits vor ein paar Tagen klagte Malte über Halsschmerzen. Ich sagte ihm, er solle sich einen Tee mit Nelkenpfeffer aufbrühen um sämtliche Keime abzutöten.
Sicher war er sich zu schade dafür und hatte nun eine ausgewachsene Mandelentzündung.
Das war mein Verdacht.
Die Billardkugel am Schlüsselbund klapperte laut, als ich den Schlüssel in
die Haustür zur WG steckte.
Sofort wurde mir geöffnet.
Ich sah in erleichterte Gesichter.
Raan und Mekki nahmen mich bei den Händen und taten ganz aufgewühlt. Eiligen Schrittes und ohne viele Worte führten sie mich in Einsteins Zimmer. Der Tag wollte eben erst erwachen und so war es noch recht finster im Raum.
Als ich am Bett stand, grinste Einstein mich fies an.
Sofort stellten sich mir die Nackenhaare auf.
Mein Notfallknopf steckte in meiner Jeanshose, die daheim über dem Stuhl hing.
Aufgrund der Eile, und der morgendlichen Stunde, war ich nur in die Jogginghose geschlupft.
Solche Fehler dürfen nicht passieren! Ich hörte, wie hinter mir die Tür zugedrückt wurde.
Mekki hielt mich noch immer. Sein Griff wurde fest wie eine Stahlklammer.
Raan tippelte von einem Fuß auf den anderen. Die Aufregung war ihm deutlich anzusehen.
Einstein spielte Initiator und Regisseur in einer Person. Er sagte zu Benjo, was zu tun sei. Dom drohte ohne Worte mit einen Knüppel. Benjo entledigte sich seiner Hose und ich sah das Muster auf seinen Oberschenkeln.
Der Strichcode für zu viel Gewalt in dieser WG! Wie konnte ich das nur übersehen? Soviel Aggression!
Nun dachte ich, ich sei das Opfer.
Mir wurde heiß und kalt bei dem Gedanken an das, was gleich passieren würde. Weit ab von allem, der Notfallknopf außer Reichweite.
Doch Benjo musste sich, statt meiner, über den Stuhl beugen.
Ich verstand die Situation nicht. Überhaupt nicht!
Dom drückte mir einen Kochlöffel in die Hand. „Stecken Sie ihn tief rein! Richtig tief, verstehen Sie?“
„Nein!“, schrie ich ihn an und schleuderte den Löffel von mir.
Versuchte, mich aus Mekkis Griff zu befreien. Ich sollte zu ihrer Belustigung den Akteur spielen!
Einstein lachte.
Auf wackeligen Beinen hob Raan das Holzding auf und reichte es mir.
Nun sah ich das Binnengewässer, das er hinterlassen hatte. Auch die Beine seiner Heimhose waren völlig durchnässt.
„Jetzt, Raan!“, bestimmte Einstein. Raan schaute erschrocken, dennoch streifte er die nasse Hose ab.
Es roch durchdringend nach Urin.
Benjo bekam den Löffel. Steckte ihn ohne großes Aufheben in Raans Hintern. Tief.
Raan wimmerte.
Seine Beine knickten ein.
Einstein lachte.
Am Löffelende wurde er wieder hochgezogen.
Ein bisschen stocherte Benjo noch in dem gepeinigten Körper herum, dann zog er den Löffel raus.
„Und jetzt du, Benjo!“, trieb Einstein das Geschehen an.
Ergeben beugte sich der Befohlene erneut über den Stuhl.
Raan übernahm mit schwitzenden Fingern meine Hände.
Sein Griff war weitaus lockerer. Insgeheim rechnete ich meine Chancen durch.
Dom reichte Mekki den Knüppel.
Mit diesem prügelte er auf Benjos Beine ein, ehe er das Ende des Knüppels ebenfalls in dem Körper versenkte. Benjos Körper war anzusehen, dass er schon einiges einstecken musste.
Ich entriss mich Raans laschem Griff und steuerte die Tür an.
Wusste ich doch, dass ich gesehen werde, sobald ich den Gemeinschaftsraum erreiche.
Doch Dom war schneller.
Er packte mich beim Schopf und schleuderte mich zu dem Stuhl.
Hart drückte sich die Stuhllehne an meinen Körper.
Der Knüppel landete auf meinem Rücken.
Mir blieb vor Schmerz die Luft weg.
Aus dem Augenwinkel sah ich den Widerschein des Blaulichtes.
Auch den Jungs war das nicht entgangen. Eilig streiften sich die Betroffenen ihre Hosen über.
Der Stuhl flog geradezu in seine Ecke zurück.
Der Knüppel war nicht mehr zu sehen. Ich weiß nicht, ob die dachten, bloß, weil ich ihr „Schatz“ war, würde ich nichts sagen.
Ich habe irrsinniges Glück gehabt und möchte hiermit meinen Dienst quittieren.“
„Und was wollen Sie jetzt machen?“
„Ich weiß es noch nicht.“
„Meinen Sie nicht, Sie hätten aus dieser Situation gelernt?“
„Ja, ich habe daraus gelernt, dass ich ungeeignet bin, mich um Kriminelle zu kümmern, selbst wenn sie noch jung sind.“
Mein Gegenüber sieht mich lange an.
„Machen Sie ein paar Tage frei. Nur ungern möchten wir hier auf Sie verzichten.“
Ich sehe ihm in die Augen.
„Weil es keiner machen will, stimmt´s?“
„Stimmt.“
Still greife ich nach meiner Tasche und verlasse den Raum.
Kann immer noch den Schmerz auf meinem Rücken nachfühlen.
Nochmal drüber nachdenken!
Ich weiß nicht so recht. Eigentlich hatte es mich wirklich erfüllt. Die Arbeit mit den Jungs fühlte sich gut und wichtig, und vor allem, richtig an.
Wenn ich wieder solch eine Gruppe betreuen sollte, werde ich wachsamer sein.
Sehr viel wachsamer!