3. Kapitel
Es war doch nur eine simple Frage. Die Frage ob wir - zwei erwachsenen Menschen, die sich nach langer Zeit zufällig wiedergetroffen hatten - uns noch einmal wiedersehen könnten. Warum machte sie so ein merkwürdiges Gesicht und sagte nicht einfach ja oder nein? Was löste diese Frage in ihr aus, dass ihre gesamte Haltung dazu führte, die Sache auf der Stelle zu bereuen? Einen Moment lang schaute sie mir in die Augen, räusperte sich und schien dann auf dem Beton des Supermarkt-Parkplatzes nach Goldklumpen zu suchen.
„Ähm, ja … nein. Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee wäre, Jim.“ Ihre Stimme war leise und vehement wich sie meinem Blick aus. Wahrscheinlich standen so viele Fragezeichen in der Luft, dass sie noch leiser anfügte: „Ich da … ich kann das nicht. Lass es gut sein.“ Schnell, viel zu schnell startete sie das Auto und verließ den Parkplatz ohne ein weiteres Wort oder einen letzten Gruß. Was war das? Ich bin doch nicht zu weit gegangen? So sehr mich diese Reaktion auch verwunderte, dachte ich erneut an das Wespennest, das mich nichts anging, zuckte mit den Schultern und verließ ebenfalls den Parkplatz.
Daheim angekommen räumte ich meinen Einkauf in den Kühlschrank, die Getränke in den Keller, das Fleisch in die Gefriertruhe. Alles ging mir wie selbstverständlich von der Hand, die letzten beiden Stunden jedoch nicht aus dem Kopf. Irgendetwas war da. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit Amelie Baker. Warum verhielt sie sich so merkwürdig und warum schwankte ihre Stimmung förmlich von Minute zu Minute? Krampfhaft versuchte ich mich abzulenken, telefonierte mit drei Freunden und lud sie zum Grillen ein, bereitete die Burger vor, trank ein Bier und beschäftiget mich bis zum Eintreffen von Otis, Hank
und Terry damit, den Lackschaden an meinem Auto zu polieren. Der Zusammenstoß hatte sich übel angehört und ich hatte einen größeren Schaden erwartet, musste mir aber auch eingestehen, dass ich Amelies Auto gar nicht angeschaut hatte. Ein bisschen rote Farbe haftete in einem Kratzer, auf dem blauen Lack vor mir. Gedankenverloren strich ich mit dem Finger auf der Stelle immer wieder auf und ab, bis mich Terry plötzlich fragte, warum ich meinen Wagen so liebkoste. Ich war wohl so weit entfernt, dass ich die Drei nicht hatte kommen hören. Sollte ich erzählen, was passiert war? Ich entscheid mich dagegen, da keiner
der Jungs Amelie kannte und erklärte den Parkplatz-Schaden als selbstverschuldet.
Die folgenden Stunden verliefen feucht fröhlich und je mehr Bier in meinen Adern floss, umso weniger stöberte der Nachmittag durch meinen Kopf. Normalerweise trank ich so gut wie keinen Alkohol. Als Sportler konnte ich mir die Schäden am Tag danach nicht leisten und außerdem war ich ein Verfechter der gesunden Ernährung. Kaffee war im Grunde das einzige Laster, zu dem ich stand. Umso mehr wirkte jede Flasche Bier, die ich an diesem Abend trank. Otis, Hank und Terry waren im entferntesten Sinne
Halbbrüder von mir, da alle drei wie ich in Pflegefamilien aufgewachsen waren und somit mein Schicksal teilten. Nur wir wussten, wovon wir redeten, wenn wir von den kinderreichen Familien sprachen, die viel zu viele Kinder aufnahmen und uns als sichere Einkunftsquelle betrachteten. Oder wenn wir über die hoffnungslosen Erziehungsversuche unserer Gruppenleiter in den Jugendämtern lachten, aber alle immer noch das beschissenen Gefühl im Magen spürten, welches diese Zeit bei uns hinterließ. Spät am Abend fiel ich todmüde und ziemlich betrunken in mein Bett und schaffte es wirklich erfolgreich, Amelie
aus meinen Träumen und Gedanken fernzuhalten.
Amelie versuchte die aufsteigenden Tränen durch ein gekonntes Lächeln wegzublinzeln. Darin hatte sie Übung und noch ehe sie den Parkplatz des Supermarktes verlassen hatte, war ihr die Traurigkeit nicht mehr anzusehen. Obwohl es im Grunde egal war, hoffte sie, dass Jim nichts von ihrer beginnenden Panik bemerkt hatte.
Jim! Wieder - und jetzt unbekümmert, lächelte sie. Was war aus dem kleinen Kerl von damals, doch für ein ansehnlicher junger Mann geworden. Sportlich war der Blondschopf schon
früher als Junge und wenn sie auch noch keinerlei Gefühle für die männlichen Mitschüler empfand, fühlte sie sich schon als Kind von ihm angezogen. Er hatte eine große Klappe, ging aber nie zu weit und die Streiche, die er sich ausdachte, waren immer lustig und für niemand verletzend. Oft hatte sie sich in der Vergangenheit gefragt, was aus ihm und den anderen geworden war, wenn sie wieder einmal das alte Klassenfoto in den Händen hielt. Warum hatte er noch keine Frau und Familie, wunderte sie sich. So, wie Jimmy aussah und offensichtlich war er ja auch immer noch der liebe Kerl, der er als Kind schon war, musste ihm die Frauenwelt
doch zu Füssen liegen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es nicht die Richtige für ihn gab, aber nicht jeder heiratete mit 23, so wie sie. Träumend saß sie in ihrem Auto und bemerkte gar nicht, dass sie schon vor dem Haus ihrer Eltern stand. Wieder einmal war sie so abgelenkt, dass sie ziemlich achtlos durch die Stadt gefahren war. Das musste unbedingt aufhören, zumal nicht immer so wenig Verkehr herrschte, wie an diesem Samstagnachmittag.
Gern hätte sie sich noch ein wenig den Gedanken an Jim und die unbeschwerte Schulzeit hingegeben, aber sie war spät dran. Eine ganze Stunde hatte sie vertan, die sie nicht bereute, aber wenn
sie dem Ärger aus dem Weg gehen wollte, wieder aufholen musste. Ärger würde es sowieso schon wegen der Beule und dem beschädigten Blinklicht geben, aber zum Glück war Jim ja bereit gewesen, den Schaden mit seiner Versicherung zu klären. So konnte sie beruhigt erzählen, dass sie keine Schuld traf. Einen letzten Gedanken an ihren Retter verschwendend, seufzte sie einmal kurz und verließ mit dem Einkaufskorb im Arm ihr Auto. Das Haus ihrer Eltern, das seit einiger Zeit eigentlich nun ihr Haus war, obwohl sie sich noch immer nicht an diesen Gedanken gewöhnen konnte, stand zu dieser Tageszeit mitten in der Sonne.
Ruhig war es hier, am Ende der Straße, die als Sackgasse in einen Feldweg mündete, der nicht befahrbar war. Das Haus war alt, es war uralt und trotzdem lebendig. Die Eingangstür, die schon seit ewigen Zeiten grün gestrichen war, hatte sie erst in diesem Frühjahr wieder mit einem neuen Anstrich versorgt und die Blumenkästen, die an jedem Fenster hingen, standen bereits in vollste Blüte. Bunt war auch der kleine Vorgarten, den sie immer besonders pflegte. Amelie konnte nicht sagen warum. Niemand kam hierher zu Besuch, keiner fuhr vorbei und die wenigen Spaziergänger beachteten das Grundstück sowieso nicht. Trotzdem war es ihr wichtig, denn
sie liebte dieses Fleckchen Erde, auch wenn sie selbst wohl nie hier wohnen würde. Das Allerbeste an dem Ganzen war jedoch der Garten, den man vom Haus aus betreten konnte, der aber auch durch das kleine Gartentor, links neben dem Eingang, zu erreichen war. Herrlich zugewachsen und dennoch gepflegt, war er urgemütlich. Schöne alte Obstbäume spendeten Schatten, Blumenbeete und blühende Büsche verströmten einen sommerlichen Duft und da ringsherum eine dichte hohe Hecke wuchs, konnte man sich nahezu ungestört und unbeobachtet hier bewegen. Das Nachbarshaus befand sich mindestens fünfzig Meter entfernt und schon
manches Mal, hatte sie sich fast unbekleidet in die Sonne gelegt. Wenn überhaupt, konnte sie nur ihr Dad sehen und der würde nichts entdecken, was er nicht kannte. Wie immer, bevor sie das Haus betrat, machte sie einen kleinen Rundgang, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war oder sie sich sofort um etwas kümmern musste.
Amelie wusste, dass die Zeit knapp war, aber eine ganz kurze Pause an ihrem Lieblingsplatz musste einfach noch drin sein. Schon saß sie auf der Schaukel, die ihr Dad damals, als sie klein war, an einem Apfelbaum befestigt hatte. Sie war stabil und sicher, denn er hatte sie so gebaut, dass auch noch seine
Enkelkinder sie benutzen könnten. Ob sie jemals Kinder haben würde? Josef, ihr Mann war nicht prinzipiell gegen Kinder, fühlte sich mit 34 Jahren jedoch noch viel zu jung für diese Aufgabe. So oder so, selbst wenn sie irgendwann Kinder hätte, würden diese nicht hier in diesem Garten schaukeln. Josef hatte sie nur ein einziges Mal, am Anfang ihrer Beziehung, hier her begleitet und seine Nase immer stärker gerümpft, je näher sie dem Haus kamen. Sein einziger Kommentar war, dass er nicht einmal Hunde hier wohnen lassen würde. Damit war das Thema, dieses Haus und ihre Eltern ein für allemal erledigt.
Josef! Bei dem Gedanken an ihn schrak
sie zusammen und rutschte von der Schaukel. Es war wirklich nicht mehr viel Zeit. Schnell schnappte sie den Einkauf, drückte die Terrassentür und das Fliegengitter auf und betrat mit einem „Hallo Daddy, ich bin da!“ das Haus. Ihr Vater lag, wie fast immer, auf der großen Chaiselongue in der gemütlichen Wohnküche und lächelte Amelie matt entgegen. „Hallo Kleine, ich habe schon gewartet, du kommst heute spät?“, flüsterte er heiser und langsam, schaffte aber doch ein kleines Lächeln. Ob er jemals damit aufhören würde, sie Kleine zu nennen? Wahrscheinlich nicht, denn wie er einmal erklärte, würde sie seine Kleine
bleiben, bis er die Augen schließt. Hatte es Amelie mit 20 Jahren gestört, war es ihr inzwischen egal und entlockte ihr höchstens noch ein Schmunzeln.
„Hey Dad!“, gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn. „Stimmt, ich bin ein bisschen spät, stell Dir mal vor, wen ich heute getroffen habe.“ Munter erzählte sie drauf los, während sie schon den Einkauf in die Schränke sortierte und Wasser für einen Eintopf aufsetzte. Sie wusste, dass ihr Dad nur noch wenig von dem verstand, was sie redete und mit Sicherheit hatte er keinen Ahnung, wer Jimmy war oder ist, aber sie versuchte so viel Normalität wie möglich in die Besuche zu zaubern. Die Aufenthalte bei
ihrem Vater, in diesem Haus, gaben ihr immer Kraft, obwohl sie manches Mal hart arbeiten musste, um allein alles in Ordnung zu halten. Während sie viel zu viel von dem Treffen mit Jim erzählte und viel zu wenig von Josef, kochte sie, putze die von ihrem Vater noch benutzten Zimmer im Erdgeschoß, setzte ihn in einen Rollstuhl, um ihn mit in den Garten zu nehmen, als sie dort noch schnell Unkraut zupfte und den Rasen harkte. Amelies Vater ließ alles mit sich geschehen, lächelte sie jedes Mal an, wenn sie an ihm vorbeilief oder griff nach ihrer Hand, um sie kurz zum Stehenbleiben zu animieren. Es tat ihr leid, dass er hier allein wohnen musste,
aber sie wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab. Spät, viel zu spät, räumte sie alle Arbeitsgeräte auf, brachte ihren Dad wieder in das Haus und verabschiedete sich bald darauf von ihm. Wie gern wäre sie geblieben, den Abend und die untergehende Sonne im Garten, mit ihren Vater zu genießen.
Nein, riss sich Amelie los. Auf schnellstem Weg musste sie nach Hause, damit auch Josef sein Abendessen pünktlich auf den Tisch bekam. Hoffentlich … Den Gedanken sponn sie nicht weiter. Wenn sie Glück hatte, würde sie einen gemütlichen Abend mit ihrem Ehemann, im Garten der Villa in Portland haben.
Als sie die letzten Meter des Zufahrtweges zur Villa zurücklegte, stellte sich wie jedes Mal, dieses unangenehme Kribbeln der Erwartung ein. In der untergehenden Sonne lag das wunderschöne Haus auf einer Erhöhung und war somit schon von Weitem zu sehen. In den großen Fenstern spiegelten sich die letzten Sonnenstrahlen. Einige der dimmbaren Laternen auf dem Rasen, die im Schatten standen, begannen bereits zu flackern und der seichte Abendwind brachte Bewegung in die Blätter der Bäume, rechts und links vom Weg. Auch hier gab es gepflegte Blumenrabatten, ordentlich geschnittene Büsche und exotische Kübelpflanzen, der
Unterschied war nur der, dass hier alles von Angestellten gepflegt wurde und sie nicht an der Erhaltung beteiligt war. Wenn man so reich war wie sie, kümmerte man sich natürlich nicht selbst um diese Dinge.
„Hallo Matthew, ist er schon da?“, fragte sie den Sicherheitsmann, der am Eingang zum Grundstück die Zufahrt bewachte und hoffte, dass er die Frage bejahen würde. Matthew arbeitete schon lange Zeit für Josef und war, wie es erwartet wurde, äußerst loyal. Trotzdem blieb ihm, ebenso wie den anderen Angestellten, nicht immer verborgen, was im Haus seines Chefs vor sich ging. Milde lächelnd, stand er auf, begrüßte
Amelie und öffnete die Schranke, während er ihre Frage beantwortete. „Ja, Mrs. Baker, ihr Gatte ist bereits vor zwei Stunden nach Hause gekommen.“
Erleichtert atmete sie auf, lächelte Matthew noch einmal zu und fuhr ihr Auto in die Garage.
Ein guter Tag - dachte sie und betrat kurz darauf den großzügigen Eingangsbereich des Hauses. Und schon kam ihr Josef entgegen. Groß, schlank und wie immer gut aussehend, schloss er Amelie in seine Arme und hauchte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. „Hallo mein Liebling! Schön, dass du daheim bist.“
© Fliegengitter