Romane & Erzählungen
Gefangen für immer - 2. Kapitel

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"Gefangen für immer - 2. Kapitel"
Veröffentlicht am 30. Juli 2016, 20 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Meistens bin ich ruhig. Im wahren Leben habe ich einen Mann, zwei Töchter, eine Hand voll Enkelkinder, zwei Katzen und alle zusammen leben wir im Süden Deutschlands. Wenn ich nicht schreibe, fotografiere ich, denn Fotos sind für mich auch kleine Geschichten - wenn man sie lesen kann. Ansonsten bin ich optimistisch, (fast) immer gut drauf und stehe mit beiden Beinen fest im Leben. Ergänzung: Das wahre Leben gibt es nicht mehr. Ich musste ...
Gefangen für immer - 2. Kapitel

Gefangen für immer - 2. Kapitel

2. Kapitel

 

Schnell war geklärt, dass wir uns wirklich kannten, auch wenn es sich komisch anfühlte. Wir kannten uns und waren uns trotzdem völlig fremd. Als Kinder waren wir vier Jahre in eine Klasse gegangen, bis uns die weiterführenden Schulen trennten. Viel Zeit war seitdem vergangen und aus uns, damals Zehnjährigen, waren Erwachsene geworden. „Mensch Jimmy, wie lange ist es her?“, überlegte sie mit gerunzelter Stirn und verwendete meinen Kosenamen aus Kindertagen. „Im Herbst werden es neunzehn Jahre und abgesehen davon, dass deine Zöpfe verschwunden sind, hast du dich so wenig

verändert, dass ich dich sofort erkannt habe“, flunkerte ich. „Ja klar! Und dass du immer noch gern den Rambo spielst, haben wir ja auch gerade bemerkt“, spielte sie mit einem Wink zu den Autos, auf den Crash an. Ich war immer noch davon überzeugt, nicht schuld daran zu sein, aber die Lust zum Streiten war mir spontan vergangen. „Noch nie war ich ein Rambo“, verteidigte ich mein Image grinsend, konnte mich aber sehr gut daran erinnern, auf was sie anspielte. Ich war damals einfach kein Kind von Traurigkeit. „Können wir das mit den Autos vielleicht in Ruhe klären? Bei einem Kaffee oder einem Eis?“ Bittend schaute ich sie an und hoffte, dass auch ihr Tag nicht verplant war. Zu gern

wollte ich mit ihr in alten Kindheitserinnerungen kramen. Im Stirnrunzeln war sie gut, denn schon wieder verzog sie das Gesicht, bei dem Blick auf ihre Uhr. „Ok, wenn ich mich nachher beeile, habe ich eine Stunde Zeit, muss nur schnell telefonieren. Du besorgst Eis aus dem Supermarkt, ich fahre mein Auto an die Seite und in fünf Minuten treffen wir uns dort drüben auf der ersten Parkbank.“ Sie zeigte zum angrenzenden Park, von denen es einige in Beaverton gab, aber ich hatte sie auch so verstanden. Wenig später lief ich mit zwei großen Eisbechern und zwei Plastiklöffeln auf sie zu. Im Gedanken versunken saß sie auf einer

Bank im Schatten, erwartete mich wohl noch nicht, denn sie wirkte gerade sehr weit entfernt. Irgendwie traurig oder abgespannt, genau konnte ich ihre Haltung und ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, dazu war sie mir einfach zu fremd. Spontan änderten sich ihre Züge, als ich auf sie zutrat und ihr die beiden Becher zur Auswahl vor die Nase hielt. „Zitrone oder Schokolade?“ „He, hast du das noch gewusst oder geraten? Schoko und Zitrone sind meine Lieblingssorten!“ „Geraten! Und auf Nummer Sicherheit gegangen, weil mir beides schmeckt“, sagte ich die Wahrheit. „Du hast dich ja damals nie von mir zum Eis essen einladen lassen. Also wenn du willst, halbe-halbe, ansonsten

bekommst du Schoko.“ Stumm löffelten wir drauf los, ich lehnte mich etwas auf der Bank zurück, schaute sie an und versuchte, das Mädchen von damals wieder zu erkennen. Amelie hatte ich sehr gemocht, sie war nicht das typisch zickige Mädel mit den rosa Kleidchen, die es zu Hauf in unserer Klasse gab. Sie war immer mittendrin und mehr als einmal war sie dabei, wenn wir Jungs uns irgendwelchen Blödsinn für die Lehrer ausdachten. Amelie war eine von der Sorte, die man gern in die Mannschaft wählte, wenn im Sportunterricht Gruppen gebildet werden mussten. Sie war auch so eine, die man gern am Nachmittag getroffen hätte, zum Streunen, Footballspielen oder Bummeln. Aber so etwas

tat man als Zehnjähriger einfach nicht, also blieb es immer bei dem heimlichen Wunsch, der sich dann später, durch die getrennten Wege in Luft auflöste. Nie habe ich sie wieder getroffen und im Nachhinein wünschte ich mir oft, es wäre so geblieben. „Was machst du heute, Jim Rigby? Womit verdienst du dein Geld und wohin hat es dich verschlagen?“, unterbrach sie meine Gedanken an die Vergangenheit. Ihr fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich ihr erzählte, dass ich Lehrer an unserer Schule war, glaubte, ich machte Scherze und kriegte sich nicht wieder ein, als sie langsam begriff, dass ich die Wahrheit sagte. „Ich fasse es nicht! Du? Ein Lehrer? Hoffentlich machen dir die Kids genauso das

Leben zur Hölle, wie du es damals mit unseren Lehrern gemacht hast. Weißt du noch? Der alte Mr. Graham? Im Nachhinein wundere ich mich immer noch, dass er uns überlebt hat“, plauderte sie munter drauf los und verschwunden waren die undefinierbaren traurigen Gesichtszüge. Die Zeit verging wie im Flug. Es war ungekünstelt und lustig und lange hatte ich nicht mehr so viel gelacht. Immer mehr Dinge fielen uns ein, gemeinsam suchten wir die Namen unserer Mitschüler zusammen und stellten fest, dass wir beide zu fast niemand Kontakt hatten. Irgendwann hielt sie mir ihren Eisbecher hin, der genau bis zur Hälfte leer gelöffelt war und nahm mir wortlos meinen aus der Hand. Eine vertrauliche Geste, die mir

gefiel. Natürlich kam bald die Frage zum aktuellen Beziehungsstatus und ich bemerkte gar nicht, dass sie mich viele Sachen fragte und ich dadurch mit meinen Fragen nicht zum Zug kam. Wieder wunderte sie sich, dieses Mal, weil ich nicht längst unter der so genannten Haube war. „Es kann doch nicht sein, dass Jimmy, unser Schnuckelchen noch unberingt durch Beaverton läuft. Was ist denn da schief gegangen? Es wollten dich doch damals schon alle Mädchen haben.“ Ich wusste nicht, ob sie mich aus- oder anlachte, denn diese Tatsache war vor Jahren unbemerkt an mir vorübergezogen und noch einmal versuchte ich, mich in die Zeit von vor

neunzehn Jahren zurückzudenken. An wenige Mädchen von damals konnte ich mich wirklich erinnern, aber schließlich waren wir zu der Zeit ja noch Kinder. Erst später wurden sie für mich interessant, nie jedoch so interessant, dass ich für eine von ihnen mein glückliches Junggesellendasein aufgegeben hätte. „Tja, die Richtige ist mir eben noch nicht über den Weg gelaufen, kann man nichts machen. Ungenutztes Potential also“, klopfte ich mir laut lachen auf die Brust und fragte nun doch direkt nach ihrem Leben. „Und wie ist es dir ergangen? Nach damals? Mann, viele Kinder, ein glückliches Leben, Kohle ohne Ende?“ Wow! Im geschickten Ausweichen war sie Meisterin. Alles was sie preisgab, war die

Tatsache, dass sie in der Stadt, also in Portland wohnte. Dabei legten sich wieder diese traurigen, beherrschten Züge auf ihr Gesicht, die mir inzwischen schon bekannt waren und ich fragte mich, was der Auslöser dafür war. Sie machte mich neugierig, soviel wusste ich schon nach einer halben Stunde. „Portland also? Und als Stadtmensch fährt Frau am Samstagmittag nach Beaverton zum Einkaufen?“ Nun lächelte sie wieder und ich gewöhnte mich langsam an die Stimmungschwankungen oder zumindest an die offensichtlichen, sichtbaren Veränderungen in ihrem Gesicht. Wenigstens bekam ich auf diese Frage eine ausführliche Antwort.

„Quatsch! Natürlich nicht. Weißt du noch, wo ich hier damals gewohnt habe?“ Kurz hielt sie inne, ließ mich nachdenken und tatsächlich fiel mir das alte Haus ihrer Eltern wieder ein, das am Ende einer Sackgasse am Ortsrand stand. Als ich langsam nickte, fuhr sie fort. „Mein Daddy wohnt dort immer noch. Nachdem Mom vor drei Jahren gestorben ist, hatte ich eigentlich vor, ihn mit zu uns nehmen, aber er wollte nicht aus seinem Haus ausziehen. Es ist ja sein Elternhaus und er hat sich immer gewünscht, dass ich dort später auch mal mein Glück erlebe, dass irgendwann wieder Kinderlachen durch die Zimmer schallt. Nun ist es auf meinen Namen überschrieben und Dad möchte da bis zum Lebensende wohnen bleiben. Es ist schwierig,

denn er kommt nicht mehr gut zurecht, braucht Hilfe bei den einfachsten Erledigungen und aus dem Haus kommt er überhaupt nicht mehr. Aber ich kann ihm doch nicht seinen letzten Wunsch abschlagen, zumal er schon so unendlich traurig ist, weil Mom vor ihm gegangen ist. Nun fahre ich also drei oder viermal die Woche hier raus, kaufe ein, erledige seinen Haushalt, koche für die anderen Tage vor, wasche … na das ganze Zeug eben, was so nötig ist.“ Das waren viele Informationen, wenn auch die einzig persönliche war, dass es ein uns gab. Ich wurde immer neugieriger, zumal ich auch immer mehr das Gefühl bekam, dass sie mir bewusst etwas verschwieg. Was gab es

Spannendes in ihrem Leben oder was war es wert, verschwiegen zu werden? Unauffällig lehnte ich mich vor, um auf ihre Hände zu schielen und tatsächlich entdeckte ich einen Ehering an ihrer rechten Hand. Ich stand dazu, immer ein wissbegieriger Mensch zu sein und ihr geschicktes Ausweichen ließ es nicht besser werden. Also versuchte ich es noch ein letztes Mal und schwor mir, nicht noch ein weiteres Mal nachzufragen, wenn sie wieder nichts erzählen würde. „Für deinen Mann ist es doch sicher einfacher so, oder? Wer möchte schon den Schwiegervater unter seinem Dach haben?“, fragte ich lachend und bereute meine Neugier sofort, als sich wieder diese Traurigkeit über

ihr Gesicht legte. Die Bank auf der wir saßen, stand am Rande des kleinen Parks und der Schatten, den die Bäume spendeten genügte nicht, die Hitze des Junis zu dämpfen. Die Reste vom Eis in den Bechern war geschmolzen und ein leichter Schweißfilm hatte sich auf meine Haut gelegt. Amelie dagegen wirkte blass und nach meiner direkten Frage wurde sie noch etwas farbloser. Sofort versuchte ich zurückzurudern. „Sorry! Es geht mich natürlich nichts an. Keine Frage mehr von mir!“ Lächelnd versuchte ich gutzumachen, was offensichtlich nicht gutzumachen war. „Ach Jim, was willst du denn hören?“, schnaubte sie und sah mir direkt in die Augen.

In ihren waren viele Gefühle zu erkennen, aber ich kannte sie nicht gut genug, um zu sehen, ob es Kummer, Resignation, Wut, Enttäuschung oder eine Mischung aus allem war. Auf jeden Fall vermisste ich Glückseligkeit, die meiner Meinung nach dazu gehörte, wenn man von seinem Partner sprach. „Ich bin verheiratet aber das hast du ja schon selbst entdeckt“, sagte sie leise und fuchtelte dabei mit ihrer rechten Hand vor meinem Gesicht herum. „Mein Mann Josef ist ein führender Manager in einer der großen Firmen Portlands, geheiratet haben wir vor sechs Jahren, wir wohnen in einer wunderschönen Villa im Grünen, haben zwei teure Autos, von denen du vorhin eins verbeult

hast, haben keine Kinder und ich muss nicht arbeiten, weil das Geld, welches Josef nach Hause bringt, für zehn reichen würde. Noch Fragen?“ Mir blieb nur, langsam den Kopf zu schütteln, denn die kalte, knisternde Stimmung, die in der Antwort mitschwang, forderte nicht auf, weitere zu stellen. „Ach so, ich vergaß“, holte sie tief Luft und atmete schwer aus, „Josef ist sehr fürsorglich und ein liebenswerter Ehemann.“ Mit dem letzten Satz verschloss sich ihr Gesicht vollends und wenn ich auch kein einziges Wort glaubte, wagte ich es nicht, eine Bemerkung dazu abzugeben. Es war ihr Leben und unsere Wege würden sich in spätestens zehn Minuten, wahrscheinlich für immer wieder trennen. Warum in einem

Wespenset bohren, welches nicht zu meiner Baustelle gehörte? Trotzdem empfand ich so etwas, wie Mitleid, obwohl ich gar nicht wusste, ob es einen Grund dafür gab. Die unbeschwerte Stimmung vom Anfang unserer Plauderei war so oder so hinüber und als sie wiederholt auf ihre Uhr schaute, wusste ich, dass es Zeit war zu gehen. „Na dann Amelie, es hat mich gefreut, wenn auch unser Zusammentreffen etwas blechern war. Meine Versicherung wird das regeln“, versprach ich und gab ihr das Kärtchen mit den Daten. Warum auch immer, hatte ich beschlossen, für die Beulen gerade zu stehen. „Danke.“ Mehr sagte sie nicht aber es genügte mir. Auch ich bekam das Kärtchen von ihr, schaute kurz darauf um verwundert

festzustellen, dass sie immer noch Baker hieß. „Ok, Amelie Baker.“ Ich reichte ihr meine Hand und fühlte ihre, die trotz der Hitze kühl war. „Jimmy! Schön, dass wir uns getroffen haben. Viel Glück und danke noch mal. Die Versicherung, du weißt und auch für das Eis!“ Erst jetzt bemerkten wir, dass wir die wenigen Meter zum Parkplatz noch gemeinsam zurücklegen mussten, lachten und gingen wortlos nebeneinander zu unseren Autos. Sie war schon eingestiegen, als ich mir noch den Schaden an meinem Fahrzeug genauer betrachtete. Ich habe keinen Schimmer, was mich zu der folgenden Frage bewegte - war es ein Wunsch, war es Instinkt oder einfach nur die Neugier auf ihre Reaktion. Ich hatte

keine Ahnung, aber ich wollte es wissen. „Amelie, können wir uns noch einmal treffen?“ © Fliegengitter

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Meistens bin ich ruhig.
Im wahren Leben habe ich einen Mann, zwei Töchter, eine Hand voll Enkelkinder, zwei Katzen und alle zusammen leben wir im Süden Deutschlands.
Wenn ich nicht schreibe, fotografiere ich, denn Fotos sind für mich auch kleine Geschichten - wenn man sie lesen kann.
Ansonsten bin ich optimistisch, (fast) immer gut drauf und stehe mit beiden Beinen fest im Leben.
Ergänzung:
Das wahre Leben gibt es nicht mehr. Ich musste meinen Mann, meine große Liebe, ziehen lassen. Seit dem steht die Welt still.

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Herbsttag Du weißt ja, wie sehr ich Deine Geschichten mag. Erwarte nun mit Spannung die Fortsetzung. Liebe Grüße Ira
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Memory 
Das freut mich richtig, liebe Ira.
Danke für deinen Kommi und die Talerchen.
Lieben Gruß Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
Herbsttag Danke für die Talerchen. Ira
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList ... und gleich weitergelesen. Ein nicht alltägliches Wiedersehen, doch besser Blech- als Hirnschaden. Irgenwie mag ich Jimmy ... und Amelie? Man wird sehen!
Taschengeld ist gesperrt, liebe Sabine ... es gibt ***taler.
LG
Kara
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Memory 
Sterntaler sind immer toll.
Und Jimmy auch...
Danke auch hier, liebe Kara.
LG Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
EllaWolke Ui,
da bin ich nun gespannt, unter welchen Umständen die zwei sich wieder begegnen.

Ich saß neben ihnen, mir läuft noch das Wasser im Mund zusammen :-)
Liebe Grüße aus dem Rapunzelturm
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Memory 
Dann lass dich mal überraschen.
Danke dir fürs Lesen und den Favo und schicke dir windige Wolkengrüße in den Norden
Alles Liebe
Sabine
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