Die Giftspritze
Das schöne an einem Familienbetrieb war, dass man sein konnte wie man war. Allen voran der Chef. Thomas saß im Hof hinter der Werkstatt und hatte seine Füße in den Sandsteintrog gestellt, welcher als Brunnen fungierte. Meine beiden Stelzen parkten direkt daneben.
Es gab ein Bild von uns beiden aus einer Zeit, in der wir zusammen in den Trog gepasst hatten. Wir beide nackig und um die Wette heulend, weil unsere Großmütter keine Gnade beim Abschrubben gezeigt hatten. Seit jenem Tag war jedem klar gewesen, mit Politur und Holzkohle Indianer zu spielen, war
eine selten dumme Idee.
„Wessen Idee war es gewesen, den Ofen anzuschalten?“, jammerte Thorsten und hielt sich die Wasserflasche in den Nacken.
Bei über 40 Grad in der Werkstatt war an arbeiten nicht zu denken. Seit Beginn dieser Woche brannte die Sonne erbarmungslos auf den Odenwald nieder. Bis zur Modernisierung der Schmiede würden noch einige Monate vergehen und aus diesem Grund vegetierten mein Chef und ich im Hof des Betriebes vor uns hin.
Marianne hielt im Laden die Stellung. Sie war nicht auf den Vorschlag ihres Sohnes eingegangen, dass Babyfon an die
Ladentür zu stellen, damit wir hier draußen hören konnten, wenn jemand bei diesen utopischen Temperaturen auf die Idee kam, Schmuck zu kaufen. Sie hatte heftig protestiert, wobei wir das Ganze nicht verstanden hatten, denn Thorstens Frau war mit dem Neugeboren zu den Schwiegereltern gefahren und würde vor dem Abendessen sowieso nicht zurückkommen.
„Sprich nicht vom Ofen, ich fühle mich schon wie eine Backkartoffel. Ich gebe freiwillig mein Urlaubsgeld ab, um eine Klimaanlage für Laden und Werkstatt zu beantragen.“
Thorstens Gehirn arbeitete sehr langsam, wahrscheinlich war es bereits
auf Dörrobstgröße zusammengeschnorrt. Nach einer gefühlten Stunde der Reglosigkeit bemerkte er, was ich zuvor gesagt hatte: „Seit wann zahle ich Urlaubsgeld?“
Wir beide mussten lachen. Ich verdiente nicht schlecht und die Schmiede genoss trotz allen Querelen der letzten Monate immer noch einen ausgesprochen guten Ruf und die Geschäfte liefen.
„Weißt du was, Boss? Ich hol uns eine gustatorisch, kulinarische Klimaanlage“, scherzte ich und wuchtete mich zur selben Zeit aus dem Liegestuhl hoch.
„Luisa, mein Hirn ist Brei, rede normal mit mir“, stöhnte Thorsten, ohne in der Lage zu sein, überhaupt nur den kleinen
Finger zu rühren.
Ich war immer wieder erstaunt, dass Männer so wehleidig waren. Im Grunde hätte ich es mir auch sparen können, mir Tötungsdelikte auszudenken, um meinen Ex zu ermorden. Er wäre ohne eine Frau an seiner Seite beim nächsten Männerschnupfen eh jämmerlich eingegangen.
„Schokolade oder Vanille?“, fragte ich ihn.
Doch auch hier war keine weitere Gehirnwindung in der Lage zu arbeiten
„Eis, ich will Eis holen.“
Nach diesen Worten schienen sich einige Gehirnzellen in der Magengegend vor der Hitze in Sicherheit gebracht zu
haben, denn sofort kamen die drei Worte „Stracciatella, Melone und Pistazie“ meinem Kumpel über die Lippen. Ohne auf den für mich tödlichen Geschmack von Thorsten einzugehen, lief ich in die Werkstatt zurück, um auch Marianne zu fragen, ob sie auch etwas Kaltes haben wollte.
Eigentlich hatte ich bei Marianne an zwei Kugeln Erdbeereis mit Sahne gedacht und nicht an tiefstes Sibirien. Trotz gefühlten Temperaturen kurz vor dem Siedepunkt, herrschte eine kalte Stimmung im Laden. Marianne bediente eine Frau Ende vierzig, welche sich versucht hatte, mit Spachtelmasse auf Anfang zwanzig zu schminken. Anhand
der verschiedenen Schmuckladen auf dem Tresen war deutlich zu erkennen, dass die Kundin der Grund für Mariannes Laune war.
„Also von diesen Stücken will nichts so recht gefallen. Wenn das so weiter geht, wird es wohl doch auf eine kostenintensive Sonderanfertigung hinauslaufen. Dabei soll es nur ein Urlaubsandenken sein.“
„Jeder dieser Ringe und Anhänger ist handgefertigt und individuell“, erläuterte Marianne und ich konnte schon hören, wie sie innerlich von zehn abwärts zählte. Diese Frau war also schon ziemlich lange hier.
„Wirklich? Aber die Motive sind immer
die gleichen“, beschwerte sich die Frau.
„Nun, wir haben nur ein historisches Rathaus und dieses ist das Wahrzeichen unseres Städtchens. Ah, Luisa, schön dass du hinter deiner Werkbank hervorkommst. Ich denke, du kannst unserer Kundin sicher weiterhelfen.“
Meine Chefin packte mich liebevoll und bestimmend am Arm und schob mich vor die Frau, deren Modegeschmack aus einem amerikanischen Teenyfilm der 90ziger Jahre stammen musste.
Das Parfum hingegen datierte ich auf die Zeit der Neuerfindung von Mottenkugeln.
„Ich wollte dich eigentlich fragen, ob ich dir auch ein Eis mitbringen kann“,
zischte ich ihr ins Ohr.
„Ich spendiere dir ein Amarenakirschbecher, wenn du das hier abschließt.“
Der Nachteil an einem Familienbetrieb war, dass man sich gegenseitig zu gut kannte. Für mich gab es kein Entrinnen mehr. Also schob mich Marianne freudestrahlend vor die Kundin und verließ mit wehenden Fahnen den Laden.
Ich lächelte etwas verkniffen. Schon auf den ersten Blick war klar, dass diese Dame in unserem Laden nichts finden konnte. Sie trug extrem auffallenden Schmuck, zwar von guter Qualität, aber nichts Vergleichbares würden Thorsten und ich je herstellen. Ihr Akzent hatte
etwas sehr Breites an sich und ich konnte mir gut vorstellen, dass sie eine gewisse Zeit in den USA verbracht haben musste. Auch die Art und Weise wie sie sich gab, lies nicht auf einen ursprünglich deutschen Hintergrund schließen. Deutlichstes Merkmal jedoch war, dass diese Frau eindeutig zu Spezies Homoplastikus gehörte. An ihr war wahrscheinlich mehr herumgeschnippelt worden als an jedem Fensterbild. Die Haut spannte so sehr über den Wangenknochen, dass ich mir fast sicher war, ihr Gesicht hatte so viele Nadeln gesehen, dass ein Nadelkissen in Rente gehen konnte.
Auch wenn ich mir ein sehr gutes Bild
von der Kundin machen konnte, wir beide kamen auf keinen geschmacklichen Nenner. Ebenso wie die Laune von Marianne veränderte sich genauso meine mentale Verfassung. Ich musste die Strategie ändern.
„Sie sind eine Frau, die für ihr gepflegtes Erscheinungsbild sehr viel Geld ausgibt.“
„Nun meine Liebe,“ sie versuchte zu lächeln und glaubte dabei wohl feinstes Hochdeutsch zu sprechen, „ich bin eindeutig für Schönheitsbehandlungen, jedoch spreche ich nicht darüber.“
„Ja, da kann ich Ihnen nur zustimmen. Mir wäre das auch zu unheimlich.“
„Wie darf ich das
verstehen?“
„Ach wissen Sie, einer der häufigsten Eingriffe, die heutzutage vorgenommen werden, ist die Behandlung mit Botox. Botulinumtoxin ist ein für den Menschen hoch toxisches Stoffwechselprodukt eines bestimmten Bakteriums. Bei oraler Aufnahme von Botulinumtoxin kommt es nach 18 bis 36 Stunden zu einer breiten Palette an Vergiftungserscheinungen, die man unter dem Begriff "Botulismus" zusammenfasst. Sie betreffen vor allem die Muskulatur und das autonome Nervensystem.“
Die Kundin wurde immer blasser. Ich hatte also ihre volle
Aufmerksamkeit.
„Quasi schmerzhaftes Ersticken bei vollem Bewusstsein.“
Genauere Ausführungen waren hier nicht nötig, denn der wandelnde Schmiertiegel ging bereits in die Defensive.
„So ernst sollte man diesen kleinen, medizinischen Eingriff nun auch nicht sehen.“
Gespielt wurden meine Augen immer größer, während die Dame immer kleiner wurde.
„Nein, nein, gute Frau. Es reicht schon eine sehr geringe Menge aus. Demnach reichen 1 g des Toxin aus, um 100.000 Menschen zu töten. 10 g würden für über 500.000 Tote sorgen, falls jemand
mit kontaminierter Nahrung oder Wasser in Kontakt kommt. Botulinumtoxin kann deswegen aus militärischer Sicht auch als biologische Waffe eingesetzt werden. Zu diesem Zweck wurde es bereits 1930 von Japan, später auch Deutschland, den USA, der Sowjetunion, Syrien, Iran, Irak und Nordkorea produziert.“
Die Fülle des Make-ups kam zu voller Geltung, denn unter dem ganzen Kleister war ihr Gesicht weiß wie eine Leinwand. Zum Schluss meines Vortrages setzte ich noch den letzten Edelstein in die Fassung: „Ich kann Sie sehr gut verstehen, dass Sie bei solch verwendeten Mitteln nicht über Ihre Schönheit sprechen möchten. Da fällt mir
ein: Für welche Schmuckstücke hatten Sie sich interessiert?“
Etwa eine halbe Stunde später befand sich das Schild „Geschlossen“ im Schaufenster der alten Schmiede. Hinten im Hof waren drei große Gartenstühle aufgestellt und drei Paar Füße brachten den alten Sandsteintrog zum Überlaufen. Marianne hatte uns extra große Eisbecher besorgt, welche wir gemeinsam und genüsslich verschlangen.
Die Kundin, die ich abgefertigt hatte, war mit einem vollständigen Schmuckset aus unserer Rathausreihe von dannen gezogen und Marianne war überglücklich, dass sie diesen
Homoplastikus nie wieder in der Schmiede begrüßen musste.